Schweizer Revue 6/2024

Bundesrätin Doris Leuthard wurde nach der Havarie von Fukushima zur Wegbereiterin des Ausstiegs. Am 25. Mai 2011 erklärte sie, die Schweiz wolle die bestehenden Atomkraftwerke am Ende ihrer Betriebsdauer nicht ersetzen. mit dem Bevölkerungswachstum die Nachfrage nach Strom zu. Gleichzeitig ist Strom nicht einfach mehr im Überfluss vorhanden. Das hat die durch den russischen Überfall auf die Ukraine ausgelöste Energiekrise eindrücklich aufgezeigt. Dass der Strom im Winter in der Schweiz knapp werden könnte, wurde zu einem realistischen Szenario. Die Behörden entwickelten Krisenpläne. Plötzlich machte eine bisher selten gehörte Wortkonstruktion die Runde: Strommangellage. Die damalige Energieministerin Simonetta Sommaruga rief zu sparsamem Kochen und zum gemeinsamen Duschen auf. Dank dem Zusammenspiel mehrerer günstiger Umstände mussten die Krisenpläne im Winter 22/23 nicht umgesetzt werden. Die einstmals geplanten Gaskraftwerke, die den fehlenden Strom liefern würden, fallen aufgrund des Netto-nullZieles weg. Sie sind nur als Reserve für einen Notfall vorgesehen. Das heisst, um eine Strommangellage über mehrere Wochen zu überbrücken. Auf Importe im grossen Stil zu setzen, wäre zu risikoreich. Die potenziellen Stromlieferanten rund um die Schweiz kämpfen mit den gleichen Problemen, um ihren Strombedarf künftig zu decken. Deshalb machen andere Länder ähnliche Überlegungen wie die Schweiz. Mehrere europäische Staaten haben ihre Ausstiegspläne verschoben oder gleich ganz aufgegeben, darunter Bel5 will. Dahinter stehen primär Vertreter von SVP und FDP und der Energie-Club Schweiz. Es ist gut möglich, dass die Initiative zurückgezogen wird, falls das Parlament den Gegenvorschlag des Bundesrats unterstützt. Für die Atomkraft-Befürworter hätte dies den Vorteil, dass in einer Abstimmung nur die Mehrheit des Stimmvolks und nicht auch noch der Kantone notwendig ist. Die Linke wirft SVP-Bundesrat Rösti vor, den Volkswillen zu missachten. Ausgerechnet ein Vertreter jener Partei, die Entscheide des Souveräns über alles stellt. Laut dem SP-Nationalrat Roger Nordmann läuft der Beschluss der Regierung dem Volkswillen punkto Energie- und Klimapolitik komplett zuwider. In mehreren Abstimmungen habe das Stimmvolk deutlich gemacht, dass sie einen schrittweisen Atomausstieg und eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien wolle. Versorgungssicherheit im Mittelpunkt Während beim Atomausstieg das Risiko von Nuklearkatastrophen ein wichtiger Treiber war, dreht sich jetzt die Diskussion um die Versorgungssicherheit. Der Strombedarf werde steigen mit der Dekarbonisierung, argumentieren die Befürworter. Verkehr und Heizen müssen elektrifiziert werden, um das Klimaziel netto null bis 2050 zu erreichen. Zudem nimmt Bisher galt: Schweizer Atommeiler, im Bild jene von Beznau I und Beznau II, werden nach ihrer Stilllegung nicht ersetzt. Nun möchte der Bundesrat die Ampel aber wieder auf Grün stellen. Foto Keystone Energieminister Albert Rösti an einer Medienkonferenz im August 2024, an der er den neuen, bundesrätlichen Richtungsentscheid in Sachen Atomenergie bekanntgab. Fotos Keystone Aber sie sollen nicht mehr ersetzt werden. Frei von Widersprüchen war dieser Entscheid nicht. Falls man nach «Fukushima» zu einer anderen Beurteilung der Sicherheit der Reaktoren gekommen ist, hätte man die Schweizer Werke viel schneller abstellen müssen. So wie es beispielsweise Deutschland getan hat. Die Schweiz hat einen pragmatischen Weg gewählt. Er war auch der damaligen Stimmung in der Bevölkerung geschuldet. In den Jahren nach «Fukushima» wären neue AKWs kaum mehrheitsfähig gewesen. Taktisch geschickter Energieminister War damals Leuthard die treibende Kraft für den Ausstieg, zieht heute Rösti den Karren wieder in die andere Richtung. Rösti war schon immer ein Anhänger der Atomkraft. Mit der Übernahme des Energiedepartements nach seiner Wahl in den Bundesrat gelangte er an die wichtigen Schalthebel. Doch er verhielt sich vorerst – taktisch äusserst geschickt – ruhig. Rösti sprach den Erneuerbaren das Wort und warnte davor, eine Debatte über den Bau von AKWs zu lancieren. Diese Diskussion sei müssig – wenn nicht sogar kontraproduktiv, sagte er im September 2023 der «Neuen Zürcher Zeitung». Eine Grundsatzdiskussion über neue AKWs würden die Bemühungen um den Ausbau der Erneuerbaren in gefährlicher Weise torpedieren. Das war gestern, respektive vor der Volksabstimmung über das revidierte Stromgesetz, das den starken Ausbau der erneuerbaren Energien vorsieht. Diese Vorlage wollte er mit einer Atomdebatte nicht gefährden. Röstis Taktik ging auf, das Stimmvolk sagte deutlich Ja zum Gesetz – gegen den Widerstand von Röstis eigener Partei, der SVP. Formell kommt der Entscheid des Bundesrats als Gegenvorschlag zur Volksinitiative «Blackout stoppen» daher, die das AKW-Bauverbot aufheben Schweizer Revue / Dezember 2024 / Nr.6

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