Schweizer Revue 6/2024

DEZEMBER 2024 Die Zeitschrift für Auslandschweizer:innen Grosse Kühltürme und erhitzte Gemüter: Die neue Atomdebatte spaltet die Schweiz Inseln aus Schutt verwandeln das bedrohte Delta der Reuss wieder in ein Idyll für Pflanzen, Tiere – und Menschen Wer ins All will oder vom Job in der Antarktis träumt, kann im Gotthardmassiv die ersten Schritte dorthin tun

© pexels.com Konsularische Dienstleistungen überall, komfortabel auf Ihren mobilen Geräten www.eda.admin.ch Kuala Lumpur (2023) Für eine nach- haltige Zukunft der Fünften Schweiz Mit einem Legat ermöglichen Sie, dass die Auslandschweizer- Organisation die Rechte der Auslandschweizer:innen weiter- hin unterstützt und vertritt. www.swisscommunity.link/legate Lesen statt warten. Ist die gedruckte «Schweizer Revue» wieder einmal überfällig? Holen Sie sich das Heft auf Ihr Tablet oder Smartphone. Die App dazu ist gratis und werbefrei. Sie finden die App mit dem Suchbegriff «Swiss Review» in Ihrem Appstore. SCHWEIZER REVUE  DEZEMBER 2024 Die Zeitschrift für Auslandschweizer:innen Grosse Kühltürme und erhitzte Gemüter: Die neue Atomdebatte spaltet die Schweiz Inseln aus Schutt verwandeln das bedrohte Delta der Reuss wieder in ein Idyll für Pflanzen, Tiere – und Menschen Wer ins All will oder vom Job in der Antarktis träumt, kann im Gotthardmassiv die ersten Schritte dorthin tun Illustration : Sandra Liscio 2025 Zusammen auf der ganzen Welt! Entdecken Sie unsere Neujahrskarte und abonnieren Sie unseren Newsletter, um am Puls der Fünften Schweiz zu bleiben! QR-Code scannen und animierte Grüsse sehen Unsere Partner:

Wer in der Schweiz lebt und gerne über dieses und jenes nörgelt, verteidigt in den Ferien im Ausland trotzdem oft alles, was die Schweiz ausmacht. Schweizerinnen und Schweizer, die im Ausland leben, kennen dieses Muster wohl auch. Doch wer per Definition zwei Heimaten hat – eine, in der man lebt, und eine weitere, mit der man stets verbunden bleibt, – erlebt das eher als bereichernde Ergänzung und nicht als ständige Konkurrenz. Dieser Gedanke hat sich hier eingeschlichen, weil die aktuelle «Revue» für einmal nicht wie üblich in Bern redigiert wurde, sondern in weiter Ferne, im stürmischen Frühling auf der südlichen Hälfte des Globus. Quasi ein Auslandschweizerdasein auf Zeit. Es brachte unter anderem eines mit sich: etliche Gespräche über das Selbstverständnis der Schweiz. Etwa: Was überhaupt ist «direkte Demokratie»? Die behutsam formulierte Antwort: Das ist, wenn das Volk nicht nur sein Parlament wählt, sondern alle paar Monate auch über konkrete Sachfragen entscheidet. Jede Volksabstimmung ruft so dem Parlament und der Regierung in Erinnerung, was der Souverän denkt, will, fürchtet, hofft. Die Gesprächsrunde geriet bei diesem Bild schier ins Schwärmen ... ... bis sie zum Thema Atomenergie wechselte. Genau, in der Schweiz entschied vor sieben Jahren das Volk, dass keine neuen Atommeiler gebaut werden – und trotzdem will Energieminister Albert Rösti nun neuen AKWs den Weg ebnen. Die neue Atomdebatte elektrisiert die Nation. Aus Sicht der Versorgungssicherheit der Schweiz mag der radikale Richtungswechsel – ohne ihn gutzuheissen – halbwegs nachvollziehbar sein. Aus demokratiepolitischer Sicht wirkt die Umschiffung des Volkswillens aber kühn; zumindest für in der Ferne Weilende, die zu erklären versuchen, worin das Bezaubernde der «direkten Demokratie» liegt. Nach der Schrecksekunde die Entwarnung. Egal, wie forsch Regierung und Parlament neue AKWs anpeilen: Entschieden wird über den atomaren Richtungswechsel am Schluss vom Volk – an der Urne. Vielleicht führen bis dann auch weitere Kantone E-Voting ein, damit möglichst viele Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer sich an diesem wichtigen Grundsatzentscheid werden beteiligen können. Die Einführung ins Thema liefern wir schon heute. Der Schwerpunkt des aktuellen Hefts widmet sich ganz der in der Schweiz seit über einem halben Jahrhundert leidenschaftlich geführten Atomdebatte. MARC LETTAU, CHEFREDAKTOR 4 Schwerpunkt Eine neue Atomenergie-Debatte elektrisiert die Schweiz 10 Porträt Martina Schmid kommuniziert mit Kühen – und denen tut das gut 12 Natur und Umwelt Aus Schutt gebaute Inseln machen das Delta der Reuss zum Naturidyll 14 Kultur Ist Erben Segen oder Fluch? Ein neuer Schweizer Film sucht nach Antworten 18 Reportage Wer ins Weltall fliegen will, kann die Strapazen im Gotthardmassiv üben 22 Gesellschaft Streitbare Sterbehelfer zwingen der Schweiz eine Grundsatzdebatte auf Die Schweiz im Reisefieber: Es wird geflogen wie zu Vor-Corona-Zeiten 26 Politik Schweizer IT-Nerds warnen vor einer alles umfassenden Digitalisierung Bäuerlicher Widerstand brachte die Naturschutz-Initiative zu Fall 30 Literaturserie Gertrud Pfander starb bereits mit 24 und hinterliess erschütternde Gedichte 32 Aus dem Bundeshaus Der Auslandschweizerplatz als Ankerplatz der Fünften Schweiz 35 SwissCommunity-News Direkte Demokratie Titelbild: Kühlturm des Atomkraftwerks Leibstadt (AG). Foto Keystone Herausgeberin der «Schweizer Revue», des Informationsmagazins für die Fünfte Schweiz, ist die Auslandschweizer-Organisation. Foto seeschuettung.ch Schweizer Revue / Dezember 2024 / Nr.6 3 Editorial Inhalt

4 Schwerpunkt CHRISTOF FORSTER Vor sieben Jahren hat die Bevölkerung einer Schweiz ohne Atomstrom zugestimmt. Bis 2050 sollten die letzten Atomkraftwerke vom Netz sein und das Land sich nur noch mit erneuerbaren Energien und Importen versorgen. Doch davon will der Bundesrat jetzt nichts mehr wissen. Ende August hat er entschieden, den Bau von neuen AKWs wieder zuzulassen. Dazu muss das Bauverbot aus dem Gesetz entfernt werden. Albert Rösti elektrisiert die Atomdebatte Vor sieben Jahren hat das Schweizer Stimmvolk den Ausstieg aus der Atomenergie beschlossen. Nun ebnet der Bundesrat dem Wiedereinstieg den Weg: Er will den Bau neuer Kernkraftwerke wieder zulassen. Damit macht er eine 180-Grad-Wende in der Energiepolitik. Damit erhält die Energiedebatte in der Schweiz einen gewaltigen Stromstoss. Der beigelegt geglaubte Streit über Pro und Kontra von AKWs ist neu lanciert. Energieminister Albert Rösti spricht von einem «Paradigmenwechsel». Bis jetzt waren Politik und Wirtschaft darauf ausgerichtet, wegzukommen vom Atomstrom. Jetzt wird alles neu aufgemischt. Polarisiert hat die Atomkraft seit jeher. Mit der Nuklearkatastrophe von Fukushima 2011 lag das Momentum bei den AKW-Gegnern. In europäischen Städten gingen Hunderttausende auf die Strassen, um gegen die Atomkraft zu protestieren. In der Schweiz legte Energieministerin Doris Leuthard, die als atomfreundlich galt, drei Tage nach dem Seebeben die Gesuche für den Bau neuer Reaktoren auf Eis. Im gleichen Jahr noch beschloss der Bundesrat, langfristig aus der Atomenergie auszusteigen. Die bestehenden AKWs sollen weiterlaufen, solange die Aufsichtsbehörde sie als sicher einstuft. Schweizer Revue / Dezember 2024 / Nr.6

Bundesrätin Doris Leuthard wurde nach der Havarie von Fukushima zur Wegbereiterin des Ausstiegs. Am 25. Mai 2011 erklärte sie, die Schweiz wolle die bestehenden Atomkraftwerke am Ende ihrer Betriebsdauer nicht ersetzen. mit dem Bevölkerungswachstum die Nachfrage nach Strom zu. Gleichzeitig ist Strom nicht einfach mehr im Überfluss vorhanden. Das hat die durch den russischen Überfall auf die Ukraine ausgelöste Energiekrise eindrücklich aufgezeigt. Dass der Strom im Winter in der Schweiz knapp werden könnte, wurde zu einem realistischen Szenario. Die Behörden entwickelten Krisenpläne. Plötzlich machte eine bisher selten gehörte Wortkonstruktion die Runde: Strommangellage. Die damalige Energieministerin Simonetta Sommaruga rief zu sparsamem Kochen und zum gemeinsamen Duschen auf. Dank dem Zusammenspiel mehrerer günstiger Umstände mussten die Krisenpläne im Winter 22/23 nicht umgesetzt werden. Die einstmals geplanten Gaskraftwerke, die den fehlenden Strom liefern würden, fallen aufgrund des Netto-nullZieles weg. Sie sind nur als Reserve für einen Notfall vorgesehen. Das heisst, um eine Strommangellage über mehrere Wochen zu überbrücken. Auf Importe im grossen Stil zu setzen, wäre zu risikoreich. Die potenziellen Stromlieferanten rund um die Schweiz kämpfen mit den gleichen Problemen, um ihren Strombedarf künftig zu decken. Deshalb machen andere Länder ähnliche Überlegungen wie die Schweiz. Mehrere europäische Staaten haben ihre Ausstiegspläne verschoben oder gleich ganz aufgegeben, darunter Bel5 will. Dahinter stehen primär Vertreter von SVP und FDP und der Energie-Club Schweiz. Es ist gut möglich, dass die Initiative zurückgezogen wird, falls das Parlament den Gegenvorschlag des Bundesrats unterstützt. Für die Atomkraft-Befürworter hätte dies den Vorteil, dass in einer Abstimmung nur die Mehrheit des Stimmvolks und nicht auch noch der Kantone notwendig ist. Die Linke wirft SVP-Bundesrat Rösti vor, den Volkswillen zu missachten. Ausgerechnet ein Vertreter jener Partei, die Entscheide des Souveräns über alles stellt. Laut dem SP-Nationalrat Roger Nordmann läuft der Beschluss der Regierung dem Volkswillen punkto Energie- und Klimapolitik komplett zuwider. In mehreren Abstimmungen habe das Stimmvolk deutlich gemacht, dass sie einen schrittweisen Atomausstieg und eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien wolle. Versorgungssicherheit im Mittelpunkt Während beim Atomausstieg das Risiko von Nuklearkatastrophen ein wichtiger Treiber war, dreht sich jetzt die Diskussion um die Versorgungssicherheit. Der Strombedarf werde steigen mit der Dekarbonisierung, argumentieren die Befürworter. Verkehr und Heizen müssen elektrifiziert werden, um das Klimaziel netto null bis 2050 zu erreichen. Zudem nimmt Bisher galt: Schweizer Atommeiler, im Bild jene von Beznau I und Beznau II, werden nach ihrer Stilllegung nicht ersetzt. Nun möchte der Bundesrat die Ampel aber wieder auf Grün stellen. Foto Keystone Energieminister Albert Rösti an einer Medienkonferenz im August 2024, an der er den neuen, bundesrätlichen Richtungsentscheid in Sachen Atomenergie bekanntgab. Fotos Keystone Aber sie sollen nicht mehr ersetzt werden. Frei von Widersprüchen war dieser Entscheid nicht. Falls man nach «Fukushima» zu einer anderen Beurteilung der Sicherheit der Reaktoren gekommen ist, hätte man die Schweizer Werke viel schneller abstellen müssen. So wie es beispielsweise Deutschland getan hat. Die Schweiz hat einen pragmatischen Weg gewählt. Er war auch der damaligen Stimmung in der Bevölkerung geschuldet. In den Jahren nach «Fukushima» wären neue AKWs kaum mehrheitsfähig gewesen. Taktisch geschickter Energieminister War damals Leuthard die treibende Kraft für den Ausstieg, zieht heute Rösti den Karren wieder in die andere Richtung. Rösti war schon immer ein Anhänger der Atomkraft. Mit der Übernahme des Energiedepartements nach seiner Wahl in den Bundesrat gelangte er an die wichtigen Schalthebel. Doch er verhielt sich vorerst – taktisch äusserst geschickt – ruhig. Rösti sprach den Erneuerbaren das Wort und warnte davor, eine Debatte über den Bau von AKWs zu lancieren. Diese Diskussion sei müssig – wenn nicht sogar kontraproduktiv, sagte er im September 2023 der «Neuen Zürcher Zeitung». Eine Grundsatzdiskussion über neue AKWs würden die Bemühungen um den Ausbau der Erneuerbaren in gefährlicher Weise torpedieren. Das war gestern, respektive vor der Volksabstimmung über das revidierte Stromgesetz, das den starken Ausbau der erneuerbaren Energien vorsieht. Diese Vorlage wollte er mit einer Atomdebatte nicht gefährden. Röstis Taktik ging auf, das Stimmvolk sagte deutlich Ja zum Gesetz – gegen den Widerstand von Röstis eigener Partei, der SVP. Formell kommt der Entscheid des Bundesrats als Gegenvorschlag zur Volksinitiative «Blackout stoppen» daher, die das AKW-Bauverbot aufheben Schweizer Revue / Dezember 2024 / Nr.6

Das zerstörte Gebäude des havarierten Reaktorblocks Nr. 3 des AKW Fukushima (2011): Dass es selbst in Hochtechnologienationen wie Japan keine absolute Nuklearsicherheit geben kann, beeinflusste die Stimmung in der Schweiz stark. Foto Keystone Spannung im Umgang der Atomenergie: Einerseits ist der Ausstieg eine vom Volk beschlossene Sache, anderseits betreibt die Schweiz mit Beznau I das weltweit älteste AKW. Im Bild: Reaktoroperateure während Revisionsarbeiten im Mai 2024. Foto Keystone gien und mehrere osteuropäische Länder. Grossbritannien und die Slowakei schaffen neue Kapazitäten. Die neue niederländische Regierung möchte gleich vier neue Kernkraftwerke bauen. Und in Frankreich bleibt die Atomkraft das Rückgrat der Stromversorgung. Abhängigkeit von Russland Allerdings gibt es auch hier Widersprüche in der Debatte. Mit zusätzlichen AKWs würde zwar die Abhängigkeit von Strom aus mit Kohle oder Gas betriebenen Kraftwerken abnehmen. Das dazu verwendete Gas stammt noch immer teilweise aus Russland. Allerdings kommt auch ein Teil des für die AKWs benötigten Urans aus Russland. Laut einer Aufstellung der Energiestiftung (SES), die sich gegen Atomkraft einsetzt, stammen 45 Prozent des Atomstroms und 15 Prozent des gesamten Schweizer Stroms aus russischem Uran. Mindestens 7,5 Prozent laufen laut SES über den russischen Staatskonzern Rosatom. In der EU gibt es Bestrebungen, hier Gegensteuer zu geben. Kurzfristig hat indes die Abhängigkeit zugenommen. Die Importe von russischem Uran in die EU-Staaten sind nach dem Beginn des Ukraine-Krieges stark angestiegen. Neben der Klimapolitik und der geopolitischen Lage in Europa spielt den Atomkraft-Anhängern noch ein weiterer Umstand in die Hände: Die Schweiz hat mit Stadel im Kanton Zürich endlich einen Standort gefunden, wo der Atommüll während Jahrtausenden verwahrt werden soll. Das Endlager ist zwar noch nicht in trockenen Tüchern. Widerstand in der betroffenen Region ist jedoch viel schwieriger als früher. Die Gemeinde und der Standortkanton haben kaum noch Möglichkeiten, gegen den gefällten Standortentscheid vorzugehen. Noch in diesem Jahr wird die Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle (Nagra) beim Bund ein Baugesuch einreichen. Indes gab es hier jüngst einen Dämpfer. Das geplante Tiefenlager ist nur für den Abfall der bestehenden Kraftwerke konzipiert, wie die Nagra in einem neuen Bericht festhält. Neue Kernkraftwerke seien in den Reserven nicht eingerechnet. Für die Atomkraftgegner zeigt dies die Absurdität der Diskussion: Es bräuchte für neue AKWs ein zweites Endlager für den radioaktiven Abfall. Dabei sei noch nicht einmal das erste bewilligt. Für die Befürworter hingegen könnte am geplanten Standort das Tiefenlager einfach viel grösser gebaut werden. Pläne für einen abfallarmen Reaktor In die Hände des Pro-AKW-Lagers spielen die Pläne der Genfer Firma Transmutex. Diese entwickelt ein Atomkraftwerk, das ohne Uran läuft und sogar den Müll der bestehenden Reaktoren stark reduzieren soll. Dieser Vorgang nennt sich Transmutation. Anstelle von Uran würde in einem solchen Meiler Thorium als Brennstoff verwendet. Das Volumen der langlebigen, hochradioaktiven Abfälle liesse sich laut Experten um den Faktor 100 verkleinern. Bei der Transmutation entstehen hingegen mehr kurzlebige Spaltprodukte, die auch hoch radioaktiv sind und zumindest für einige Jahrhunderte in einem Endlager versorgt werden müssen. Ein Tiefenlager braucht die Schweiz also so oder so. Bei den Transmutex-Reaktoren wäre jedoch die Zeitspanne der Lagerung sehr viel kürzer. Noch existiert dieses System erst auf dem Papier. Experten aus der Nuklearforschung rechnen damit, dass ab 2035 gebaut werden kann. Noch viel länger ginge es, bis dereinst ein neues AKW in der Schweiz ans Netz ginge. Der Bundesrat hat im Grundsatz erst den Anfang vom Ausstieg aus dem Ausstieg beschlossen. Der Gegenvorschlag soll noch im laufenden Jahr in die Vernehmlassung Schweizer Revue / Dezember 2024 / Nr.6 6 Schwerpunkt

Von den Ostermärschen zum Atomausstieg Der Widerstand gegen die Atomenergie in der Schweiz hat eine lange Geschichte. Er begann Ende der 1950er-Jahre und kulminierte Jahrzehnte später im Entscheid der Stimmbevölkerung für die Energiewende. Zuerst galt der Protest von pazifistischkirchlichen Kreisen ausschliesslich der Forderung des Bundesrats, die Schweiz mit Atomwaffen auszustatten. Mit den jährlichen Ostermärschen kam es zu neuartigen Protestformen. 1969 dann war ein Schlüsseljahr mit der Inbetriebnahme des ersten AKWs in der Schweiz in Beznau (AG) und des schweren Unfalls im Versuchsreaktor Lucens (VD). Nun richtete sich die Opposition auch gegen die zivile Nutzung der Atomenergie, zunächst allerdings nur partiell. Kritisiert wurden die Flusswasserkühlung, die zu einer starken Erwärmung der Gewässer führe und – aus landschaftsschützerischen Motiven – der Bau von Kühltürmen. Widerstand formierte sich zunächst in der Region Basel gegen den Bau des AKWs Kaiseraugst. Nachdem es nicht gelungen war, den Reaktor auf dem Rechtsweg zu verhindern, kam es zu ersten Besetzungen des Baugeländes. An einer Grosskundgebung 1975 waren 15 000 Menschen auf dem Areal. Der auf die Strasse getragene Kampf leitete den Verzicht auf das AKW Kaiseraugst ein. In dieser Phase Mitte der 1970er-Jahre formierte sich auch der fundamentale Widerstand gegen Kernkraftwerke. Später kamen mehrere Antiatom-Initiativen vors Volk, die jeweils knapp scheiterten. Einen Erfolg konnten die Gegner 1990 im Nachgang des Reaktorunfalls von Tschernobyl feiern, als die Bevölkerung an der Urne einem zehnjährigen Moratorium für den Bau neuer Atomanlagen zustimmte. Diese Frist führte allerdings zu keinem Konsens in der Frage der Kernenergienutzung. Erst 2017 sagte eine Mehrheit von 58 Prozent des Stimmvolks Ja zum Atomausstieg und zur Energiewende. (CF) gehen. Ab Sommer 2025 könnte dann das Parlament darüber beraten. Auch wenn die Initiative zurückgezogen wird, hat wahrscheinlich das Stimmvolk das letzte Wort. Die Linke dürfte das Referendum gegen die Aufhebung des Bauverbots ergreifen. Ein Ja an der Urne würde erst die gesetzlichen Voraussetzungen für neue Reaktoren schaffen. Ein neues Projekt müsste die Verfahren zur Rahmenbewilligung sowie zur Bau- und Betriebsbewilligung durchlaufen. Jeder Bewilligungsschritt könnte bis zu vier Jahre in Anspruch nehmen. Insgesamt würde es rund 10 bis 12 Jahre Über Jahrzehnte waren Demonstrationen und Ostermärsche Bestandteil der anhaltenden und heftigen Pro-und-Kontra-Debatte zur Atomenergie. Im Bild: Kundgebung vor dem AKW Gösgen (SO) vom 25. Januar 1976. Foto Keystone dauern, bis der Bau tatsächlich beginnen könnte. Als grosse Hypothek auf dem nuklearen Neustart lastet die Finanzierung. Die grossen Schweizer Stromkonzerne betonen, dass Bau und Betrieb eines neuen AKWs unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht rentabel seien. Der Blick ins Ausland zeigt, dass neue Reaktoren kaum ohne staatliche Förderung realisiert werden können. In der Schweiz haben die Atombefürworter bereits einen Plan. Sie schielen auf die Fördertöpfe für erneuerbare Energien. Mit dem Argument, Bevölkerung und Wirtschaft, die jedes Jahr über eine Milliarde Franken einzahle, habe ein Recht auf eine sichere Stromversorgung. Mit den Fördertöpfen werden klimafreundliche Energien wie Wasser, Wind und Solar unterstützt. In diese Kategorie gehöre auch die Atomenergie, weshalb sie ebenfalls zu fördern sei, finden bürgerliche Energiepolitiker – sehr zum Missfallen der Linken, welche für diese Subventionen gekämpft hat. So wie der Ausstieg aus der Kernenergie ein langer und hindernisreicher Weg war, wird auch der Bau neuer AKWs, sollte es denn jemals so weit kommen, kein Spaziergang. Schweizer Revue / Dezember 2024 / Nr.6 7

Schweizer Sanktionsentscheid löst Kritik aus Seit Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine übernimmt die Schweiz weitestgehend die von der Europäischen Union (EU) beschlossenen Sanktionen gegen Russland. So soll auch vermieden werden, dass die Schweiz zur Drehscheibe von Umgehungsgeschäften wird. Im Oktober wich der Bundesrat erstmals klar von diesem Kurs ab: Die von der EU erlassenen Sanktionen gegen nationale Rohstofffirmen, die über Zweigniederlassungen im Ausland Umgehungsgeschäfte abwickeln, will er nicht übernehmen. Mit diesem Ausscheren handelte sich die Schweiz harsche internationale Kritik ein. Unter anderem zeigte sich US-Botschafter Scott Miller öffentlich «sehr enttäuscht». Das wiederum zeigt, dass eine eigenständige Sanktionspolitik ihre Kehrseiten hat: Die die Schweiz droht sich damit eigene Nachteile einzuhandeln. (MUL) Marianne Jenni folgt auf David Grichting Geht es um die Anliegen der Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer sowie um die weltweiten konsularischen Dienstleistungen der Schweiz, ist innerhalb der schweizerischen Bundesverwaltung die Konsularische Direktion (KD) zuständig. An deren Spitze kommt es auf den 1. Januar 2025 hin zu einem personellen Wechsel: Der Bundesrat hat Marianne Jenni zur neuen Direktorin der KD ernannt. Jenni ist derzeit noch Botschafterin in Ecuador. Zuvor war sie unter anderem in Paris, Lagos, Rom, London, Bagdad und Kapstadt tätig. Jenni folgt auf David Grichting, welcher der KD seit April 2023 vorstand, nun aber nach anderthalb Jahren eine neue Aufgabe im Eidgenössischen Departement des Äussern (EDA) übernimmt. (MUL) Basel wird den Song Contest 2025 austragen Seit dem Sieg von Nemo am Eurovision Song Contest 2024 im schwedischen Malmö (siehe «Revue» 4/2024) stand fest: Der nächste Contest, den jeweils deutlich über 100 Millionen Menschen weltweit am Bildschirm verfolgen, wird in der Schweiz ausgetragen. Nun ist klar: Stattfinden wird der European Song Contest 2025 in Basel. Basel setzte sich gegen Genf durch. Für den musikalischen Grossanlass beworben hatten sich auch die Städte Bern und Zürich. In allen vier Städten regte sich auch politischer Widerstand gegen die Bewerbungen, zum einen, weil der Anlass zu «unmoralisch» sei, zum anderen wegen finanziellen Vorbehalten. Siehe auch: www.revue.link/escbasel (MUL) Ein Berg verändert seine Form Am 2849 Meter hohen Grossen Tschingelhorn im Grenzgebiet zwischen den Kantonen Glarus und Graubünden hat sich im Oktober ein spektakulärer Bergsturz ereignet. Rund 100000 m3 Gestein sind niedergegangen. Dabei hat sich die Form der Bergspitze deutlich verändert. Das ist unter anderem deshalb von Belang, weil die Tschingelhorn-Silhouette eine vielfotografierte ist: Dort dringt zweimal im Jahr der Lichtstrahl der aufgehenden Sonne durch das sogenannte Martinsloch am Fuss des Berges, ein Naturschauspiel, das jeweils viele Schaulustige anzieht. (MUL) Xherdan Shaqiri Er ist wie Odysseus, der von seiner langen Reise zurückkehrt. Xherdan Shaqiri, der nach seinem Einsatz den Fire FC (Chicago) nach Basel zurückgekehrt ist, schnürt seine Fussballschuhe wieder auf heimischem Boden. Auf den Fussballplätzen, die er schon als Kind bespielt hatte. Nun zieht er sich also wieder das FC-Basel-Trikot über. Das gleiche Trikot, das er 2001 im Alter von zehn Jahren zum ersten Mal angezogen hatte. Das Comeback erfolgte nach der Bekanntgabe seines Rücktritts aus der Nationalmannschaft im Juli 2024. «Er hat die Herzen der Schweizerinnen und Schweizer erobert, er hat uns mit der Magie seiner Dribblings und seiner Tore unvergessliche Bilder beschert», lobt ihn der Boss des Schweizer Fussballs, Dominique Blanc. Der im Kosovo kurz vor dem Zusammenbruch Jugoslawiens geborene Fussballer aus einfachen Verhältnissen bekam von seinen Fans zahlreiche Spitznamen verpasst: XS, der kleine Prinz, Shaq. Im Laufe der letzten Europameisterschaft hat sich der 33-Jährige bei den Schweizerinnen und Schweizern wieder ins Gedächtnis gekickt. Xherdan Shaqiri erzielte gegen Schottland ein Blitztor. Das 170 cm grosse Fussballtalent beendete sein letztes Turnier für die Nationalmannschaft mit einem Schuss ins Tor des englischen Goalies Jordan Pickford – während eines Elfmeterschiessens – in einem Spiel, das letztendlich aber doch verloren ging. In der Schweiz strömen die Fussballfans nun wieder zu jedem Spiel des FC Basel. So auch ans Spiel im September gegen die unterklassige Mannschaft von Stade Nyonnais, die dem grossen FC Basel lange Paroli bot. Dank XS wurde dieses Spiel des Schweizer Cups zu einem Ereignis von nationaler Bedeutung. Er war es, der in der 123. Minute die Entscheidung zugunsten des FC Basel doch noch herbeiführte! STÉPHANE HERZOG Schweizer Revue / Dezember 2024 / Nr.6 8 Herausgepickt Nachrichten

9 LISA STALDER Sie planen, demnächst die Schweiz zu besuchen? Und Sie sind noch auf der Suche nach einem passenden Geschenk für die Verwandten? Lassen Sie sich einen Tipp geben: Wenn Sie nicht ins Visier des Zolls geraten wollen, packen Sie den Topf mit dem Gold-Bambus oder die Samen der Vielblättrigen Lupine besser nicht ein. Es sind dies nämlich zwei von 30 Pflanzen, die seit dem 1. September 2024 in der Schweiz verboten sind. Dieses Verbot geht auf die sogenannte Freisetzungsverordnung zurück, die der Bundesrat im März angepasst hat und die den Umgang mit invasiven Neophyten, also ursprünglich gebietsfremden Pflanzen, regelt. Die Regierung setzt damit eine Forderung des Parlaments um. Aber warum ist dieser grüne Einfuhrstopp überhaupt nötig? Manche invasiven Pflanzenarten verbreiten sich unkontrolliert in der Natur und bedrohen dabei nicht nur die Artenvielfalt, sondern auch die Umwelt und die Gesundheit. Einige von ihnen breiten sich so rasant aus, dass sie einheimische Pflanzen verdrängen und sogar Schäden an Infrastrukturen verursachen können. Bislang war es dennoch erlaubt, viele dieser Pflanzen zu verkaufen, respektive einzuführen. Doch damit ist jetzt Schluss. Liebling in Schweizer Gärten Die neue Regelung betrifft 30 Pflanzenarten, von der dekorativen Zierpflanze wie dem Schmetterlingsstrauch bis hin zu schnell wuchernden Exoten wie dem Kudzu, einer Kletterpflanze aus Asien. Bei der Durchsicht der Liste sticht eine Pflanze ganz besonders ins Auge: der Kirschlorbeer, einer der Lieblinge in den Schweizer Gärten. Dieser bietet alles, was sich Hausbesitzerinnen und -besitzer wünschen – unkompliziert, schnell wachsend, blickdicht und immergrün. Zudem machen ihm auch kalte Temperaturen nicht allzu fest zu schaffen. Die gute Nachricht für Hobby-Gärtnerinnen und -Gärtner: Wer einen Kirschlorbeer im Garten stehen hat, muss diesen trotz Verbot nicht entfernen lassen: Was bereits da ist, darf bleiben. Zudem gibt es auch in Zukunft Möglichkeiten, das Grundstück vor neugierigen Blicken abzuschirmen. Gärtnereien und Baumschulen empfehlen etwa den Portugiesischen Lorbeer oder die Glanzmispel. Und wenn die Hecken den Garten nicht vollumfänglich verstecken müssen, dann bieten sich auch zahlreiche einheimische Sträucher an. Zum Beispiel der Weissdorn, der Wollige Schneeball oder die Berberitze. Basler Fasnacht in Gefahr? Mit grosser Besorgnis wurde die Liste der verbotenen Pflanzen in Basel zur Kenntnis genommen. Denn da ist ein Pflänzchen aufgeführt, das zur heiligen Fasnacht gehört wie die «Schnitzelbängg»: die Acacia dealbata oder Falsche Mimose. Deren Verbot würde die «Waggis» vor ein grosses Problem stellen, verteilen sie die «Mimöseli» am Cortège doch massenhaft ans Publikum am Strassenrand. Doch Basel kann entspannen: Zwar ist es untersagt, Mimosen in Töpfen oder als Samen zu verkaufen, zu importieren oder auch zu verschenken. Sind die Blumen aber abgeschnitten und ohne Wurzeln, dürfen sie auch weiterhin in die Menge geworfen werden. Der Basler Fasnacht 2025 steht also nichts mehr im Wege. Der Kirschlorbeer darf nicht mehr einreisen Seit dem 1. September 2024 ist der Import von 30 invasiven Pflanzen in die Schweiz verboten – darunter auch hierzulande beliebte Arten wie Kirschlorbeer, Schmetterlingsstrauch oder die Falsche Mimose. Das Verbot dieser Neophyten soll die hiesige Natur und Artenvielfalt schützen helfen. Die Unerwünschten Unter das seit 1. September 2024 geltende Verbot fallen: Falsche Mimose, Bastardindigo, Verlotscher Beifuss, Neubelgische Aster, Grosser Algenfarn, Papiermaulbeerbaum, Schmetterlingsstrauch, Glattes Zackenschötchen, Seidiger Hornstrauch, Korallenstrauch, Stachelgurke/Igelgurke, Einjähriges Berufkraut, Geissraute, Gestreiftes Süssgras, Henrys Geissblatt, Japanisches Geissblatt, Vielblättrige Lupine, Wasserfenchel/Japanische Petersilie, Fünffingerige -/Gewöhnliche Jungfernrebe, Blauglockenbaum, Afrikanisches Lampenputzergras, Gold-Bambus, Kirschlorbeer, Herbst-Traubenkirsche, Japanischer Bambus, Armenische Brombeere, Rotborstige Himbeere, Breitblättriges Pfeilkraut, Kaukasus-Fettkraut, Ausläuferbildendes Fettkraut und Chinesische Hanfpalme/Fortunes Hanfpalme. Die gelben Mimosen werden die traditionelle Basler Fasnacht trotz Neophyten- verbot auch weiterhin prägen. Foto Keystone Schweizer Revue / Dezember 2024 / Nr.6 Nachrichten

JÜRG STEINER Immer, wenn Martina Schmid (31) über ihre Tätigkeit als Kuhsignaltrainerin redet, muss sie zuerst eines klarstellen: Ihr Fachgebiet habe rein gar nichts mit exotischem Hokuspokus, Vermenschlichung von Tieren oder weltfremder Romantisierung des Bauernlebens im Bergland Schweiz zu tun. Im Gegenteil. Klar, sagt Martina Schmid, sie beschäftige sich mit dem Wohlergehen von Kühen. Doch sie habe dabei immer die wirtschaftliche Situation eines Landwirtschaftsbetriebs vor Augen. Und ein Klischee wischt sie sofort beiseite: «Hochleistungskühen, die von Robotern gemolken werden, kann es sehr gut gehen.» Als Kuhsignaltrainerin ist Martina Schmid Expertin auf einem Fachgebiet, das vor 25 Jahren in den Niederlanden entwickelt wurde. Im Kern geht es darum, die Signale zu erkennen, die Kühe aussenden: Sind sie apathisch oder suchen sie den Kontakt? Stehen sie anstatt zu liegen, was sie eigentlich am liebsten tun würden? «Oft sind es kleine Anpassungen bei der Haltung, die viel Positives bewirken können», sagt Martina Schmid. Sie versteht sich nicht als Aktivistin für das Tierwohl und keinesfalls als «Kuhflüstererin». Sondern als Beraterin, die wissenschaftliches Know-how dafür einsetzt, die Haltung und Bedürfnisse der Kühe den Halterinnen und Haltern zu vermitteln. Persönlich steht sie mit beiden Füssen auf dem Boden der landwirtschaftlichen Realität: Sie hat – nach einer Ausbildung zur Pflegefachperson – eine Landwirtschaftslehre gemacht und danach ein Agronomiestudium abgeschlossen. Heute arbeitet sie parallel auf dem kantonalen Landwirtschaftsamt in Zug und auf dem elterlichen Landwirtschaftsbetrieb in Menzingen. Ihre Beratungen und Schulungen als Kuhsignaltrainerin hat sie zusätzlich als Selbstständige im Nebenerwerb aufgebaut. Die Mund-zu-Mund-Propaganda funktioniere, die Nachfrage von Landwirtinnen und Landwirten nach ihrer Dienstleistung nehme zu, sagt Schmid. Weil kaum andere Fachleute mit diesem Know-how unabhängig und ohne Produktewerbung unterwegs seien. Es gebe gute Fachkräfte, die jedoch oft zugleich das Interesse hätten, den Landwirten auch etwas zu verkaufen. Sie selber reise für Vorträge, Schulungen oder Hofberatungen aus der Zentralschweiz manchmal bis in die Romandie. Aber auch die Nachfrage nach Online-Beratungen aus dem Ausland nähme zu. Wie schnell erkennt Martina Schmid, wie es den Kühen geht, wenn sie auf einen Hof kommt? Bevor sie in den Stall gehe, nehme sie sich immer Zeit für ein ausführliches Gespräch mit den Bauern, die den Betrieb führen. Sie will «Kühe sind sehr menschenaffin» Die Agronomin Martina Schmid hat sich darauf spezialisiert, Kuhsignale zu interpretieren. Eine Kuhflüstererin ist sie nicht. Ihr Prinzip: Geht es den Kühen gut, profitieren auch die Bauern. Martina Schmid versteht sich bestens mit Kühen, will aber deswegen nicht zur «Kuhflüstererin» verklärt werden. Foto ZVG wissen, wo auf dem Hof der Schuh drückt. Die Landwirte in der Schweiz stehen unter hohem Effizienzdruck (siehe «Revue» 4/2024). Die Arbeitslast ist hoch, oft kämpfen sie mit Einkommensausfällen oder ausufernder Bürokratie, aber auch mit menschlichen Problemen, etwa bei Nachfolgeregelungen auf dem Hof. «Kühe sind sehr menschenaffin», sagt Martina Schmid. Sie reagieren darauf, ob die Menschen, die jeden Tag bei ihnen im Stall arbeiten, zuversichtlich oder von Sorgen belastet sind. Aber umgekehrt gelte das ebenso, sagt sie: «Geht es den Kühen gut, entlastet das auch die Landwirte.» Oft auch finanziell: Auf Kuhsignalen beruhende Beratung habe auch vorbeugende Wirkung, damit die Tiere nicht mit Antibiotika behandelt werden müssen, wenn sie krank werden. Kühe fühlten sich dann am wohlsten, wenn sie sich im Stall möglichst so verhalten können, wie sie es natürlicherweise auf einer Weide auch täten. Unabhängig davon, ob es sich um Lauf- oder Anbindeställe handelt, die in der Schweiz beide zugelassen sind. An diesem Grundprinzip orientiert sich die Kuhsignaltrainerin. «Sehe ich im Stall Kühe, die liegen und wiederkäuen, ist das schon einmal ein sehr gutes Signal», sagt Martina Schmid. Genau das sei deren hauptsächlicher Lebensinhalt, denn man könnte wohl sagen: Kühe lieben nichts so sehr wie ein ruhiges, gleichmässiges Leben ohne zu viel Abwechslung. 14 Stunden am Tag wollen sie laut Martina Schmid liegen, während sieben Stunden fressen sie. Zwei Schweizer Revue / Dezember 2024 / Nr.6 10 Porträt

Stunden gehen fürs Melken weg, bleibt noch etwas Zeit für Sozialkontakte. So sieht ein idealer Arbeitstag einer Kuh ungefähr aus. Im Umkehrschluss bedeutet das: Stehen Kühe auf, wenn man in den Stall kommt, oder verhalten sie sich unruhig, zeigen sie abgescheuertes Fell oder einen trockenen Nasenspiegel – dann «sind das alles Zeichen, dass etwas nicht stimmt», sagt Martina Schmid. Ihr Job sei es dann, Vorschläge zu machen, wie die Stallsituation zu Gunsten der Lebensqualität der Kühe verbessert werden könnte. «Trivial ist das nicht, auch wenn kleine Veränderungen viel bringen können», erzählt Schmid. Denn keineswegs wolle sie einem Bauern Verbesserungsmöglichkeiten für die Kühe vorschlagen, aber damit seine Arbeit komplizierter und zeitaufwändiger machen. Und so seinen Stress erhöhen, was sich wiederum negativ auf das Wohlbefinden der Kühe auswirken würde. Im Umgang mit ihren Kühen führen Bäuerinnen und Bauern einzelne Handgriffe millionenfach aus. Werden diese plötzlich nur minim umständlicher, summiert sich das zu einem massiven zusätzlichen Zeitaufwand auf. Genau deshalb ziehen weitsichtige Landwirte Schmid bei Um- oder Neubauten von Ställen als Beraterin bei. In älteren, engen Gebäuden hingegen kann es anspruchsvoll werden, Lösungen zu finden – aber nicht unmöglich. «Denn es ist eben auch so, dass gesunde, zufriedene Kühe leistungsfähiger sind und mehr Milch geben», sagt Schmid. So könne ein Bauer aufgrund ihrer Vorschläge vielleicht eine Kuh weniger halten und sich damit Arbeit sparen, ohne Einkommen zu verlieren. In der Schweiz werden auf einem Bauernhof im Schnitt gut 20 Kühe gehalten, im internationalen Vergleich sind das Kleinbetriebe. Es sei logisch, sagt Martina Schmid, dass kleinere Betrieb oft eine nähere Bindung zu jeder einzelnen Kuh haben. Das bedeute aber nicht, dass ihre Arbeit quasi ein Wohlfühlangebot für Betriebe in schweizerischer Durchschnittsgrösse sei. Unter ihren Kundinnen und Kunden befinden sich auch Grossbetriebe, «die mit ihren Kühen Spitzensport betreiben». Gesunde und leistungsfähige Kühe seien für sie ja besonders wichtig: «Auf Milchleistung gezüchteten Kühen kann es sehr gut gehen, wenn sie Licht und Luft haben und einen guten Platz zum Fressen und Liegen.» Auch technische Innovationen, die dem traditionellen Bild des bäuerlichen Handwerks widersprechen, können sich positiv auf das Kuhwohl auswirken. Zum Beispiel Melkroboter, die es den Kühen erlauben, selbst zu bestimmen, wann und wie oft am Tag sie gemolken werden möchten. Es gebe Kühe, die sich lieber drei- oder viermal am Tag melken lassen als nur zweimal, wie das Bauern normalerweise machen. Sie vermeiden damit Überbelastungen der Euter – aber auch den Stress, jeden Tag darauf warten zu müssen, endlich gemolken zu werden. Was natürlich überhaupt nicht heisse, sagt Martina Schmid, dass Robotisierung in jedem Stall die richtige Lösung sei. Kuhsignale zu beachten, aber schon. Kühe, die sich wohl fühlen, verbringen 70 Prozent ihrer Zeit liegend. Aufregung und Veränderungen mögen sie nicht. Hier eine Kuhherde im Schweizer Jura. Foto Joseph Haas Schweizer Revue / Dezember 2024 / Nr.6 11

STÉPHANE HERZOG Die kleine Insel liegt nur einen Steinwurf vom Ufer des Urnersees, dem südlichsten Teil des Vierwaldstättersees, entfernt. An einem lauen Herbsttag schwimmen wir zu den kleinen Badeinseln namens Lorelei. Unsere Füsse berühren den mit fast fluoreszierend grünem Moos bedeckten Boden. Aber eigentlich begehen wir hier eine Abfallhalde! Die Inseln bestehen aus Schutt, aus Aushub des GotthardBasistunnels. Von den 27 Millionen Tonnen Granit, Gneis und Kalkstein, die zwischen 2001 und 2008 abgebaut wurden, landete ein Zehntel im See. Ursprünglich war geplant, alles im See zu versenken, sagt Giovanni De Cesare, Ingenieur und Experte für Hydrologie an der EPFL. Seit 2011 ist dies aber verboten. Zudem sprach ein weiterer Grund dagegen: Das Delta der Reuss, diese «Camargue» der Zentralschweiz, wäre wegen der Bodenerosion durch Strömung und Wellen und wegen der Ausbeutung des Bodens durch ein Steinbruchunternehmen beinahe verloren gegangen. Der Kanton Uri erliess deshalb ein Gesetz zum Schutz des Deltas. Die Renaturierung wurde zunächst mit dem Einsatz von Maschinen in Angriff genommen, um dem Delta wieder einen breiteren Winkel zu verleihen. Dessen Rettung ist besonders Martin Jaeggi, Ingenieur und Pionier im Bereich Feststofftransport in Flüssen, zu verdanken. Inzwischen ist er im Ruhestand. Es war seine Idee, das Delta mit dem Aushub aus dem Gotthard zu renaturieren. Ein Park für Mensch und Tier Mittlerweile ist das Gebiet ein Park, in dem sich sowohl Menschen als auch Tiere wohlfühlen. In der warmen Jahreszeit zieht das Delta Tausende von Besucherinnen und Besuchern an, die sich auf den kleinen Inseln sonnen. «Der Park ist nicht nur den Bären vorbehalten», scherzt Giovanni De Cesare. Ein Teil des Geländes – darunter der Neptun-Archipel, der aus drei weiteren Inseln besteht – ist jedoch für die Öffentlichkeit nicht zugänglich. Barbecue-Fans finden trotz dieser Einschränkung zahlreiche öffentliche Grillplätze, wo sie ihre Cervelats braten können. Es hat sogar Feuerholz in eigens dafür errichteten Hütten. Sonntagsspaziergängerinnen und -spaziergänger können sich auf den Pfaden durch das feuchte und grüne Gebiet tummeln. Und das Naturschutzgebiet lässt sich sogar mit dem Velo erkunden. Für Vogelliebhaberinnen und -liebhaber stehen mehrere Beobachtungsposten zur Verfügung, darunter ein Turm mit gutem Ausblick aufs gesamte Delta. Am linken Reussufer gibt es im Seerestaurant das Tagesgericht für 21 Franken, inklusive Salat und Getränk. «Dieses Lokal konnte dank einer gesetzlichen Ausnahmegenehmigung eröffnet werden», erklärt Rico Vanoli, Gemeindeschreiber der Gemeinde Flüelen, einer Ortschaft am rechten Flussufer. Die Herausforderung im Reussdelta besteht darin, wirtschaftliche, soziale und ökologische Ziele in Einklang zu bringen. «Ohne die Renaturierung hätten die Bauern in der Gegend letztendlich Land verloren, da die Erosion mehr als 100 Meter betragen hätte», sagt Giovanni De Cesare. Übrigens helfen die Viehzüchterinnen und -züchter bei der Erhaltung des Reservats mit, indem sie gehörnte Hochlandrinder invasive Gräser abgrasen lassen. Aber da hat’s auch noch Industrie. Seit 1905 baut der Sand- und Kieswerkbetreiber Arnold das Seematerial ab, das die Reuss mit sich führt. Jetzt sei das Unternehmen am Wirtschaftskreislauf des Projekts beteiligt, sagt Rico Vanoli, und zwar durch die Zahlung einer Konzession an den Kanton. Sein Auftrag? Die Schaffung von Inseln und Im Reussdelta sind jetzt Natur und Wirtschaft im Einklang Das im Süden des Vierwaldstättersees gelegene Reussdelta schien dem Untergang geweiht. Aber dank Aushub aus dem Gotthard-Basistunnel lebt es wieder auf: Mit ihm wurden kleine Inseln aufgeschüttet und Flachwasserzonen geschaffen, die für die Tier- und Pflanzenwelt attraktiv sind. – Ein Pionierprojekt. Flachwasserzonen vor den Ufern des Deltas. Damit werden gleich zwei Ziele erreicht: Das Delta wird vor Erosion geschützt und die Tiere erhalten einen Lebensraum. Zugegeben, im Hafenstädtchen Flüelen sind die Maschinen von Arnold, die den Grund ausheben, bisweilen ein bisschen lärmig. Ausserdem kann das Delta nicht über das Seeufer erreicht werden, da das Unternehmen den direkten Zugang zum Schutzgebiet verbietet. Das ist zwar schade, aber im Gegenzug beschäftigt das Unternehmen 45 Mitarbeitende, von denen ein Teil hier lebt. «Die Firma wird geschätzt und akzeptiert», bestätigt Gemeindeschreiber Vanoli. Neue Flachwasserzonen für Fische Diesen Herbst wurde die letzte Phase der Renaturierung der Reuss eingeleitet: Mithilfe von Lastkähnen der Firma Arnold sollen neue Flachwasserzonen in der Nähe des Seeufers geschaffen werden. Hierzu werden 7 Hektar Fläche mit 4,9 Millionen Kubikmeter Material aufgeschüttet, das aus der neuen Gotthard-Strassenröhre stammt, sowie von den Arbeiten an der Axenstrasse, die Brunnen (SZ) mit Flüelen (UR) verbindet. Das Projekt wird 62 Millionen Franken kosten, finanziert von den Anlieferern des Aushubs, dem Bund und den Kantonen Schwyz und Uri. Die Wassertiefe wird höchstens 10 Meter betragen, sodass das Sonnenlicht den Seegrund gut erreicht. Die Flachwasserzonen sollen einen Zustand wiederherstellen, wie er vor dem industriellen Kiesabbau war. Vor allem aber werden diese neuen unterseeischen Erhebungen das Delta vor Erosion schützen. Es besteht jedoch die Gefahr, dass der Seegrund dadurch auch Schaden nimmt: «Die Seeschüttung kann die Unterwasserfauna beeinträchtigen, Die Reuss fliesst in den Urnersee, wie der südlichste Zipfel des Vierwaldstättersees genannt wird. Karte Landestopo Schweizer Revue / Dezember 2024 / Nr.6 12 Natur und Umwelt

aber jeder Eingriff ist schlussendlich immer eine Interessenabwägung», sagt Giovanni De Cesare. Das Ziel ist es, die Sanierung des Reussdeltas bis 2029 abzuschliessen. Vorläufige Bilanz: Der Einsatz dürfte sich gelohnt haben; die Reuss mäandert wieder; die Renaturierung hat sowohl die Tier- als auch die Pflanzenwelt begünstigt. Im Delta gibt es rund 500 verschiedene Pflanzenarten. Darunter sind seltene oder geschützte Arten wie der Lungen-Enzian, der ErdKlee oder die Sibirische Schwertlilie. In den Sümpfen leben auch Reptilien. Und im Sumpfboden tummeln sich Muscheln und Schnecken. Ungefähr 225 Vogelarten nisten in dieser Oase oder machen hier Rast. Unter der Wasseroberfläche konnten 30 Fischarten inventarisiert werden, darunter die stark bedrohten Flussneunaugen und Seeforellen. Artenreiche Fauna Die Fauna des Deltas zieht viele Naturfreundinnen und -freunde an, etwa Bruno Imhof, ein ehemaliger Sigrist aus Altdorf. Er kommt seit 25 Jahren regelmässig hierher und sichtete auch sehr seltene Vögel. Im Mai 2023 hat ein Kuhreiher – ein aus Afrika stammender Sumpfvogel, der auf der roten Liste steht – hier Halt gemacht. Im April entdeckte er auf einer der Lorelei-Inseln einen völlig durchnässten und müden Wiedehopf. «Er blieb drei Tage lang, um sich auszuruhen», erzählt der Urner, der sich jedoch Sorgen wegen zu vieler Besucherinnen und Besucher im Sommer macht. Insgesamt hat das Delta seine alten Funktionen wiedererlangt. Die legendären Überschwemmungen, welche sich hier immer wieder ereignen, werden es nicht zerstören, «denn es funktioniert wie ein Überströmdamm», sagt Giovanni De Cesare. Das mit Aushubmaterial renaturierte Delta der Reuss liess neue Lebensräume für Pflanzen und Tiere entstehen – und auch für Menschen, die am Wasser Erholung suchen. Lastkähne werden nun Flachwasserzonen aufschütten, die vor allem den Fischen zugute kommen. Foto Keystone, Stéphane Herzog, seeschuettung.ch Weitere Infomationen: www.seeschuettung.ch www.reussdelta.ch 13

THEODORA PETER Felder und Wiesen, soweit das Auge reicht. An wolkenlosen Tagen sind am fernen Horizont die Pyrenäen zu erkennen. Hier, in der Gascogne, tausend Kilometer von der Schweiz entfernt, bauten das Bauernpaar Stephanie und Ruedi Baumann auf einem abgelegenen Hof ein ökologisches Paradies auf. Den Biohof im bernischen Suberg hatten sie bereits Anfang der Nullerjahre dem jüngeren Sohn Kilian übergeben. Er führt als Kleinbauer und als Nationalrat der Grünen auch die politischen Kämpfe seiner Eltern weiter. Stephanie und Ruedi Baumann gehörten in den 1990er-Jahren zur nationalen Politprominenz – als erstes Ehepaar im Bundesparlament: sie als Sozialdemokratin, die sich für soziale Gerechtigkeit engagierte; er als pointierter Grüner, der sich mit der mächtigen Landwirtschaftslobby anlegte. Einen anderen Weg schlug der ältere Sohn Simon ein. Viel mehr als Landwirtschaft und Politik interessierte ihn Musik und Kunst: «Im Filmemachen entdeckte ich die Möglichkeit, auf Distanz zu gehen und meinen Eltern doch nahe zu bleiben.» Die Idee, einen Film zum Thema Erben zu drehen, trägt der heute 45-Jährige mit sich herum, seit er vor neun Jahren selber Vater wurde. «Meine Partnerin und ich stellten uns die Frage, welche Werte und Lebenseinstellungen wir unseren eigenen Kindern weitergeben werden», erklärt der Regisseur im Gespräch mit der «Revue». Die Filmidee schlummerte weiter, bis Baumanns Eltern – heute 73 und 77 Jahre alt – mit den Söhnen über die Zukunft des Betriebs in Frankreich sprechen wollten. «Ich sagte: Okay, lasst uns reden, aber ich mache einen Film darüber.» Simon Baumann packte Kamera- und Tonausrüstung ein und fuhr mehrmals Richtung Süden, um seine Eltern in ihrem Alltag und bei der Arbeit in Haus und Hof filmisch zu begleiten. Immer wieder kontrastiert er deren Wahrnehmung mit seiner eigenen Perspektive. Während die Kamera über die Ländereien schweift, kommentiert der Autor aus dem Off: «Ich sehe Ackerland, Einsamkeit, Langeweile. «Wir müssen reden»: Über den Zwiespalt des Erbens Nach einer Politkarriere in der Schweiz wanderten Stephanie und Ruedi Baumann vor über 20 Jahren nach Frankreich aus, wo sie ihre Ideale einer naturnahen Landwirtschaft verwirklichten. Nun sollen ihre Söhne das Lebenswerk weiterführen. Doch wollen die das überhaupt? Im Dokumentarfilm «Wir Erben» thematisiert Sohn und Regisseur Simon Baumann den Zwiespalt als Verwalter von Hinterlassenschaften. Meine Eltern sehen Artenvielfalt, ökologisch wertvolle Hecken, pestizidfreie Böden.» «Wir Erben» ist ein radikal persönlicher Film, der jedoch universelle Fragen aufwirft: Was prägt uns und wie? Wie gehen wir mit Erwartungen um? Aber auch: Wie gerecht ist es, Besitz zu vererben? Im Dokumentarfilm lässt der Autor das Kinopublikum teilhaben an den familieninternen Diskussionen zur Frage, was mit dem Gut in Frankreich passieren soll, wenn sich die Eltern eines Tages nicht mehr darum kümmern können. Während Vater Ruedi dafür plädiert, dass der Hof in der Familie bleiben soll, sieht Sohn Simon darin eher eine Last. Und stellt sich im Film grundsätzliche Fragen: «Ich erbe von meinen Eltern Eigentum und das Bewusstsein für Gerechtigkeit. Aber die zwei Sachen passen nicht zusammen. Wo ist die Gerechtigkeit, wenn ich Eigentum erbe und andere nicht?» Dieses unlösbare Dilemma zieht sich wie ein roter Faden durch den Film. Der Autor möchte damit nicht zuletzt eine Debatte anstossen. «Wenn in der Schweiz transparenter wäre, wem der Boden gehört und wer sich Land überhaupt leisten kann, würde man auch mehr über Gerechtigkeit sprechen.» Darüber hinaus zeichnet Simon Baumann in «Wir Erben» ein aufschlussreiches Familienporträt. Er erzählt vom Aufbruch seiner Eltern, die sich entfalten und – als Teil der 1968er-Generation – aus bürgerlichen Konventionen ausbrechen konnten. Die Arbeitertochter Stephanie Bieri und der Bauernsohn Ruedi Baumann heirateten 1974 heimlich – «eine traditionelle Hochzeit wäre ihnen zu bourgeois gewesen» – und reisten ohne Geld und per Autostopp nach Afrika. Zwei junge Menschen, welche die Welt verändern, aber auch in Beruf und Gesellschaft vorankommen wollten: «Für sie gingen Türen auf, die für ihre Vorfahren verschlossen blieben.» Das politische Engagement seiner Eltern, zunächst im Kantonsparlament, später im Nationalrat, beobachtete Simon Baumann als Bub mit gemischten Gefühlen: «Ich schämte mich für sie, bewunderte sie, litt mit ihnen.» Mit der AusStephanie und Ruedi Baumann leben seit mehr als zwei Jahrzehnten in Südfrankreich. Schweizer Revue / Dezember 2024 / Nr.6 14 Kultur

Ruedi Baumann – hier in seiner Werkstatt – möchte, dass der Bauernhof in der Familie weitervererbt wird. Der abgelegene Bauernhof in der Gascogne eignet sich nicht als Alterssitz. «Wir Erben» ist ein radikal persönlicher Film, der jedoch universelle Fragen aufwirft: Was prägt uns und wie? Wie gehen wir mit Erwartungen um? Schweizer Revue / Dezember 2024 / Nr.6 15

«Hilfe, ich erbe!» Was uns in die Wiege gelegt wird, prägt uns – und entscheidet mit, ob wir auf der Sonnen- oder Schattenseite des Lebens stehen. Ob es sich bei einer Erbschaft um Geld, Gene oder Werte handelt: Sie kann Segen oder Fluch sein, Privileg oder Last. Und sie kann ein Gefühl von tiefer Verbundenheit auslösen oder die Lust, sich von Altlasten zu verabschieden. Die Ausstellung «Hilfe, ich erbe!» im Generationenhaus Bern thematisiert die verschiedenen Facetten im Umgang mit dem Erben und lädt das Publikum ein, sich mit den eigenen Wurzeln und Prägungen auseinanderzusetzen. Zu sehen sind zudem mehrere Videoporträts, die der Filmemacher Simon Baumann für die Ausstellung gedreht hat. Die Ausstellung im Generationenhaus Bern dauert bis 26. Oktober 2025. www.begh.ch/erben wanderung nach Frankreich zogen sich die Baumanns Anfang der Jahrtausendwende aus der Politik zurück. Bis heute schauen sie kritisch auf die Schweiz, wie beim Gespräch mit der «Schweizer Revue» deutlich wird. «Ich hätte gerne eine Schweiz, die in Europa aktiv mithilft, die Probleme zu lösen, statt sich weiterhin als Profiteurin aufzuführen», sagt Ruedi Baumann. Auch für Stephanie Baumann sollte die Schweiz «eine Rolle spielen in der Welt, statt sich davon abzuschotten». In Frankreich, wo beide nach fünf Jahren Aufenthalt eingebürgert wurden, fühlen sie sich gut integriert. Als Zuzüger seien sie damals im Dorf mit offenen Armen empfangen worden – und fragten sich danach, «ob Neuankömmlinge in der Schweiz auch so herzlich willkommen geheissen würden». Im Laufe der Jahre knüpften die beiden Auslandschweizer viele Freundschaften. Doch mit dem Älterwerden häufen sich im Bekanntenkreis Krankheiten und Todesfälle. Die Frage nach der eigenen Zukunft wird dringlicher – und belastet Stephanie Baumann: «Was passiert, wenn jemand von uns beiden krank oder pflegebedürftig wird?» Der abgelegene Hof, der nur mit dem Auto erreichbar ist, eignet sich nicht als Alterswohnsitz: «Wenn wir nicht mehr mobil sind, können wir nicht mehr hier leben.» Möglicherweise kehren Baumanns dann in die Schweiz zurück, in die Nähe ihrer Söhne und der fünf Grosskinder. Und für die Zukunft des Hofs zeichnet sich eine Lösung ab. «Wir Erben» startet ab Januar 2025 in den Schweizer Kinos. www.wirerben.ch Stephanie Baumann treibt die Sorge um die Zukunft um: «Was passiert, wenn jemand von uns beiden krank oder pflegebedürftig wird?» Wohin im Alter? Baumanns denken über eine Rückkehr in die Schweiz nach – im Bild bei einer Wohnungsbesichtigung. «Im Filmemachen entdeckte ich die Möglichkeit, auf Distanz zu gehen und meinen Eltern doch nahe zu bleiben.» REGISSEUR SIMON BAUMANN Simon Baumann (*1979) hat Medienkunst studiert und arbeitet als freischaffender Filmemacher und Produzent. Er lebt mit seiner Familie in Suberg im Kanton Bern. Alle Fotos: Ton und Bild GmbH Schweizer Revue / Dezember 2024 / Nr.6 16 Kultur

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