Schweizer Revue 5/2024

den Kopf gehen zu lassen. Durch die enge, tiefeingeschnittene Pichoux-Schlucht, in der die schmale, verwitterte Strasse nur knapp Platz hat, weht einem heisse Luft entgegen. Sie steigt auf aus der dichter besiedelten, gezähmten Ebene zwischen Bassecourt und Delsberg, wo der Jura einen anderen Ausdruck zeigt. Den Ausdruck einer Gegend, die sich nicht salopp um Konventionen foutiert, sondern um den wirtschaftlichen Anschluss ringt. Man erblickt die Kunstbauten der Transjurane, der 85 Kilometer langen Autobahn quer durch den Jura, die von Biel bis nach Boncourt an der französischen Grenze führt. 6,6 Milliarden Franken kostete die Schnellstrasse wegen der komplizierten Geologie und unzähliger Brücken und Tunnel, die von der Tessiner Architektin Flora Ruchat-Roncati auch ästhetisch auf höchstes Niveau getrimmt wurden. Der Bau der Transjurane wurde kurz nach der Jura-Gründung in Angriff genommen, fertiggestellt wurde sie 2017. Sie kann als Engagement der Eidgenossenschaft verstanden werden, die benachteiligte Grenzregion mit den pulsierenden Wirtschaftszentren des Mittellands zu verbinden. Ob die Transjurane wie geplant wirkt, lässt sich in Zahlen kaum nachweisen. Während die Bevölkerung der Schweiz stark wächst, stagniert sie im Kanton Jura praktisch. Die jurassische Wirtschaftskraft ist unterdurchschnittlich, die Arbeitslosigkeit liegt über dem schweizerischen Mittel, finanziell hängt der Kanton in den Seilen. Die Frage stellt sich, ob die bessere Verbindung mit der Autobahn die Abwanderung nicht mindestens so sehr erleichtert wie die Zuwanderung. Der jurassische Historiker Clément Crevoisier würde das wohl bejahen. Seit Jahrzehnten befasst er sich in seinen Publikationen intensiv und kritisch mit seinem Kanton. Die sprachliche und geografische Isolation hält er für ein grosses Problem. Nicht einmal zur Romandie fühlten sich die Jurassier zugehörig. Wer etwa studiere, müsse wegziehen – und kehre oft nicht mehr zurück. Aus der Sicht von Crevoisier hat aber auch der jahrzehntelange Fokus auf den Jurakonflikt eine mentale Verhärtung begünstigt, die der Entfaltung des jurassischen Potenzials entgegenwirkt. «Durch die ideologische Schwarzweissbrille betrachtet werden die multikulturellen Wurzeln des Jura leider verkannt», hält er fest. Die gebremsten Unruhestifter Auch der frühere jurassische Regierungsrat Jean-François Roth ist besorgt über den Stillstand in seinem Kanton. «Der Jura ist ziemlich ruhig geworden. Ich bin mir nicht sicher, ob er heute noch die Idee verkörpert, die man bei seiner Gründung gehabt hat», kommentierte er zum 50-Jahr-Jubiläum des historischen Jura-Plebiszits. Ist der jurassische Aufbruchsgeist ein verkümmerter Mythos, weggeblasen im Gegenwind des Zwangs zum Wirtschaftswachstum? Das Velo steht jetzt in der kleinen, uninspiriert gestalteten Fussgängerzone beim Bahnhof Delsberg. Hier im Kantonshauptort arbeitet der Schriftsteller Camille Rebetez, bis vor kurzem engagierte er sich als Kunstmediator im ambitionierten «Théâtre du Jura». Die Eltern von Rebetez waren Mitgründer des Café du Soleil in Saignelégier. Er selber schrieb die Texte für die Comic-­ Serie «Les indociles», die 2023 für das Schweizer Fernsehen als Serie mit dem Titel «Die Unruhestifter» verfilmt wurde. Camille Rebetez begleitet in seinem Comic drei junge Freunde durchs Leben, die ab den 70er-Jahren in den jurassischen Freibergen ihre Utopie eines freien, gleichberechtigten Lebens verfolgen. Sie müssen schmerzhafte Kollisionen mit der Realität und den menschlichen Schwächen in Kauf nehmen. «Sie sind die Schwachen gegenüber dem dominanten Wirtschaftsliberalismus», sagte Rebetez, als der letzte Comic-Band erschienen war, gegenüber den Medien über seine Figuren: «Sie müssen lernen, wie man verliert und trotzdem die Hoffnung bewahrt. Sie retten zwar nicht die Welt, aber sie kämpfen, damit die Möglichkeit dafür erhalten bleibt.» 50 Jahre, nachdem seine Gründung beschlossen worden ist, gilt diese realistische Kurzformel auch für den Kanton Jura. Brenzlige Stimmung im November 1969: Junge jurassische Separatisten verbrennen vor dem Bundeshaus Hunderte Exemplare des roten und umstrittenen Zivilverteidigungsbuches. Foto Keystone Die «Béliers» wollten 1971 den Eingang zum Berner Rathaus zumauern, doch die Polizei vereitelte den Plan unzimperlich. Foto Keystone Schweizer Revue / Oktober 2024 / Nr.5 7

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