JANUAR 2025 Die Zeitschrift für Auslandschweizer:innen Weisse Landschaften sind herzerwärmend, doch der Winter, wie er war, schmilzt dahin Im ländlichen Huttwil trotzt eine kleine Zeitung dem Niedergang des Lokaljournalismus Kühle Brise: Das politische Klima gegenüber der Fünften Schweiz wird frostiger
Für eine nach- haltige Zukunft der Fünften Schweiz Mit einem Legat ermöglichen Sie, dass die Auslandschweizer- Organisation die Rechte der Auslandschweizer:innen weiter- hin unterstützt und vertritt. www.swisscommunity.link/legate Lesen wie gedruckt. Geniessen Sie die «Schweizer Revue» übersichtlich und gut lesbar auf Ihrem Tablet oder Smartphone. Die App dazu ist gratis und werbefrei. Sie finden die App mit dem Suchbegriff «Swiss Review» in Ihrem Appstore. SCHWEIZER REVUE JANUAR 2025 Die Zeitschrift für Auslandschweizer:innen Weisse Landschaften sind herzerwärmend, doch der Winter, wie er war, schmilzt dahin Im ländlichen Huttwil trotzt eine kleine Zeitung dem Niedergang des Lokaljournalismus Kühle Brise: Das politische Klima gegenüber der Fünften Schweiz wird frostiger © www.pexels.com Konsularische Dienstleistungen überall, komfortabel auf Ihren mobilen Geräten www.eda.admin.ch Bukarest (2022) © www.pexels.com Save the Dates! Treffen Sie uns an diesen symbolträchtigen Orten im Herzen der Schweizer Hauptstadt für einen inspirierenden Austausch zu relevanten Themen. 22. August 2025 – Kursaal Bern 23. August 2025 – Nationalratssaal Days Unsere Partner:
Es war wie in einem skurrilen Wintermärchen: In der Nacht vom 21. auf den 22. November 2024 versank die Schweiz innert Kürze in Bergen von Neuschnee. Vielerorts stand praktisch alles still. In Luzern fielen 42 Zentimeter Schnee. Damit war der Rekord aus dem Jahr 1919 in aller Deutlichkeit überboten. In Bern wiederum brach der Verkehr so komplett zusammen, dass sich besonders Gewitzte entschieden, per Snowboard ab dem Hauptbahnhof ins etwas tiefer gelegene Berner Monbijou-Quartier zu cruisen. Die Verhältnisse waren aus Snowboarderperspektive ideal: Neuschnee, Piste gut. Der frühe Schnee – und die enormen Mengen – weckten Erinnerungen an ein fernes «Früher», an Winter, wie sie einmal waren. Doch die schneereiche Zeitreise in die Vergangenheit war kurz, die weisse Pracht schmolz rasch dahin. Der Winterbeginn zeigte sich schliesslich wieder so, wie man ihn im Unterland inzwischen kennt: in zahllosen Schattierungen von Regengrau und Nassgrün. Der enorme Kontrast verstärkt die Erkenntnis: Der Winter ist im Wandel. Das pittoreske Postkartenbild der winterlichen Schweiz ist zunehmend eine Illustration aus der Vergangenheit – oder eine mit künstlichem Schnee aufgeschönte Kulisse. Besonders fassbar macht der Blick in die Skigebiete den Wandel. Zahlreiche der eher tiefer gelegenen Skilifte mussten in den vergangenen Jahren ihren Betrieb definitiv einstellen. Die Winter sind im Schnitt schlicht zu warm geworden. Skifahren als Volkssport, an dem alle praktisch vor ihrer Haustüre schnuppern können, ist ziemlich passé. Das zeigt unser Schwerpunkt (Seite 4). Trotz wärmeren Wintern müssen sich derzeit einige wärmer anziehen. Das Schweizer Parlament hat im Dezember einschneidende Sparentscheide gefällt (Seite 9). Deren Folgen sind weitreichend, gerade auch für die Verletzlichsten: Die Schweiz senkt ihre Aufwendungen für die Entwicklungshilfe massiv. Eine kühle Brise weht auch den Auslandschweizerinnen und -schweizern entgegen, zumindest jenen mit konkreten Erwartungen an die Schweiz. Das Parlament setzt nämlich auch bei Leistungen zugunsten der Fünften Schweiz den Rotstift an. Unsere Umfrage im Bundeshaus zeigt: Seitens der Politik erfährt die Fünfte Schweiz derzeit so was wie einen Liebesentzug. Unseren «Wetterbericht» dazu finden Sie auf Seite 28. Und: Hier ist durchaus Ihre Meinung gefragt. MARC LETTAU, CHEFREDAKTOR 4 Schwerpunkt Der Traum vom weissen Schweizer Winter schmilzt mehr und mehr dahin 9 Nachrichten Das Parlament führt eine erbitterte und folgenreiche Spardebatte 10 Porträt Die Weberei in der Schweiz: eine lebendige Kulturtechnik 12 Politik Das Volk stoppt an der Urne den geplanten Ausbau der Autobahnen 16 Gesellschaft Der Lokaljournalismus steckt in der Krise, ein Huttwiler Blatt trotzt ihr Nachrichten aus Ihrer Region 19 Schweizer Zahlen Über Geld, Gold – und Gärten 20 Reportage Stadt der Einsamen? Nirgendwo leben mehr Menschen alleine als in Basel 23 Literatur Johann Jakob Bachofen lieferte 1861 der Frauenemanzipation viele Argumente 28 Fünfte Schweiz Das politische Klima gegenüber der Fünften Schweiz ist rauer geworden 30 Aus dem Bundeshaus Das Wirken der Finanzaufsicht kommt auch der Fünften Schweiz zugute 33 SwissCommunity-News Wahlen in den Auslandschweizerrat Schnee von heute Titelbild: Geniesserischer Moment in den Schweizer Alpen (Weisshorn, 2653 Meter über Meer). Foto Keystone Herausgeberin der «Schweizer Revue», des Informationsmagazins für die Fünfte Schweiz, ist die Auslandschweizer-Organisation. Foto Keystone Schweizer Revue / Januar 2025 / Nr.1 3 Editorial Inhalt
THEODORA PETER Noch gibt es sie, die Skilifte an einem nahen Hügel – aber nicht mehr lange. Zum Beispiel in Langenbruck, der mit 700 Metern über Meer höchstgelegenen Gemeinde des Kantons BaselLandschaft (BL): 73 Jahre nach seiner Eröffnung steht der Dorf-Skilift vor dem Aus. Schon länger fällt auf dieser Höhe kaum mehr Schnee: In den vergangenen beiden Wintern blieb der Lift, der bis auf rund 900 Meter über Meer fährt, geschlossen. Unzählige Kinder und Jugendliche waren hier erstmals auf den Brettern gestanden – unter ihnen der heute 74-jährige Architekt und Liftbetreiber Peter Hammer. Sein Vater gehörte zu den Initianten der 1952 eröffneten Anlage – notabene dem ersten Skilift in der Die weissen Winter schmelzen dahin Das Postkartenbild der weissen Winterlandschaft trifft für die Schweiz immer seltener zu. Wer Schnee erleben oder Skifahren will, muss häufiger in hoch gelegene Alpendestinationen ausweichen. Skifahren, der helvetische Volkssport, ist zwar nicht vom Aussterben bedroht, wird aber zunehmend zum Luxusvergnügen. Schweizer Revue / Januar 2025 / Nr.1 4 Schwerpunkt
5 zahlreiche andere Betreiber. Von den ursprünglich 545 Skigebieten und Talliften in der Schweiz sind rund 230 wieder von der Landkarte verschwunden – rund 40 Prozent. Gemäss einer Untersuchung der Technischen Universität Dortmund führten nebst Schneemangel auch das abnehmende Interesse am Wintersport oder mangelnde Rentabilität zum Liftsterben. Nicht alle aufgegebenen Skigebiete wurden zurückgebaut: An mehreren Orten zeugen bis heute verrostete Liftmasten, kaputte Gondeln oder zerfallene Bergrestaurants von solchen «Lost Ski Places». Seit Mitte des 19. Jahrhunderts sind die Winter in der Schweiz um 2,4 Grad wärmer geworden. Bis 2050 dürfte die Temperatur nochmals um 1 Grad zunehmen. Der Schneemangel wird dann bis auf eine Höhe von 1500 Metern zu spüren sein. zuletzt dank einer 1978 installierten Beschneiungsanlage. Beliebt war auch das Nachtskifahren mit Beleuchtung: So konnten Wintersportfans aus der ganzen Region auch nach Feierabend ihrem Hobby frönen. Doch Anfang der 1990er-Jahre häuften sich die milden Winter ohne Schnee. «Damals sprach man noch nicht gross vom Klimawandel, aber wir spürten, dass sich etwas verändert», erzählt Peter Hammer im Gespräch mit der «Schweizer Revue». 230 Lifte zogen den Stecker Die Zahl der Tage, an denen die Pisten offen waren, schmolz seither dahin – auf «zwanzig bis null». Der Betreiber hofft nun noch auf eine gute letzte Saison. Findet sich kein Käufer, ist im Frühling 2025 definitiv Schluss. Hammer schmerzt am drohenden Ende am meisten, «dass die Anlage noch in einem guten Zustand ist» – bewilligt wäre der Betrieb noch bis 2031. Mit Wehmut denkt er an die letzten Jahrzehnte zurück und daran, «dass hier ganze Familien und mehrere Generationen mit dem Skisport gross geworden sind». Langenbruck ist bei weitem nicht das einzige Wintersportgebiet, das kapitulieren muss. In der Vergangenheit erreichte dieses Schicksal schon Nordwestschweiz. Bereits als Bub half Peter Hammer in seiner Freizeit beim Liftbetrieb mit – und blieb seinem Engagement bis heute treu: «Die Freude der Leute zu sehen, das ist meine Motivation.» Bis in die 1980er-Jahre boomte das Skifahren in Langenbruck, das nur knapp 30 Kilometer Luftlinie von der Stadt Basel entfernt liegt. Schnee war damals noch keine Mangelware – nicht Skifahren bis ins Tal ist oft nur noch auf Kunstschnee möglich. Das Bild zeigt die Abfahrt nach Flims (1000 m.ü.M.) in Graubünden an Weihnachten 2022. Foto Keystone Peter Hammer steht mit seinem Skilift in Langenbruck vor dem Aus. Als der Lift 1952 eröffnet wurde (Bild rechts), herrschte kein Schneemangel. Foto Volksstimme Sissach, Keystone Schweizer Revue / Januar 2025 / Nr.1
Ihre früheren Betreiber gingen Konkurs und hinterliessen nebst Schulden auch Ruinen inmitten von Naturlandschaften. Immer wärmere Winter Auch für die höher gelegenen Wintersportgebiete werden die steigenden Temperaturen in den nächsten Jahrzehnten zur grossen Herausforderung. Klimaforschende der ETH Zürich haben im Auftrag der Bergbahn-Branche und von Schweiz Tourismus Prognosen für die Winter bis ins Jahre 2050 erstellt. Demnach wird sich der Schneemangel in den nächsten Jahrzehnten für alle Skigebiete unter 1500 Metern verschärfen. Seit Messbeginn 1864 sind die Winter in der Schweiz um 2,4 Grad wärmer geworden, konstatiert ETH-Klimaforscher Reto Knutti: «Bis 2050 erwarten wir gegenüber heute eine weitere Erwärmung von einem Grad Celsius.» Je nach Entwicklung der CO₂-Emissionen kann dieser Wert um ein oder mehrere Zehntelgrade schwanken – mit entsprechend kleineren oder grösseren Auswirkungen. Nimmt die Temperatur im Winter wie prognostiziert um ein Grad Celsius zu, steigt auch die Nullgradgrenze an – und zwar um 300 Meter. Die Nullgradgrenze ist eine wichtige Kennzahl für den Wintertourismus: Sie zeigt an, ab welcher Höhe Niederschlag als Schnee vom Himmel fällt. Bereits seit den 1960er-Jahren hat sich diese Grenze um 300 bis 400 Meter nach oben verschoben – mit fatalen Folgen für die Skilifte im Tal. Eng wird der Spielraum gemäss dem Klimaforscher in Zukunft für diejenigen Skigebiete, deren Lifte nicht über eine Höhe von 1800 Metern hinausführen. Für sie ist auch die Herstellung von Kunstschnee schwierig: Die Schneekanonen laufen nur bei Temperaturen unter null Grad. Gemäss den Klimaprognosen nimmt aber die Zahl dieser Eistage ab – je nach Höhenlage um 10 bis 30 Prozent. «Insbesondere zum Winteranfang, also von Mitte November bis Mitte Dezember, wird es zu warm sein zum Beschneien», gibt Knutti zu bedenken. Noch mehr Kunstschnee Zwar liegen zahlreiche Wintertourismusdestinationen in den Alpen oberhalb der kritischen Grenze von 1500 Metern. Doch auch sie müssen ihre Strategien aufgrund des Klimawandels anpassen. Gemäss einer Umfrage der Universität St. Gallen bei 100 Bergbahnen rechnen über 75 Prozent für die nächsten 20 Jahre mit weniger Schneesicherheit und einer kürzeren Wintersportsaison. Dennoch gehen die meisten Betreiber davon aus, dass Skifahren und Snowboarden auch künftig beliebt bleiben. Sie investieren deshalb noch stärker in Der Mythos der Skination Schweiz «Alles fährt Ski ... alles fährt Ski ... Ski fährt die ganze Nation»: Der eingängige Schlager von Vico Torriani aus dem Jahr 1963 gehört zur Begleitmusik des Skibooms, der in den 1960er- und 1970er-Jahren seinen Höhepunkt erreichte. Dass sich Skifahren in der Schweiz als Breitensport etablieren konnte, hing entscheidend mit dem Angebot von Skiliften zusammen – nicht zuletzt in tiefen Lagen. Damals war der nächste Bügellift nicht weit weg, und fast jedes Schulkind fuhr regelmässig ins Skilager. Den Mythos der Skination Schweiz befeuerten auch die «Goldenen Tage von Sapporo». Bei den Olympischen Winterspielen 1972 in Japan gewann die Schweizer Delegation zehn Medaillen – unvergessen bleiben der Doppelsieg von Bernhard Russi und Roland Collombin in der Abfahrt sowie die beiden Goldmedaillen von Marie-Theres Nadig. «Wehrkräftiges Volk» durch Wintersport In der Schweiz waren es zunächst die Bergsteiger, welche die Skier für ihre Touren entdeckten, wie der Sporthistoriker Simon Engel in einem Blog des Nationalmuseums schreibt. 1893 wurde in Glarus der erste Skiclub gegründet, 1904 entstand der Schweizerische Skiverband. Anfänglich war das Skifahren vor allem ein Freizeitvergnügen für reiche Touristinnen und Touristen. Sportbegeisterte Briten aus der Oberschicht stürzten sich nach dem Prinzip «Downhill only» die Hänge hinunter. Dass Skifahren zum Schweizer Volkssport und damit «nationalisiert» wurde, hat gemäss dem Sporthistoriker mit den beiden Weltkriegen zu tun, die den internationalen Tourismus zum Erliegen brachten. Um mehr Schweizerinnen und Schweizer auf die Pisten zu bringen, flossen öffentliche Gelder – sowohl in die Rettung von Hotels und Bergbahnen wie auch in Rabatte für Tickets und Skischulkurse. Ab den 1940er-Jahren führten erste Kantone die jährlichen Sportferien ein, die zum Skifahren genutzt werden sollten. Auch die Armee unterstützte das nationale Projekt. Während dem Zweiten Weltkrieg beschrieb General Guisan unter dem Werbeslogan «Gesunde Jugend. Wehrkräftiges Volk durch Wintersport» die Berge und das Skifahren als ideales Feld, um die physische und moralische Stärke für die Landesverteidigung zu trainieren. Die konzertierte Propaganda- aktion erfüllte ihren Zweck: Die Gäste aus dem Unterland füllten Betten und Pisten in den Wintersportorten. (TP) Zum Blog des Nationalmuseums: www.revue.link/skifahren Erinnerung an die «goldenen Tage von Sapporo»: Der Schweizer Abfahrts-Olympiasieger Bernhard Russi (Nr. 4) und der Schweizer Olympiazweite Roland Collombin (Nr. 11) auf den Schultern von Fans an den Olympischen Winterspielen 1972. Foto Keystone Schweizer Revue / Januar 2025 / Nr.1 6 Schwerpunkt
stiegener Energiekosten – auch zu höheren Ticketpreisen. Je nach Grösse der Destination kostet ein Tag Skifahren für eine erwachsene Person zwischen 40 und 90 Franken. Mehrere Bahnbetreiber setzten auf «dynamische» Preise, die je nach Nachfrage und Buchungszeitpunkt schwanken. Dies kann in Hotspots wie St. Moritz, Zermatt oder der Snowboard-Hochburg Laax mitunter zu Preisen von über 100 Franken pro Tag führen. Für Aufsehen sorgte eine Aussage des Laaxer Bergbahnchefs Reto Gurtner, wonach das Preismaximum noch nicht erreicht sei. «In zehn Jahren wird eine Tageskarte in Laax zwischen 200 und 300 Franken kosten», prognostizierte Gurtner letzten Herbst. Er geht davon aus, dass der Ansturm auf schneesichere Gebiete weiter zunehmen wird – und es genügend Passionierte mit hoher Zahlungsbereitschaft gibt. Beim Golfen seien die Leute bereits heute bereit, bis 1000 Franken pro Runde zu bezahlen. Der Tourismusexperte Jürg Stettler von der Hochschule Luzern rechnet zwar nicht damit, dass sich derart den Ausbau von leistungsstarken Beschneiungsanlagen, die in kurzer Zeit hohe Mengen an Kunstschnee produzieren. Wo möglich, sollen Skipisten nach «oben» verschoben werden – mit weiteren Bahnen, die Schneesportler noch höher hinauf in die Berge bringen. Diese Pläne haben ihren Preis: Nötig sind millionenschwere Investitionen. Zum Teil springen ausländische Geldgeber in die Lücke. So hat der US-Konzern Vail Resorts bereits vor zwei Jahren das Skigebiet Andermatt-Sedrun im Grenzgebiet zwischen den Kantonen Uri und Graubünden aufgekauft. Seit 2024 gehört auch die Walliser Destination Crans-Montana zum Portfolio des amerikanischen Wintersport-Giganten, dem weltweit über 40 Skigebiete gehören. Vail Resorts will in beiden Schweizer Destinationen insgesamt rund 50 Millionen Franken in den Ausbau der Infrastruktur – Beschneiungsanlagen, Bergbahnen und Restaurants – investieren. Dies soll weitere Investoren anlocken, die ihrerseits Hotels und Ferienresorts bauen, um zahlungskräftige Gäste in die Wintersportorte zu bringen. Vom Volks- zum Luxussport Auch andere Wintersportorte investieren kräftig in den Ausbau ihrer Infrastruktur. Dies führt – nebst geexorbitante Preise überall durchsetzen können. Doch überlegten sich viele Schweizerinnen und Schweizer, ob sich der Wintersport für sie noch lohne. «Skifahren ist schon heute nicht mehr jener Volkssport, der es noch vor 40 Jahren war», sagte Stettler gegenüber Radio SRF. Zwar betreibt noch immer rund ein Drittel der Bevölkerung Schneesport: «Wer Ski fahren geht, tut dies aber immer seltener.» Vor allem für Familien wird Wintersport zunehmend zum unerschwinglichen Luxusgut – für Eltern mit zwei Kindern kostet eine Woche Skiferien rasch mehrere Tausend Franken. Die Skilager-Tradition schwindet Auch an den Schulen hat der frühere Volkssport an Bedeutung eingebüsst. Gehörten in den 1970er-Jahren die jährlichen Skilager noch zum Standardprogramm, ging diese Tradition in den letzten Jahrzehnten zunehmend verloren. Der Lehrplan 21 gibt diesbezüglich lediglich das Ziel vor, dass sich Kinder «auf gleitenden Geräten» fortbewegen können – das geht auch auf Schlittschuhen. Der Bund subventioniert Schneesportlager mit Geldern aus dem Programm «Jugend+Sport». Pro Jahr profitieren davon rund 100 000 Jugendliche. Mit der 2014 lancierten Schneesportinitiative will auch die Branche wieder vermehrt Kinder und Jugendliche in den Schnee bringen. Die Plattform «GoSnow.ch» bietet Schulen und Lehrpersonen nebst Lehrmitteln fixfertig organisierte Schneesportlager zu günstigen Preisen an. Im laufenden Winter organisiert die Plattform insgesamt rund 400 Lager für über 18 000 Teilnehmende. Für Fränzi Aufdenblatten, Präsidentin der Initiative und ehemalige Skirennfahrerin, ist Skifahren nicht nur eine Leidenschaft, sondern ein «Schweizer Kulturgut». Für sie ist es unvorstellbar, dass Kinder, die hierzulande aufwachsen, nicht zumindest einmal mit dem Schneesport in Kontakt kommen: «Das wäre, wie wenn man auf Hawaii lebt und nie ein Surfbrett ausprobiert.» Der Einsatz von Schneekanonen ist nur bei eisigen Temperaturen unter null Grad Celsius möglich. Foto Keystone Die Zukunft des Skigebiets von Crans-Montana ist dank ausländischen Investoren gesichert: 2024 wurde die Walliser Destination vom US-Konzern Vail Resorts aufgekauft. Foto Keystone 7
Das Rentenalter der Frauen steigt nun definitiv Es bleibt dabei: Das Rentenalter der Frauen in der Schweiz steigt ab diesem Jahr schrittweise von 64 auf 65 Jahre. Das hatten die Stimmberechtigten an sich schon vor zwei Jahren entschieden. Sie stimmten damals sehr knapp einer umfassenden AHV-Reform zu, die – nebst anderem – das höhere Rentenalter beinhaltete. Nur schilderte der Bundesrat vor der Abstimmung die Finanzlage der AHV allzu düster. Seine Prognosezahlen waren fehlerhaft. Deshalb zogen die Grüne Partei und die SP-Frauen den Fall vor Bundesgericht und forderten die Annullierung der Abstimmung. Am 12. Dezember 2024 lehnte das Bundesgericht dies aber ab. Es kritisierte zwar die Fehlleistung der Behörde, befand aber, dass eine Annullierung die Rechtssicherheit untergraben würde. (MUL) Zürich darf weiterhin «Zürcher*innen» schreiben Wie wird Sprache den verschiedenen Geschlechtern gerecht? Das wird besonders im deutschsprachigen Raum heftig diskutiert. Leidenschaftlich kritisiert wird oft der sogenannte Genderstern (wie beispielsweise im Wort «Zürcher*innen»). Gängig ist daneben auch die etwas diskretere Doppelpunktlösung, wie sie auch die «Revue» seit vier Jahren ab und an verwendet (wie beispielsweise im Wort «Schweizer:innen»). Seltener geworden ist dagegen im Deutschen das lange Jahren vertraute Binnen-I (wie im Wort «AusländerInnen»). Deshalb wechselte die Behörde der Stadt Zürich 2022 vom Binnen-I zum geschlechtsneutralen Genderstern. In der Folge wollte eine Volksinitiative der Behörde aber verbieten, in ihren Texten und Dokumenten den Genderstern zu verwenden. Am 27. November 2024 ist diese Initiative vom Volk allerdings klar verworfen worden. Zürichs Behörde darf sich weiterhin an die «Zürcher*innen» wenden. Die Abstimmung ist der erste Volksentscheid in der Schweiz in Sachen gendergerechter Sprache. (MUL) Keine Absage an den Eurovision Song Contest 2025 Basel ist und bleibt Host-City des ESC 2025, des Eurovision Song Contests, dem weltweit grössten Musikwettbewerb. Die rechtskonservative Kleinpartei Eidgenössische Demokratische Union (EDU) wollte den ESC per Referendum zu Fall bringen. Die EDU findet, der Anlass habe zuweilen Züge einer satanischen Freak-Show angenommen, sei unmoralisch und zusätzlich unverantwortlich teuer. Basel muss für den Anlass 35 Millionen Franken aufwenden. Die Baslerinnen und Basler teilen die Sorgen der EDU nicht. Am 24. November scheiterte das EDU-Referendum an der Urne sehr klar. Siehe auch: www.revue.link/escbasel (MUL) Widerstände gegen «Tempo 30» Sie finden in unserer Online-Ausgabe zusätzliche Inhalte, etwa unsere Recherche zur Frage, warum Temporeduktionen in Schweizer Städten trotz langer Erfahrung ein Streitgegenstand geblieben sind: www.revue.link/tempo30 Laurent Debrot In der Geschichte vom kleinen Prinzen zündet ein Mann zu jeder Minute des Tages Laternen an und wieder aus. Ist es genauso absurd, alle Strassen im Land zu beleuchten? Der Neuenburger Laurent Debrot findet: Ja. Der pensionierte Biobauer hat die Nacht zu seiner Mission gemacht, seinen Widerstand führt er von seiner Gemeinde Val-de-Ruz aus. Nach und nach hat diese die öffentliche Beleuchtung in ihren Dörfern von Mitternacht bis 4.45 Uhr ausgeschaltet und ist damit die grösste Gemeinde der Schweiz, in der die Nacht dunkel bleibt. Die Dunkelheit tut Tieren wie Menschen gut und gibt der Nacht ihre ursprüngliche Schönheit zurück. Das Beispiel hat Schule gemacht. Seit 2022 schalten auch die anderen Neuenburger Gemeinden die öffentliche Beleuchtung ab Mitternacht aus. Laurent Debrot ist ein Mann der Tat. 2017 mass er in Malvilliers an einem Fussgängerstreifen vor dem kantonalen Strassenverkehrsamt die Lichtintensität. «Tagsüber wird der Übergang kaum je benutzt, und die Büros machen am späten Nachmittag zu. Da fragt man sich schon, wozu diese Strassenlampen gut sein sollen», so der ehemalige grüne Grossrat. In Val-de-Ruz war Debrot mit Journalisten unterwegs und bemängelte, dass die Fussgängerstreifen von der neuen Nachtregelung ausgenommen waren. «Das ruiniert die Ambiance.» Dieser Punkt ist inzwischen geklärt. So bleibt beispielsweise in Le Locle das Licht nun überall aus, auch bei den Zebrastreifen. Laurent Debrot begrüsst dies, denn es sei nicht auszuschliessen, dass die Beleuchtung der Fussgängerstreifen zu lebensgefährlichem Verhalten verleite. Der Aktivist für dunkle Nächte hat zum Thema gerade eine Umfrage unter der Bevölkerung von Le Locle durchgeführt. Das Resultat freut ihn: «Die Resonanz ist positiv.» STÉPHANE HERZOG Schweizer Revue / Januar 2025 / Nr.1 8 Herausgepickt Nachrichten
stand über das Tempo: Die Landesregierung strebt 2035 an, das Parlament will das Ziel drei Jahre früher erreichen. Deshalb setzte es im diesjährigen Budget 530 Millionen Franken mehr für die Landesverteidigung ein, als der Bundesrat vorgesehen hatte, also insgesamt 6,3 Milliarden. Trübe Finanzaussichten Die bürgerliche Mehrheit des Nationalrats wollte zunächst 250 Millionen Franken, fast die Hälfte der zusätzlichen Armee-Millionen, bei der internationalen Zusammenarbeit kürzen. Selbst die sparsame Finanzministerin Karin Keller-Sutter warnte, eine so hohe Kürzung würde Projekte der Entwicklungshilfe gefährden. Der Ständerat reduzierte die Kürzung auf 30 Millionen, bestand aber ebenfalls darauf, die Armeeausgaben zu kompensieren, wegen der Schuldenbremse und trüber Finanzaussichten. In der Differenzbereinigung einigten sich die Räte auf den Kompromiss, bei der internationalen Zusammenarbeit 110 Millionen Franken zu sparen. Weitere Kürzungen sind unter anderem beim Bundespersonal vorgesehen. Appelle, nicht nur zu sparen, sondern auch Mehreinnahmen zu generieren, verhallten vorerst. Die bürgerlichen Parteien SVP, FDP und Mitte zeigten sich mit dem Budget 2025 zufrieden, während die Ratslinke mit SP und Grünen Kritik übte. Im Februar geht die finanzpolitische Kontroverse weiter. Ab 2027 drohen strukturelle Defizite, weshalb die Landesregierung ein Sanierungspaket für den Bundeshaushalt in die Vernehmlassung schickt, basierend auf Vorschlägen einer Expertengruppe. 9 SUSANNE WENGER Kurz vor Weihnachten stand das Bundesbuget für 2025 fest. Es sieht Ausgaben von 86,5 Milliarden und Einnahmen von 85,7 Milliarden Franken vor. Die Schuldenbremse in der Verfassung erlaubt den erwarteten Fehlbetrag aus konjunkturellen Gründen. Ein dreiwöchiges Ringen zwischen National- und Ständerat ging der Verabschiedung voraus. Besonders umstritten war, wie stark eine Erhöhung der Armeeausgaben durch Kürzungen bei der internationalen Zusammenarbeit kompensiert werden soll: also bei der Entwicklungshilfe, Beiträgen an multilaterale Organisationen und der wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Die Debatte drehte sich auch um die Rolle der Schweiz in einer unsicheren Welt (siehe Zitate). Mehrheitlich Konsens herrscht darüber, das Armeebudget auf 1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen. Uneinigkeit beMehr Landesverteidigung, weniger Auslandshilfe Die Schweizer Armee erhält mehr Geld, finanziert auch durch Einsparungen bei der internationalen Zusammenarbeit. Dies beschloss das Parlament in der Winter-Session nach hitzigen Debatten und langem Hin und Her. Das Parlament drängt auf eine rasche Stärkung der Armee. Im Bild: Bei einer Übung der Luftwaffe landeten am 5. Juni 2024 Kampfjets auf der Autobahn nahe Payerne (VD). Foto Keystone Stimmen aus der Debatte «Seit Jahrzehnten schicken wir Milliarden von Steuergeldern ins Ausland. Dieses Parlament ging nach dem Mauerfall davon aus, der ewige Frieden sei ausgebrochen. Die Sorglosigkeit holt uns nun ein.» LARS GUGGISBERG (SVP/BE) «Es kann nicht sein, dass die Armee einen zusätzlichen Blankocheck in der Höhe von einer halben Milliarde Franken erhält, ohne dass klar ist, wofür das Geld ver- wendet wird.» TAMARA FUNICIELLO (SP/BE) «Die Friedensdividende konnte in den vergangenen Jahren im Ausland eingesetzt werden, nun hat die Schweiz wieder in erster Priorität die eigenen Aufgaben zu erfüllen.» PETER SCHILLIGER (FDP/LU) «Es ist der falsche Weg, das Armeebudget um eine halbe Milliarde aufzustocken und gleichzeitig die humanitäre Tradition der Schweiz aufs Spiel zu setzen.» CORINA GREDIG (GLP/ZH) «Für ein kleines, neutrales Land wie die Schweiz ist eine umfassende Friedenspolitik die beste Sicherheitspolitik; sie zu vernachlässigen, ist unverantwortlich.» GERHARD ANDREY (GRÜNE/FR) «Schauen Sie in die Welt hinaus, wie die Schuldenkrise um sich greift. Finanziell geschwächte Staaten sind auch militärisch geschwächt. Die Bedeutung der Schuldenbremse kann man nicht hoch genug gewichten.» BENEDIKT WÜRTH (MITTE/SG) Schweizer Revue / Januar 2025 / Nr.1 Nachrichten
GERLIND MARTIN Isabel Bürgin webt, seit sie 1981 ihre Ausbildung zur Textildesignerin und Handweberin begonnen hat. Ihr Atelier in einem Hinterhaus im Basler Klybeck-Quartier ist hell und hoch und hat eine Geschichte: Früher haben hier ihr Grossvater und ein Onkel eine Zuckerbäckerei betrieben. Die Zuckerbäckerei und die Weberei seien Handwerke mit Tradition, sagt Isabel Bürgin. «Ich führe die Familiengeschichte weiter.» Ihr Atelier mit drei Webstühlen ist auch Büro und Showroom. Besucherinnen und Besucher können die bunt leuchtenden Teppiche, die farbigen Decken und flauschigen Schals ansehen, anfassen, sich informieren. In einem Laden zu sitzen und auf Kundschaft zu warten, wäre nichts für Isabel Bürgin. Sie muss wirken, werken, sich bewegen. «Ich bin eine Läuferin», sagt die agile Frau, die als Jugendliche Tänzerin werden wollte. Tägliche Fussmärsche regen die Künstlerin an: «Ein Geräusch, eine Farbkombination in den Kleidern einer Frau, die an mir vorbeiläuft, die Natur, Lichtstimmungen: Inspiration kann man nicht holen, dafür muss man offen sein.» Ihre Kreationen entwirft sie am Webstuhl. Sie probiert Muster aus, begutachtet, verwirft, verändert, experimentiert mit Farben und Garnen. So entsteht langsam das Muster, das sie später mit einer Websoftware verfeinert. «Die Ideen kommen aus dem Machen heraus», erklärt sie. «Ich setze das Handwerk in Bilder um.» Faszinierend – und zu schwierig In der Textilfachklasse an der Schule für Gestaltung in Basel lernte Isabel Bürgin weben. Allerdings verstand sie anfangs partout nicht, wie Weben technisch funktioniert. «Ich war fasziniert, aber es schien mir zu schwierig.» Doch als die damals sechs Studentinnen Blockunterricht erwirkten, änderte sich alles: Nun hatte sie genügend Zeit, sich in ihre jeweilige Aufgabe zu vertiefen. Ihr räumliches Vorstellungsvermögen bildete sich aus, sie vermochte in das Gewebe hineinzusehen. «Endlich begriff ich, wie Gewebe funktioniert. Damals hat es mich gepackt.» In ihrer Abschlussarbeit suchte Isabel Bürgin Antworten auf die Frage: Was möchte ich spüren, wenn ich blind wäre; wie könnte sich ein haptischer Fussweg anfühlen? «Damals webte ich meinen allerersten Teppich, einen Läufer.» Sie ahnte nicht, dass das Teppichweben sie 37 Jahre lang, Weberin Isabel Bürgin: «Die Ideen kommen aus dem Machen heraus» Die Weberei ist weltweit eine der ältesten Kulturtechniken. In der Schweiz betreiben mehrere Hundert Weberinnen und Weber das Handwerk – unter ihnen die Weberin und Textildesignerin Isabel Bürgin. ja wahrscheinlich länger, beschäftigen würde. «Es ist wirklich eine Leidenschaft geworden.» Keine Angst vor dem Scheitern 1986 gründete die 24-Jährige ihr eigenes Atelier. In der Tasche hatte sie den Lehrabschluss als Handweberin, das Diplom als Textildesignerin und ermutigende Erfahrungen aus ihrem Praktikum im Atelier des Designers Ulf Moritz in Amsterdam. Insbesondere die «holländische Art», spontan eigene Ideen auszuprobieren und keine Angst vor dem Scheitern zu haben, spornte sie an. Anfang der 1990er-Jahre gewann die junge Geschäftsfrau und Künstlerin zweimal das Eidgenössische Stipendium für angewandte Kunst vom Bundesamt Isabel Bürgin zeigt eine ihrer Kreationen: einen weichen und voluminösen Bodenteppich aus Schafwolle. Foto Lisa Schäublin Schweizer Revue / Januar 2025 / Nr.1 10 Portrait
für Kultur. Das erlaubte ihr, eine Weile ohne Geldsorgen zu arbeiten. In dieser Phase kreierte sie den Teppich ‹sch-nur-zufall› (eine Dialektabkürzung für: «Die Schnurfarbe ist nur Zufall») aus naturgrauem Ziegenhaar und farbiger Recyclingschnur. «Er ist die Basis meiner Kollektion.» Nun konnten Kaufinteressierte den Teppich anfassen und sich vorstellen, ihn zu Hause auf den Boden zu legen. Den ‹sch-nurzufall› webt sie bis heute mit Begeisterung. «Es ist jedes Mal hoch spannend, wie er herauskommt, weil die Schnurfarbe immer anders ist.» Decken und Schals zum Mitnehmen Seit Jahren stellt die Weberin ihre Produkte an Messen aus. Kaum jemand kauft bei dieser Gelegenheit allerdings spontan einen teuren Teppich. Besser verkaufen sich Produkte zum Mitnehmen: So entwickelte sie ihr vielfältiges, vielfarbiges Wolldecken-Programm. Zum Beispiel die in sieben Farben gewebte ‹wollok›-Decke mit beispiellos üppigen Fransen, ein «multifunktionales Körpermöbel, keine Kuscheldecke». Wichtig auch ihre Serien weich-wärmender, ebenfalls farbiger Schals. «Man muss es realistisch sehen», beantwortet Isabel Bürgin die Frage nach ihrem Verdienst. Um die gröbsten finanziellen Schlaglöcher ihrer Weberei abzudämpfen, habe sie während dreiundzwanzig Jahren Nebenjobs gemacht. Unter anderem leitete sie Workshops, unterrichtete an Kunsthochschulen; 2005 wurde sie an die Kunsthochschule Kassel berufen. Diese dreijährige Professur habe ihr alles abverlangt. Es war ihr letzter «Nebenjob». «Das Material spüren» Die unterschiedlichen Garne und Randabschlüsse, die Struktur, Dichte und Gestaltung tragen zur auffallenden Vielfalt ihrer Teppichkollektion bei. Dies, obwohl ihr Teppichwebstuhl nur zwei Schäfte hat. Eine Beschränkung, die sie zu höchster Kreativität herausfordert. Auch der Körper der Weberin ist gefordert: Ihr Teppichwebstuhl ist drei Meter breit! Die Weberin sitzt bei dieser Arbeit also nicht, vielmehr geht sie unablässig vor dem Webstuhl hin und her. Auch wenn der Schaftwechsel mit Druckluft unterstützt wird – das Teppichweben bleibt eine anstrengende ArDas Atelier in Basel (oben) ist gleichzeitig Büro und Showroom. In der Mitte steht das grösste Arbeitsinstrument: Der drei Meter breite Webstuhl erfordert intensiven Körpereinsatz. Nebst Schals und Decken sind Teppiche (unten) das wichtigste Produkt der Kollektion. Fotos Lisa Schäublin Neues Buch zum Weben in der Schweiz Das obige Porträt ist ein gekürzter Auszug aus dem kürzlich erschienenen Buch «Alle Fäden in der Hand. Weben in der Schweiz». Die Autorinnen porträtieren darin 13 Weberinnen und einen Weber aus drei Generationen: Die Älteste ist über 90 Jahre alt, die Jüngste hat vor kurzem die dreijährige Berufsausbildung zur Gewebegestalterin abgeschlossen. Ihre unterschiedlichen Erfahrungen und Arbeitsweisen zeigen das Potenzial des alten Handwerks auf. Zudem wird im Buch die Entwicklung des Handwebens der letzten gut 100 Jahre beschrieben – darunter die Bemühungen, das Handwerk nicht nur zu erhalten, sondern zu einem zeitgemässen und attraktiven Beruf weiterzuentwickeln. Schweizweit sind derzeit rund 650 Weberinnen und Weber einem Textilfachverband angeschlossen. Gerlind Martin, Regula Zähner (Hg.): Alle Fäden in der Hand – Weben in der Schweiz. 204 Seiten, 145 meist farbige Abbildungen, gebunden, 21 x 27 cm. © 2024 Christoph-Merian-Verlag. CHF 49.– / EUR 49,– ISBN 978-3-03969-035-0 beit. Manche raten ihr, ihre Produkte weben zu lassen. Ob dieser Vorstellung kann Isabel Bürgin nur lachen: «Das kommt gar nicht in Frage, das Weben ist doch grad etwas vom Schönsten! Mit den Händen arbeiten, das Material spüren!» Schweizer Revue / Januar 2025 / Nr.1 11
THEODORA PETER Nein, Nein und nochmals Nein: Der letzte Urnengang im Jahr 2024 endete für Regierung und Parlament mit einem herben Dämpfer. Die Schweizerinnen und Schweizer lehnten gleich drei von vier Vorlagen aus dem Bundeshaus ab: Nebst dem Ausbau der Autobahnen auch zwei Lockerungen im Mietrecht, gegen die der Mieterinnen- und Mieterverband auf die Barrikaden gestiegen war. Grünes Licht gab das Stimmvolk einzig zur Gesundheitsreform, die zu einer einheitlichen Finanzierung von Leistungen der Krankenversicherung führt. Weniger kritisch gegenüber den Behörden zeigte sich am 24. November die Fünfte Schweiz: Im Gegensatz zur Volksmehrheit befürworteten die Auslandschweizerinnen und -schweizer sowohl den Autobahn-Kredit wie auch eine der beiden umstrittenen Anpassungen im Mietrecht (siehe Grafiken). Sie folgten somit bei drei von vier Vorlagen der Haltung von Bundesrat und Parlament. Dies bestätigt den Trend, wonach die Fünfte Schweiz behördentreuer abstimmt. Linksgrüne Opposition erfolgreich Im Inland hingegen scheint das Vertrauen in die Behörden zumindest angeknackst. Im ersten Jahr der neuen Legislaturperiode gewann die Regierung lediglich sieben von zwölf Abstimmungen. Fünf Mal triumphierte 2024 die Linke – SP und Gewerkschaften insbesondere mit ihrer Stimmvolk stoppt Pläne für Autobahn-Ausbau Beim Urnengang vom 24. November 2024 lehnten die Stimmenden mit 52,7 Prozent Nein einen Fünf-Milliarden-Kredit zum Ausbau von Autobahnen ab. Auch beim Mietrecht stellte sich das Stimmvolk gleich zwei Mal gegen die Bundesbehörden. Kredit zum Ausbau der Nationalstrassen 0 5 1015202530354045 50 55 60 65 70 75 80 85 90 95 100 57,3% Schweizweit sprachen sich lediglich 47,3 Prozent für die geplanten sechs Ausbauten der Autobahnen aus. Im Gegensatz dazu sagte die Fünfte Schweiz mit 57,3 Prozent deutlich Ja zum Kredit – und blieb damit wie die Stimmenden in elf Kantonen in der Minderheit. Einheitliche Finanzierung von Leistungen der Krankenversicherung 0 5 1015202530354045 50 55 60 65 70 75 80 85 90 95 100 58.8% Eine Mehrheit von 53,3 Prozent gab grünes Licht für das neue Finanzierungsmodell im Gesundheitssektor. Noch deutlicher fiel das Ja der Fünften Schweiz aus. Insgesamt zeigte sich bei dieser Vorlage ein klarer Röstigraben zwischen der Romandie und der übrigen Schweiz. Auslandschweizer:innen Auslandschweizer:innen Ja-Stimmen in Prozent zur Änderung des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung (KVG) (Einheitliche Finanzierung der Leistungen) Ja-Stimmen in Prozent Bundesbeschluss über den Ausbauschritt 2023 für die Nationalstrassen Initiative zur Einführung einer 13. AHV-Rente («Revue» 3/2024). Diese linken Abstimmungserfolge sind bemerkenswert angesichts der Tatsache, dass das Parlament bei den eidgenössischen Wahlen vom Herbst 2023 markant nach rechts gerutscht war. Vor diesem Hintergrund ist das gleich dreifache Abstimmungs-Nein ein Signal an die Machtpolitik der bürgerlichen Parteien: SVP, FDP und Mitte, die in Regierung und Parlament den Ton angeben, wurden vom Volk lautstark zurückgepfiffen. Frauen autokritischer als Männer Am 24. November kehrten nebst der SP auch die Grünen auf die Siegerstrasse zurück. Mit ihrer Kampagne gegen den «masslosen» Autobahnausbau («Revue» 5/2024) traf das ökologische Lager offenbar einen Nerv in der Bevölkerung, wie eine Befragung nach der Abstimmung zeigte. Nebst Klima-Bedenken spielte demnach auch die Befürchtung eine Rolle, dass mehr Strassen noch mehr Verkehr bringen könnten. Dieses Argument der Gegner überzeugte vor allem die Frauen, die gar zu 60 Prozent Nein stimmten. Die Männer hingegen zeigten sich autofreundlicher: 56 Prozent nahmen den Kredit an, bei dem es aus Sicht der Befürworter lediglich darum ging, Engpässe auf ein paar Autobahn-Abschnitten auszumerzen. Möglicherweise hatte sich das Ja-Lager deswegen zu sicher gefühlt. Ihr Slogan «Für eine Schweiz, die vorwärtskommt» fand jedoch bei der Mehrheit kein Gehör. Schweizer Revue / Januar 2025 / Nr.1 12 Politik
Mietrecht I: Strengere Regeln für Untermiete 0 5 1015202530354045 50 55 60 65 70 75 80 85 90 95 100 53,6% Die Verschärfungen zu Lasten der Mietenden fanden national mit 48,4 Prozent keine Mehrheit. Die Fünfte Schweiz stimmte hingegen mit 53,6 Prozent Ja zu. Zum siegreichen Nein-Lager gehörte nebst der Westschweiz auch der bevölkerungsreiche Kanton Zürich. Mietrecht II: Einfachere Kündigung bei Eigenbedarf 0 5 1015202530354045 50 55 60 65 70 75 80 85 90 95 100 47,9% Diese zweite Anpassung des Mietrechts stiess mit nur 46,2 Prozent Ja auf noch weniger Gegenliebe. Auch die Fünfte Schweiz verweigerte dieser Lockerung zugunsten der Hauseigentümer die Unterstützung und gesellte sich zum Nein-Lager. Auslandschweizer:innen Ja-Stimmen in Prozent zur Änderung des Obligationenrechts (Mietrecht: Untermiete) Auslandschweizer:innen Ja-Stimmen in Prozent zur Änderung des Obligationenrechts (Mietrecht: Kündigung wegen Eigenbedarfs) Nach dem Nein des Volks sind zusätzliche Fahrspuren für die Autobahn A1 (im Bild der Abschnitt Bern Wankdorf) fürs Erste kein Thema mehr. Foto Keystone Der Politologe und Meinungsforscher Michael Hermann interpretierte das Nein zum Autobahn-Ausbau auch als Ausdruck eines «Wachstumsschmerzes». Viele Menschen hätten das Gefühl, die Schweiz wachse zu schnell: «Sie fürchten sich vor einer immer graueren, zubetonierten Schweiz», erklärte Hermann gegenüber den Tamedia-Zeitungen. Nach dem negativen Volksentscheid ist klar, dass es weitere Strassenbauprojekte schwer haben werden. Vom Tisch ist gemäss Verkehrsminister Albert Rösti (SVP) etwa ein durchgehender Gesamtausbau der Autobahn A1. Bundesrat und Parlament wollte die vielbefahrene Achse zwischen Lausanne und Genf sowie Bern und Zürich auf mindestens sechs Spuren erweitern. Volks-Ja einzig zur Gesundheitsreform Vorwärts geht es hingegen bei den Reformen im Gesundheitsbereich. Mit 53,3 Prozent Ja stellten sich die Schweizerinnen und Schweizer hinter die einheitliche Finanzierung von Leistungen der Krankenversicherung. Auch die Fünfte Schweiz befürwortete die Gesetzesänderung. Sie soll dazu führen, dass mehr Behandlungen ambulant und damit kostengünstiger durchgeführt werden. Davon erhoffen sich die Behörden Einsparungen von bis 440 Millionen Franken. Bei dieser Abstimmung gingen die Gewerkschaften für einmal als Verlierer vom Platz. Sie hatten die Vorlage unter anderem mit dem Argument bekämpft, dass es zu Abstrichen bei der Qualität der Pflege und den Arbeitsbedingungen des Personals kommen könnte. Denkzettel für Hauseigentümer-Lobby Beim Mietrecht hingegen bleibt alles beim Alten. Mit 51,6 Prozent Nein lehnte das Stimmvolk strengere Regeln für Untermiete aus – die Fünfte Schweiz stimmte der Gesetzesänderung vergeblich zu. Ziel der Vorlage war es, Missbräuche zu bekämpfen. So hätten Mieterinnen und Mieter für jegliche Weitervermietung explizit eine schriftliche Zustimmung der Eigentümerschaft einholen müssen. Nun bleibt es wie bisher bei einer blossen Auskunftspflicht. Etwas deutlicher fiel das Nein (53,8 Prozent) zu einer einfacheren Kündigung bei Eigenbedarf ab. Auch in Zukunft müssen Hausbesitzende somit nachweisen, dass sie eine Wohnung oder ein Haus «dringend» für sich oder nahe Verwandte benötigen, wenn sie einen bestehenden Mietvertrag auflösen wollen. Auch die Fünfte Schweiz wollte diese Regelung nicht zu Gunsten der Hauseigentümer lockern. Der siegreiche Mieterinnen- und Mieterverband rüstet sich bereits für neue Abwehrschlachten. Noch am Abstimmungssonntag drohte er Referenden an, sollte das Parlament weitere «Verschlechterungsvorlagen» beschliessen – zum Beispiel bei der Festlegung der Mietzinse. Kommt es so weit, wird erneut das Volk das letzte Wort haben. Schweizer Revue / Januar 2025 / Nr.1 13
Als Kinder investierten wir unser erstes Sackgeld in Süssigkeiten am Kiosk, von Cola-Fröschchen bis Caramel-Stängel, allen Ermahnungen der Eltern zum Trotz. Als Erwachsene kauften wir Zeitungen, Zeitschriften, Zigaretten. Wir füllten den Lottozettel aus und träumten vom Jackpot, der nie kam. Die Kioskverkäuferinnen und -verkäufer erkannten sofort, ob man plaudern wollte oder nicht. Ein neues Buch, «Kiosk – Ein Kaleidoskop», würdigt die alltäglichen Verkaufshäuschen im Quartier, am Bahnhof oder im Einkaufszentrum auf gelungene Weise. Mit einem Hauch Nostalgie, da der klassische Kiosk in der Schweiz am Verschwinden ist. Tabakwaren, Zucker und gedruckte Zeitungen sind weniger gefragt als in den Kiosk-Blütezeiten des 20. Jahrhunderts. Die grösste Kioskbetreiberin Valora betreibt heute noch 800 Filialen mit erweitertem Angebot, darunter Take-away-Essen und Aufladen von Powerbanks. Das schön gestaltete Buch zeigt den guten alten Kiosk aber auch mit dem frischen Blick von Kulturpublizistik-Studierenden, Digital Natives, und ordnet ihn kultur-, konsum- und architekturgeschichtlich ein. Die Texte und rund hundert Abbildungen fangen die Kiosk-Athmosphäre treffend ein. Etwa, wenn die Herausgebenden schreiben, der Kiosk sei ein Ort, «wo die Nachrichten der Welt gestapelt aufeinanderliegen». Und «wo Hastige und Schlaflose den Tag beginnen». SUSANNE WENGER Kioske: Bunte Orte der Erinnerungen, neu betrachtet Plattform Kulturpublizistik, Zürcher Hochschule der Künste «Kiosk – Ein Kaleidoskop», Limmat-Verlag 2024. 208 Seiten, CHF 38 (in deutscher Sprache) Zahlenlotto und der Traum vom Hauptgewinn: Glücksspiele gehören zum Kiosk-Angebot und werden rege genutzt. Fussball-Tauschbilder, Zigaretten, Zeitschriften: Kiosk-Verkäuferin Dora Meier 1976 in Niederbipp (SO). Ein legendäres Schweizer Bonbon: das Cola-Fröschli. 14 Gesehen
Ästhetische Symmetrie der Warengestelle, fotografisch eingefangen im Buch über das Phänomen Kiosk. Alle Fotos Limmat Verlag In den Verkaufshäuschen überlagern sich Marken, Gegenstände und Kulturen. Ein flüchtiger Ort, schon fast liebevoll eingerichtet: Kioske 15
SUSANNE WENGER Wer den «Unter-Emmentaler» im bernischen Huttwil besucht, wird von einer Mitarbeiterin der Schürch Druck & Medien AG durch die laute Druckerei geführt. Eine steile, verwinkelte Holztreppe im hinteren Teil des Gebäudes führt zur Redaktion und zu einem kleinen Sitzungszimmer mit Porträts der Gründerfamilie an der Wand. Das 1875 gegründete Unternehmen ist bis heute in Familienbesitz. Als der «Unter-Emmentaler» kürzlich eine Redaktionsstelle ausschrieb, bezeichnete er sich als «eine der letzten unabhängigen Lokalzeitungen der Schweiz». An diesem Novembernachmittag sind die meisten Arbeitsplätze leer, die Journalistinnen und Journalisten im Schneetreiben unterwegs. Sechs Redaktionsmitglieder teilen sich 510 Stellenprozente und füllen mit zehn freien Mitarbeitenden zwei Ausgaben pro Woche. Das Verbreitungsgebiet umfasst Teile des Emmentals und des Oberaargaus im Kanton Bern sowie des Luzerner Hinterlandes. Walter Ryser, ein erfahrener Lokaljournalist, kennt die Gegend bestens. «Ein guter Nährboden» Als Leiter Medien beim Unternehmen berät Ryser die Geschäftsleitung strategisch und verfasst Artikel für den «Unter-Emmentaler». Daneben betreibt er eine kleine Werbeagentur und engagiert sich in Kultur- und Sportvereinen. Er beschreibt die Region als «ländlich-konservativ» und sagt: «Hier werden Traditionen bewahrt, das Leben verläuft gemächlich – ein guter Nährboden für Lokaljournalismus.» Aber auch die Stadt Langenthal gehört heute zum «Die Leute wollen wissen, was in ihrem Dorf passiert» Schweizer Medienkonzerne kürzen unter wirtschaftlichem Druck beim Lokaljournalismus. Das wird zum Problem für die Demokratie. Doch der 150-jährige «Unter-Emmentaler» berichtet weiterhin aus den Gemeinden – und trotzt erfolgreich der Krise. Einzugsgebiet. «Schon zwischen Langenthal und Huttwil liegen Welten», erklärt Rysers Kollege Thomas Peter, Redaktionsleiter des «Unter-Emmentalers». Vielfalt auf kleinem Raum, typisch für die Schweiz. «Journalistisch ist das ein Balanceakt», sagt Peter. Doch die Zeitung meistert ihn bewusst. «Wir machen, was die grossen Verleger vernachlässigen: echten Lokaljournalismus», betont Ryser. Er spricht damit die Entwicklung der letzten zwanzig Jahre an. Die Schweiz zeichnete sich lange durch eine fein verästelte Medienlandschaft aus, ein bedeutender Teil der föderalen Struktur. Doch seit der Jahrtausendwende lässt die Digitalisierung das Geschäftsmodell der Zeitungsverlage einbrechen. Sparrunden und Fusionswellen trafen besonders den Lokaljournalismus. Viele Titel verschwunden Mindestens 70 Titel verschwanden zwischen 2003 und 2021. Die Blätter wurden eingestellt oder in zentral gesteuerte Redaktionen grösserer Medienunternehmen integriert. Zu diesen gehört die Zürcher Tamedia, die auch Titel im Kanton Bern und der Romandie besitzt. Letzten Herbst verkündete Tamedia einen erneuten markanten Stellenabbau und weitere Zusammenlegungen. Ziel sei es, mit den grössten publizistischen Titeln digital zu wachsen, so das Unternehmen. In betroffenen Regionen von Genf bis Winterthur wurde heftige Kritik laut. Auch die Region Emmental-Oberaargau spürt den Schwund: Das einst eigenständige «Langenthaler Tagblatt», das schon seit einigen Jahren nur noch als Split-Ausgabe der «Berner Zeitung» erscheint, geht jetzt vollständig in diesem Tamedia-Titel auf. Walter Ryser, der publizistische Verantwortliche beim «Unter-Emmentaler», war früher Chefredaktor des «LanRedaktionssitzung beim «Unter-Emmentaler»: Das Team übt Blattkritik und legt die neuen Themen fest. Oben am Tisch: Walter Ryser. Foto ZVG «Hier werden Traditionen bewahrt»: Huttwil im Kanton Bern, wo der «Unter-Emmentaler» seit seinen Anfängen produziert wird. Foto Keystone Redaktionsleiter Thomas Peter. Foto ZVG Schweizer Revue / Januar 2025 / Nr.1 16 Gesellschaft
genthaler Tagblatts». Er hielt es immer für einen gravierenden Fehler, die Lokalberichterstattung zurückzufahren: «Ich staune, wie sehr man Medien am Volk vorbei produziert», sagt er, «die Leute wollen doch wissen, was in ihrem Dorf passiert.» Es gebe ein Bedürfnis nach lokalem Qualitätsjournalismus, und in diesen hat das Huttwiler Unternehmen in den letzten Jahren investiert: die Redaktion leicht aufgestockt, den Radius der Berichterstattung erweitert. Beim «Unter-Emmentaler» heisst es weiterhin: «Print First». Die Website und der Facebook-Account dienen dazu, für die Zeitung zu werben. Kraftakt der Redaktion Ausführliche Beiträge zu aktuellen Lokalnachrichten machen 80 Prozent des redaktionellen Inhalts aus: In Melchnau bleibt die Dorfkäserei erhalten, in Huttwil wird um den Gemeindebeitrag zur Eishalle gerungen, in Affoltern entsteht ein Feuerwehrmuseum. Die Redaktion erbringt viele Eigenleistungen. Sie besucht Veranstaltungen, porträtiert Menschen, interviewt Persönlichkeiten aus der Region. Zudem ist sie an jeder Gemeindeversammlung präsent, wo die Stimmberechtigten über lokale Vorlagen entscheiden. Es sind wichtige Organe der direkten Demokratie in der Schweiz. Mehr als 40 Gemeindeversammlungen abzudecken, ist ein Kraftakt. «Doch wir wollen diesen Service leisten», sagt Redaktionsleiter Thomas Peter. Studien zeigen: Wenn keine Medien mehr über das Leben eines Ortes und seiner Bewohnerinnen und Bewohner berichten, sinkt die politische Beteiligung, und der soziale Zusammenhalt nimmt ab. Fehlen unabhängige Lokalmedien, steigt zudem die Korruption. Für umfangreiche Recherchen hat der «Unter-Emmentaler» laut Peter nicht genügend Kapazitäten. Akteure «mit Dreck bewerfen» und Konflikte schüren will man ohnehin nicht. Bei kontroversen Themen werden Fakten und Positionen dargestellt, damit Leserinnen und Leser sich eine Meinung bilden können. Allzu Angriffiges tolerieren diese kaum, Proteste in Lausanne gegen Abbaupläne des Zürcher Medienhauses Tamedia. Die Westschweiz ist stark betroffen (12. September 2024). Foto Keystone Der neue Dorfladen in einer kleinen Gemeinde ist dem «Unter-Emmentaler» einen Artikel auf der Titelseite wert (Ausgabe 6.12.2024). weiss Walter Ryser: «Wir bekommen sofort Reaktionen, das entspreche nicht dem Stil der Zeitung.» Auflage gesteigert Der «Unter-Emmentaler» besteht am Markt. Rund 4700 Personen bezahlen gemäss aktuell beglaubigter Auflage für ein Abonnement, die Zahl konnte in den letzten Jahren erhöht werden, entgegen dem allgemeinen Trend. Dadurch bleiben auch die lokalen Inserenten der gedruckten Zeitung treu, die Einnahmen sind laut den Verantwortlichen zufriedenstellend. Alle zwei Wochen wird eine Grossauflage von 20 000 Exemplaren gestreut. Als Printverlag profitiert das Huttwiler Unternehmen zudem von subventionierter Postzustellung. Wie ist der Erfolg eines kleinen Traditionsblatts mitten in Medienkrise und digitaler Transformation möglich? «Bei solchen Zeitungen funktioniert das Geschäftsmodell noch, Post CH AG, AZ 4950 Huttwil UNTER-EMMENTALER SCHÜRCH DRUCK & MEDIEN | E-MAIL UE@SCHUERCH-DRUCK.CH | TELEFON 062 959 80 70 DIE ZEITUNG FÜR DEN OBERAARGAU, DAS EMMENTAL UND DAS LUZERNER HINTERLAND Erscheint Dienstag und Freitag. Jeden zweiten Freitag regionale Grossauflage HEUTE GROSSAUFLAGE 23 918 EXEMPLARE 149. Jahrgang, Nummer 97 Einzelpreis Fr. 1.50 FREITAG, 6. DEZEMBER 2024 www.unter-emmentaler.ch URSENBACH Neuer Dorfladen in ehemaliger Bäckerei In der ehemaligen Dorfbäckerei Schär in Ursenbach wird am Samstag, 7. Dezember, ein neuer Dorfladen eröffnet. Hinter dem Projekt steht eine Genossenschaft, an der zahlreiche Einwohnerinnen und Einwohner beteiligt sind, mit dem Ziel, dass Lebensmittel und Produkte für den täglichen Bedarf weiterhin im Dorf bezogen werden können. Von Walter Ryser Es war ein herber Schlag für Ursenbach, als diesen Sommer die Bäckerei Schär nach über 125 Jahren den Betrieb definitiv einstellte, weil die Inhaber Ursula und Heinz Schär trotz intensiver Suche keinen Nachfolger für fanden. Geblieben ist den Ursenbacherinnen und Ursenbachern ihre Käserei, die seither in kleinem Rahmen und auf Vorbestellung Brot anbietet, daneben aber nicht über die nötige räumliche Kapazität verfügt, um in der Käserei einen Dorfladen zu betreiben, wie Niklaus Leuenberger, Präsident der Käsereigenossenschaft, gegenüber dem «Unter-Emmentaler» zu verstehen gab. Der Verlust der Bäckerei hat die Dorfbewohner beschäftigt, so auch Denise Richard, die bereits ein Jahr vor der Schliessung Kontakt mit den damaligen Bäckers-Leuten aufnahm. Die 40-jährige therapeutische Masseurin und vierfache Mutter trug den Gedanken mit sich herum, in der ehemaligen Bäckerei einen Dorfladen zu realisieren. «Nach dem Gespräch mit Heinz und Ursula Schär habe ich diesen Gedanken aber wieder verworfen, weil ich feststellen musste, dass ich das nicht alleine realisieren kann.» Über 100 Anteilscheine gezeichnet Doch der Gedanke habe sie nicht mehr losgelassen. Auch andere Dorfbewohner wie Gemeinderätin Nicole Zaugg hatten die gleiche Idee und als Denise Richard die Gemeinderätin in dieser Angelegenheit kontaktierte, kam alles ins Rollen. Die beiden begeisterten weitere Ursenbacherinnen und Ursenbacher für ihre Idee. «Alle, die wir anfragten, sagten spontan zu», zeigt sich Nicole Zaugg erfreut über die grosse Solidarität gegenüber dem Projekt «Dorflade». In einem ersten Schritt wurde abgeklärt, wer hinter dem Dorfladen stehen soll und welche Rechtsform dafür geschaffen werden muss. Dabei habe man sich auch bei anderen Dorfläden erkundigt. Letztendlich fiel der Entscheid, eine Genossenschaft «Ursenbacher Dorflade» zu gründen, die als Betreiberin auftritt. Nicht weniger als neun Personen traten als Gründungsmitglieder in Erscheinung, Niklaus Leuenberger übernahm das Präsidium der neuen Genossenschaft. Mittlerweile sind bereits über 100 Anteilscheine à 100 Franken gezeichnet worden. Auch die Gemeinde unterstützt dieses Projekt mit einer grosszügigen Spende. Aber auch die Liegenschaftsbesitzer Heinz und Ursula Schär stehen diesem Projekt wohlwollend gegenüber und unterstützen dieses mit einem Mieterlass in den ersten Monaten sowie anschliessend mit einem moderaten Mietzins. Starthilfe für Kundschaft Mit dem Geld wurde in den letzten Wochen der bestehende Laden erneuert und angepasst. Weiter wurde ein Kassensystem angeschafft, Mobiliar beschafft und Werbung für den neuen Dorfladen gemacht, der am Samstag, 7. Dezember, als «SelbstbedienungsDorfladen» eröffnen wird und über ein Grundangebot an Brot, Backwaren, Sandwiches, Käsereiprodukten aus der Dorfkäserei, Früchten, Gemüse, Beeren, Fleischwaren, Eiern, Getreideprodukten, Honig, Glacen, Kaffee, Getränken und Geschenkartikeln verfügen wird. Für die Kundschaft bietet die Genossenschaft eine sogenannte Start-Hilfe, mit betreuten Ladenzeiten den ganzen Dezember (Dienstag, 9 bis 10 Uhr; Donnerstag, 15 bis 16 Uhr und Samstag von 9 bis 10 Uhr). Vor allem ältere Bewohnerinnen und Bewohner dürften über dieses Angebot froh sein, damit ihnen zu Beginn jemand bei der Abwicklung des Einkaufs, aber vor allem beim Bezahlsystem behilflich ist. Geöffnet ist der neue Dorfladen jeweils von Montag bis Sonntag, von 6 bis 20 Uhr. Um Diebstählen vorzubeugen, wird der Laden videoüberwacht. Jeden Morgen wird eine Person der Genossenschaft die Warenlieferungen entgegennehmen, die Regale dementsprechend mit neuen Waren bestücken und allgemeine Reinigungs- und Aufräumarbeiten erledigen, damit die Kunden wieder frische Waren in genügender Anzahl vorfinden. Etliche Personen hätten in den letzten Wochen und Monaten sehr viel Herzblut und ein grosses Engagement in dieses Projekt gesteckt, zeigt sich Niklaus Leuenberger erfreut über den intakten Dorfgeist in Ursenbach. Aber der Präsident der Genossenschaft macht sich nichts vor und ist Realist: «Es nützt am Ende nichts, wenn sich alle über den neuen Dorfladen freuen, funktionieren tut dieses Projekt nur dann, wenn die Ursenbacherinnen und Ursenbacher auch hier einkaufen.» Profitieren vom neuen Angebot werden laut Gründungsmitglied Manuel Weyermann zweifellos auch die Bewohner der Nachbargemeinden Walterswil und Oeschenbach und nicht zuletzt Touristen und Tages-Ausflügler, die auf der Durchreise ins Emmental sind. «Gerade diese Kunden haben das Angebot der Bäckerei Schär jeweils geschätzt», erinnert sich der 28-jährige Landwirt. In den ersten Monaten gehe es nun darum, Erfahrungen zu sammeln, das Sortiment allenfalls anzupassen und Feedbacks der Kundschaft einzuholen, um anschliessend das Projekt «Dorflade» zu optimieren und das Angebot unter Umständen anzupassen. «Wir sind überzeugt, dass dieser Laden unserem Dorf einen Mehrwert bietet und deshalb auch entsprechend genutzt wird», freuen sich die Gründungsmitglieder auf den Start. Eröffnen am 7. Dezember in der ehemaligen Bäckerei Schär einen neuen Selbstbedienungs-Dorfladen: Die Gründer der Genossenschaft «Ursenbacher Dorflade» (stehend von links): Niklaus Leuenberger, Esther Heiniger, Manuel Weyermann, Fritz Steiner. Vorne (von links): Denise Richard, Nicole Zaugg und Anja Güdel. Auf dem Bild fehlen: Kathrin Leuenberger und Nicole Plüss. Bild: zvg HUTTWIL Neues Erholungsgebiet Im Zuge der Hochwasserschutzmassnahmen im Kammernmoos ist ein neues Erholungsgebiet mit Teich entstanden. Seite 3 WYSSACHEN Klimapreis für Loosli AG Damit hat Matthias Loosli nicht gerechnet: Der Berner Unternehmerpreis Klima und Energie 2024 geht an die Loosli AG. Seite 5 EISHOCKEY Brandis ist Tabellenführer Der EHC Brandis liegt nach acht Siegen in neun Spielen an der Tabellenspitze der 2. Liga. Trainer Thomas Fasel berichtet. Seite 19 ZEIT FÜR EINE NEUE WEBSEITE? UE 37883 Tel. 034 435 15 45 | ekaffoltern.ch persönlich. unabhängig. sicher. UE 37895 ADRIAN WÜTHRICH Gemeindepräsident Huttwil ab 1.1.2025 Herzlichen Dank für Ihr Vertrauen. Für unser Huttwil! Falls Sie meine Tätigkeit als Gemeindepräsident verfolgen wollen, folgen Sie mir auf Instagram: @adrianwuethrich SP_Huttwil_AW_Danke_2024_55x80.indd 1 04.12.24 16:54 UE 39201 BURGDORF/KANTON BERN «Lädere» definitiv nicht in Burgdorf Die Technische Fachschule, im Volksmund «Lädere» genannt, zieht nicht von Bern nach Burgdorf. Das Berner Kantonsparlament ist auf das vor Jahren an die Stadt Burgdorf abgegebene Versprechen zurückgekommen und hat das Projekt von der Investitionsliste gestrichen. Finanzdirektorin Astrid Bärtschi verwies auf die grossen Investitionen, die der Kanton in den kommenden Jahren tätigen muss. Um das alles finanziell noch stemmen zu können, brauche es eine Verzichtsplanung. «Wir können uns nicht mehr alles leisten», sagte die Regierungsrätin. Bärtschi räumte ein, dass bereits über 14 Millionen Franken in das mittlerweile baureife Vorhaben geflossen sind. Diese abzuschreiben sei nicht schön, räumte die Regierungsrätin ein. Unter dem Strich entlaste der Verzicht auf das Projekt aber den Kanton Bern. Die Gegner der Streichung warfen der Regierung Wortbruch vor. Ein vor Jahren gegebenes und mehrfach bestätigtes Versprechen einfach mit einem einzigen Federstrich zu bodigen, untergrabe das Vertrauen der Bevölkerung in die Politik. SP-Grossrat und Burgdorfer Stadtpräsident Stefan Berger sagte, dass ein so ausgereiftes und schweizweit einzigartiges Bildungsprojekt nicht einfach so weggespart werden dürfe. Das wäre verantwortungslos, auch mit Blick auf die Wirtschaft, die auf Fachkräfte angewiesen sei. SVP-Grossrat Martin Lerch sprach von einem «veritablen Affront», dass der Kanton Millionen in den Sand setzen wolle. Noch nie sei im Kanton ein so weit fortgeschrittenes Projekt einfach abgeschossen worden. Am Ende fällte der Grosse Rat mit 74 zu 77 Stimmen und 4 Enthaltungen einen hauchdünnen Entscheid gegen den Umzug der «Lädere» nach Burgdorf. Der Kanton soll Burgdorf nach der Streichung des Bildungscampus-Projekts ein anderes Zückerchen geben, forderte eine weitere Planungserklärung. Allenfalls könnte die eben erst nach Deisswil gezogene Schule für Gestaltung nach Burgdorf weiterziehen. Davon riet Finanzdirektorin Astrid Bärtschi allerdings ab. In Deisswil laufe ein Zehnjahresvertrag für die Miete der Räume und ein Umzug nach Burgdorf wäre zu teuer. sda Schweizer Revue / Januar 2025 / Nr.1 17
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