Schweizer Revue 6/2024

EVELINE RUTZ Bücher, Lebensmittel, Kleider und Theaterkarten kaufen viele längst online. Auch wer den Wohnort wechselt, bauen möchte oder Steuern zahlt, tritt mit den Behörden zunehmend digital in Kontakt. Diverse Pendenzen lassen sich heute bequem am Mobiltelefon oder Computer erledigen. Das Potenzial für digitale Dienstleistungen der Behörden ist gross – wird in der Schweiz allerdings erst wenig ausgeschöpft. Im jährlichen Ranking der Europäischen Union liegt sie unter dem EU-Durchschnitt. Aktuell belegt sie den Rang 31. Die Zahl der Online-Services ist überschaubar. Eine staatliche E-ID fehlt (siehe «Schweizer Revue» 6/2022). Viele der vorhandenen IT-Systeme sind nicht anschlussfähig; Daten werden kaum nach einheitlichen Standards erfasst. Das erschwert es, Informationen nahtlos auszutauschen sowie für Planung, Verwaltung und Forschung zu nutzen. Einer breiteren Öffentlichkeit wurde dies bewusst, als der Bund während der Corona-Pandemie Mühe hatte, sich zeitnah einen Überblick über das Infektionsgeschehen zu verschaffen. Nicht wenige Arztpraxen meldeten die Zahl der Erkrankten per Fax nach Bern. Der Aufschrei war gross: Verwaltung, Politik und Wirtschaft drängten auf mehr Engagement und Tempo. Die Schweiz müsse den digitalen Umbau beschleunigen, um nicht den Anschluss zu verlieren, so der Tenor. Die öffentliche Verwaltung steht unter Druck, Verpasstes nachzuholen. «Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren», sagte Anne Lévy, Direktorin des Bundesamts für Gesundheit (BAG), als sie auf Anfang 2025 ein nationales Förderprogramm ankündigte. Die Frage sei nicht, ob es im Gesundheitswesen einen Digitalisierungsschub brauche, – «sondern wie schnell wir damit vorwärtskommen und wie gut es uns gelingt, dass alle am gleichen Strick ziehen». 392 Millionen Franken will der Bund bis 2034 allein in diesem Bereich investieren. Weitere Projekte sind am Laufen. Das Prinzip «digital first und digital only» soll auf allen drei Staatsebenen konsequent umgesetzt werden. Das Smartphone soll ein Werkzeug bleiben Unter all die Rufe nach mehr Tempo mischen sich auch kritische Stimmen. Widerstand lösen beispielsweise die Pläne der ÖV-Branche aus, Bus- und Bahntickets ab 2035 ausschliesslich digital zu verkaufen. Viele ältere Menschen besässen kein Smartphone, moniert etwa die Vereinigung aktiver Senior:innen- und Selbsthilfeorganisationen Schweiz (Vasos). Sie seien darauf angewiesen, Billette nichtdigital und mit Bargeld kaufen zu können. Zudem gelte es auf Einschränkungen beim Hören und Sehen Rücksicht zu nehmen. Die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen müssten ebenso einbezogen werden, mahnt Pro Juventute. Gerade für die jüngsten ÖV-Nutzenden sei es wichtig, Einzelfahrten offline erwerben zu können. Monica Amgwerd, Generalsekretärin der Zürcher Piratenpartei, teilt diese Meinung. «Es kann nicht sein, dass Kinder gezwungen werden, mit dem Smartphone Billette zu lösen.» Die Möglichkeit, bar zu zahlen, dürfe nicht abgeschafft werden. Daran hätten auch Personen ein Interesse, die ihre Daten nicht überall angeben wollten. «Anders als analoge können digitale Daten im grossen Stil gesammelt, ausgewertet und missbraucht werden», sagt Amgwerd. Davor müsse man sich schützen können. Die Zürcher Piratenpartei will das Recht auf ein OfflineLeben in der kantonalen Verfassung verankern. Im August hat sie die Volksinitiative «für ein Grundrecht auf digitale Integrität» eingereicht. Menschen sollen im digitalen IT-Fachleute warnen davor, unüberlegt zu digitalisieren Die Schweiz soll digitaler werden, um den Anschluss nicht zu verlieren. Kritische Stimmen mahnen, dabei die Rechte und Bedürfnisse der Nutzenden nicht zu vergessen. Sich offline zu bewegen, müsse möglich bleiben, fordern sie. Am Schalter ein Bahnticket bar bezahlen, also ohne gleich eine Datenspur zu hinterlassen? Selbst IT-Affine argumentieren, dass dies möglich bleiben sollte. Foto Keystone Schweizer Revue / Dezember 2024 / Nr.6 26 Politik

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