Vor einem Jahr sprach Bligg auffallend viel vom Älterwerden und vom Vatersein, von der Verschiebung von Prioritäten, von Rückzug auch oder vom Reisen – und vom Durchatmen auf dem Sofa. Als das Album «Tradition» erschien, wurde gemunkelt, ob es wohl das letzte Album in der langen Karriere des Mundartsängers aus Zürich sein würde. Doch nun ist Bligg bereits mit einem nächsten Album am Start. Und es ist kein gewöhnliches Werk. Auf «Tavolata» blickt Bligg zurück auf seine eigenen Lieder. Er präsentiert eine Werkschau seines über zwei Jahrzehnte umspannenden Schaffens. Dabei ist «Tavolata» aber auch kein normales Best-of-Album. Es enthält die alten Lieder allesamt in neuen Versionen. Bligg hat seine Hits umgepackt und mit Helen Maier & The Folks, einer Volksmusik-Formation, neu eingespielt. So sind auf bekannten Nummern wie «Rosalie», «Musigg i dä Schwiiz» oder «Legändä & Heldä» nun Akkordeons, Tasteninstrumente oder Streicher zu hören. Sie klingen plötzlich, als stammten sie aus Irland, Skandinavien oder dem Balkan. Wenn Bligg im Lied «Signal» aus dem Jahr 2008 mit heiserer Stimme die Zeile «weisch no euses erschte Mol Sex zu Barry White» singt und im Video dazu an einem Glas Rotwein nippt, dann erklingen akustische Gitarren, Akkordeon und eine Geige dazu – gediegen, aber auch abgespeckt und direkt. Die frühere Dance-Rap-Nummer «Alles scho mal ghört» von 2001 enthält in der neuen Version zwar eine dezente Rhythmusmaschine, ist ansonsten aber ebenfalls auf Folk getrimmt. Dasselbe gilt für den einstigen Hip-Hop von «Mosaik». Wo in der Originalfassung luftige Keyboards den Sound prägten, dominieren nun akustische Instrumente. Überhaupt: Geigen, Mandolinen, Kontrabass und noch mehr Geigen allenthalben. Die Geschichte der «Tavolata» ist schnell erzählt. Die Gassenhauer von Bligg funktionieren im Folk-Gewand bestens. Das muss man dem 48-jährigen Sänger lassen. Aber wirklich originell ist das wohl nicht. Interessanter ist die Frage: Ist «Tavolata» nun definitiv Bliggs letztes Album? Ein Rückblick auf die eigene Musik würde sich als Abschied eigentlich anbieten – und eine beeindruckende Karriere auf spielerische Weise abrunden. MARKO LEHTINEN www.bligg.ch Der Basler Autor Martin R. Dean (*1955) hat trinidadisch-schweizerische Wurzeln. In seinem Roman «Meine Väter» (2003) hat er sich mit der väterlichen Seite seiner Herkunft auseinandergesetzt. Im Roman «Tabak und Schokolade» stellt er nun seine Mutter Erna ins Zentrum. Sie ist, wie der Autor, im aargauischen Wynental geboren. Mit 18 begegnete sie in London Ralph, einem Mann aus Trinidad und Vater des Autors. Das Familienglück auf der Karibikinsel währte indes nur kurz, 1960 kehrten Mutter und Sohn in die Schweiz zurück. Bald folgte ihnen ein junger Arzt aus Trinidad, Martin R. Deans zweiter Vater. Aus dieser biografischen Konstellation entsteht in «Tabak und Schokolade» eine dreiteilige Recherche über die Mutter, über die eigene Kindheit, über Herkunft und Geschichte. Dean spürt anhand von Fotos der verblichenen Erinnerung den Jahren in Trinidad nach und findet bei einem Besuch auf der Insel eine weit verzweigte Verwandtschaft. Im Wynental dagegen ist seine Jugend situiert, die damals auch gezeichnet war von politischen Initiativen gegen italienische «Gastarbeiter». An beiden Orten trifft Dean nicht nur auf weit verzweigte Familienbande, er stösst auch auf ein Netz von vielfältigen kolonialen Beziehungen, die ihn selbst stark geprägt haben. Seine Grossmutter war einst aus Rügen (Deutschland) in die Schweiz gekommen, wo sie mit aller Macht versuchte, bürgerlichen Anstand zu wahren und sich von den italienischen Arbeitern in der Stumpenindustrie abzugrenzen. In Trinidad wiederum trifft er auf zwei miteinander rivalisierende Clans, die Sinanans und die Ramkeesoons, die sich in der Person des Vaters Ralph verbinden. Deren Vorfahren waren einst als Plantagenarbeiter aus Indien eingewandert. Auch wenn sie längst zum Establishment Trinidads gehören, ortet Dean Signale dafür, dass die koloniale Vergangenheit unterschwellig virulent geblieben ist. So erklärt er sich die Gewalttätigkeit seines leiblichen Vaters auch als «Gewalt eines Menschen, der, als Teil einer ihrer Traditionen beraubten Gesellschaft, keine moralische Verankerung hatte». Martin R. Dean war schon immer ausgesprochen wachsam bezüglich rassistischer Benachteiligung und Ausgrenzung, die er als dunkelhäutiger Junge selbst erfahren hat. In seinem Roman stellt er diese familiäre Erfahrung persönlich, anschaulich und klug in einen kolonialgeschichtlichen Zusammenhang. BEAT MAZENAUER www.mrdean.ch Die eigenen Lieder im neuen Gewand Trinidad und Wynental BLIGG: «Tavolata» 2024 MARTIN R. DEAN: «Tabak und Schokolade» Roman. Atlantis Verlag, Zürich 2024. 224 Seiten. 30 CHF. Schweizer Revue / Dezember 2024 / Nr.6 31 Gelesen Gehört
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