Schweizer Revue 1/2025

weitergeht.» Gottfried ist ein Genussmensch, und er findet, dass die Beziehungen zwischen Männern und Frauen schwieriger geworden sind. «Ich traue mich nicht mehr, eine mir unbekannte Frau anzusprechen oder sie auch nur schon richtig anzuschauen», sagt er. Es gibt nicht viele Möglichkeiten für 60-Jährige, sich zu treffen, wobei Tinder mittlerweile einen Teil davon abdeckt. Gottfried kennt «viele Frauen, die ein Profil auf dieser Plattform haben. Im wirklichen Leben würde ich aber nie mit ihnen über das Tabuthema Einsamkeit sprechen», sagt er. Alles in allem findet er, dass sich sein Leben ohne Partnerschaft verschlechtert hat. «Zu zweit konnten wir Probleme miteinander teilen und besprechen.» So träumt er von einer neuen Liebesbeziehung in einer Lebensphase, in der der Körper schwächer wird und die Eltern sterben. Alleinstehende Frauen zuerst In Basel leben rund 75% der Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger allein oder in einer Institution, wie das Departement für Wirtschaft, Soziales und Umwelt mitteilt. Die Zahl der Einpersonenhaushalte nimmt zu, auch bei den Jüngeren. In Basel-Stadt verlässt zudem ein Teil der Familien mit Kindern die Stadt, um in eine ruhigere Umgebung zu ziehen. «Der Kanton fördert Infrastrukturen und Angebote, die auf dieses Publikum zugeschnitten sind», sagt Melanie Imhof, Sprecherin des Präsidialdepartements. Professor Luca Pattaroni vom Labor für Stadtsoziologie an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL) erklärt: «Viele gut ausgebildete Frauen zögern den Zeitpunkt für ein Leben zu zweit hinaus.» Die Immobilienbranche reagiert auf diese Bedürfnisse, indem sie «CoLiving»-Bereiche wie Einpersonenzimmer in Gebäuden mit Gemeinschaftseinrichtungen schafft. Thomas Pfluger ist Leiter von «connect!», einem nationalen Programm zur Bekämpfung der Einsamkeit. Er sagt: «Wenn in der Stadt voneinander getrennte Wohnungen ohne Räume für Begegnungen gebaut werden, schränkt dies die KontaktmöglichkeiLeben viele alleine, werden Begegnungen draussen im öffentlichen Raum wichtig, wie hier im belebten Kulturzentrum Kaserne Basel. Foto Keystone ten noch weiter ein.» Luca Pattaroni nennt das Beispiel der Genossenschaften, die Gemeinschaftsräume in ihren Gebäuden schaffen, sowie Orte des Zusammenlebens wie die sogenannten Cluster. Das sind Wohnungen, in denen ausgestattete Studios um Gemeinschaftsräume herum gruppiert werden. «Einsamkeit kann in die Depression führen. Sie steht im Fokus unserer Sorge um die psychische Gesundheit», ergänzt der Professor der EPFL. Ist Basel die Schweizer Hauptstadt der Einsamkeit? «Die Baslerinnen und Basler bezeichnen sich selbst als ein Volk der Tradition und der Begegnung», sagt Thomas Pfluger und verweist auf den Erfolg der Fasnacht und der Herbstmesse. *Vorname der Redaktion bekannt Einsamkeit trifft nicht nur Senioren: In Basel-Stadt leben in einem Drittel der Single-Haushalte Menschen zwischen 20 und 40 Jahren. Schweizer Revue / Januar 2025 / Nr.1 22 Reportage

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