Schweizer Revue 2/2025

APRIL 2025 Die Zeitschrift für Auslandschweizer:innen Kleinräumig und grossartig: Das kulinarische Erbe der Schweiz In der Beziehungskrise zwischen der Schweiz und der EU naht die Stunde der Wahrheit Holzhäuser, die am Himmel kratzen: Die Schweiz zimmert gerade neue Weltrekorde

Ein Stück Heimat schenken! Unsere Sommer- & Winterlager verbinden junge Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer mit ihrer Heimat - voller Abenteuer, Freundschaft und einzigartiger Erlebnisse. Jetzt spenden und unvergessliche Momente ermöglichen. Unsere Partner: Ein Stück Heimat schenken! Unsere Sommer- & Winterlager verbinden junge Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer mit ihrer Heimat - voller Abenteuer, Freundschaft und einzigartiger Erlebnisse. Jetzt spenden und unvergessliche Momente ermöglichen. Unsere Partner: Über Grenzen hinweg. Wir bleiben die nahe Bank für Auslandschweizerinnen und schweizer. Wir bieten Ihnen eine persönliche und professionelle Betreuung, die höchsten Qualitätsansprüchen genügt.

Neulich schilderte mir ein Freund, was geschähe, wenn wir alle Gräben zuschütten würden. Er löste damit Bilder aus, die schwer zu vergessen sind. Würde man nämlich in der Schweiz alle Alpengipfel abtragen, alle Täler füllen und das ganze Land mit mächtigen Bulldozern einebnen, entstünde eine Hochebene, die etwa 1300 Meter über Meer läge. Wirklich spannend würde es aber erst, wenn sich die Nachbarländer zur gleich groben Landschaftsbereinigung entschlössen. Es gibt dazu eine ziemlich sinnlose, aber akribisch errechnete «Liste der Länder nach durchschnittlicher Höhe»: Das auf seinen Durchschnitt eingemittete Deutschland käme auf keine 300 Meter, Frankreich auf 400, Italien auf 500, Österreich auf 900, Liechtenstein auf 1100. Will heissen: In einem Europa der plattgewalzten Länder stünden wir an der Grenze der Schweiz überall an einer unglaublich hohen Klippe. Niemand könnte uns das Wasser reichen. Eine steile Felswand von rund 1000 Metern trennte uns von unseren nördlichen Nachbarn. Warum sich dieses Bild festsetzt? Wir wissen alle, dass die Schweizer Landesgrenze oft gar nicht wahrnehmbar ist. Zu Fuss lässt sich diese imaginäre Trennlinie ohne Absturzgefahr überqueren. Wer etwa im Jura wandern geht, weiss nicht immer, in welchem Land er gerade ist. Trotzdem wird in der Schweiz in den nächsten Monaten leidenschaftlich darüber diskutiert, ob die Schweiz eine von trennenden Klippen gesäumte Nation ist – oder eben überhaupt nicht. Nach schier endlos scheinendem Ringen steht jetzt nämlich in Grundzügen fest, wie die Schweiz und die Europäische Union ihre gegenseitigen Beziehungen festigen und pflegen wollen. Es geht um viel. Um den Alltag der Menschen, die ein Europa der offenen Grenzen – also die Personenfreizügigkeit – schätzen; um die Perspektiven Studierender, um Handel, um Versorgung, um Energieflüsse – und auch um Zuwanderung. Und es gilt jetzt, Farbe zu bekennen, wie viel Nähe die Schweiz zur EU will, ohne aber deren Mitglied zu werden. Wir vertiefen das Thema in diesem Heft. Weichen stellen können auch die Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer. Der Auslandschweizerrat (ASR), das De-facto-Parlament der Fünften Schweiz, wird neu bestellt. Viele können erstmals per E-Voting bestimmen, wen sie in den ASR delegieren wollen. Der Rat wird dadurch repräsentativer. Er ist künftig besser legitimiert, für die Anliegen der Fünften Schweiz einzutreten. MARC LETTAU, CHEFREDAKTOR Zur Länderliste nach durchschnittlicher Höhe: www.revue.link/klippe 4 Schwerpunkt Die Schweiz und die EU wollen jetzt ihre Beziehungskrise überwinden 9 Nachrichten Nach dem Credit-Suisse-Debakel geht das Ringen um strengere Regeln weiter 10 Gesellschaft Hunderte von Spezialitäten prägen das kulinarische Erbe der Schweiz Der Bundesrat legt ein Gesetz vor, das Nazi-Symbole verbieten will 14 Reportage Mit Holz in die Höhe: Hölzerne Wolkenkratzer sind der neuste Trend Nachrichten aus Ihrer Region 18 Schweizer Zahlen Die Europameisterinnen im Bücherlesen kommen – aus der Schweiz 20 Gelesen Volksabstimmungen verändern die Schweiz – auch die Fünfte Schweiz 22 Gehört Meimuna, eine sanfte Stimme in einer stürmischen Welt 24 Sport Die helvetischen Fussballerinnen zieht es auf die ganz grosse Bühne 28 Aus dem Bundeshaus Marianne Jenni, neue Direktorin der Konsularischen Direktion, im Interview 31 SwissCommunity-News Die hohen Klippen Titelbild: Althergebrachte Spezialitäten aus dem Appenzell. Illustration aus dem neuen Buch «Das kulinarische Erbe der Schweiz», Echtzeit-Verlag, Basel Herausgeberin der «Schweizer Revue», des Informationsmagazins für die Fünfte Schweiz, ist die Auslandschweizer-Organisation. Ina Invest/Implenia Schweizer Revue / April 2025 / Nr.2 3 Editorial Inhalt

4 Schwerpunkt THEODORA PETER Aussenminister Ignazio Cassis (FDP) sprach von einem «wichtigen Meilenstein», als der Bundesrat kurz vor Weihnachten die frohe Botschaft vom Abschluss der Verhandlungen mit der EU verkündete. «Gute Beziehungen zur EU und zu unseren Nachbarstaaten sind gerade in diesen sehr unruhigen Zeiten wichtig», sagte Cassis vor den Medien. Aus Brüssel war zuvor eigens EUKommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nach Bern gereist, um die Bedeutung des Vertragsabschlusses zu untermauern. «Wir sind uns so nah, wie man sich nur sein kann», sagte von der Leyen und sprach vor den Kameras von einer Partnerschaft «auf Augenhöhe». Das Vertragspaket mit der EU beinhaltet eine Erneuerung von fünf bisherigen Verträgen sowie drei neue Abkommen zu Strom, Gesundheit und Lebensmittelsicherheit. Der Annäherung war eine längere Beziehungskrise vorausgegangen. Vor drei Jahren hatte der Bundesrat die Verhandlungen für einen institutionellen Rahmenvertrag ergebnislos platzen lassen («Revue» 4/2021). Die DiffeIn der Europa-Frage naht die Stunde der Wahrheit Die Schweiz und die Europäische Union (EU) möchten ihre Beziehungskrise überwinden. Nach zähen Verhandlungen liegt ein erneuertes Vertragspaket auf dem Tisch. Doch innenpolitisch bleibt die bilaterale Annäherung umstritten. Das letzte Wort wird das Stimmvolk haben. renzen waren unüberbrückbar – etwa beim Lohnschutz oder dem Aufenthaltsrecht von EU-Bürgerinnen und -Bürgern in der Schweiz. Die EU reagierte entsprechend verstimmt und piesackte die Schweiz unter anderem mit einer Degradierung beim prestigeträchtigen Forschungsprogramm Horizon Europe («Revue» 5/2022). «Grösster Handelsplatz der Welt» Nach einer Denkpause nahmen beide Seiten die Verhandlungen vor Jahresfrist wieder auf. Zweihundert Verhandlungsrunden später liegt ein erneuertes Vertragspaket vor. Es führt den vor 25 Jahren eingeschlagenen, bilateralen Weg weiter. Kernstück bleibt die hindernisfreie Teilnahme am EU-Binnenmarkt, «dem grössten Handelsplatz der Welt», wie Cassis betonte. Allein die Schweiz und die EU handeln jeden Tag Waren und Dienstleistungen im Gesamtwert von weit über einer Milliarde Franken. «Unser Wohlstand hängt davon ab.» Der Zugang zu einem Wirtschaftsraum mit rund 500 Millionen Konsumierenden hat seinen Preis: In den Jahren 2030–2036 soll die Schweiz dafür jährlich 350 Millionen Franken zahlen. Dieser sogenannte Kohäsionsbeitrag fliesst nicht in die EU-Kasse, sondern dient der Entwicklung wirtschaftlich schwacher EU-Staaten. Bisher zahlte die Schweiz 130 Millionen Franken pro Jahr. Nebst dem Zugang zum EU-Binnenmarkt gehört die sogenannte Personenfreizügigkeit zum Herzstück der bilateralen Abkommen. Sie gibt der Bevölkerung das Recht, in einem anderen Land des Wirtschaftsraums zu arbeiten und zu leben. Die freie Wahl von Wohn- und Arbeitsort ist für die über 500000 in Europa lebenden AuslandDie Schweiz und die EU handeln jeden Tag Waren und Dienstleistungen im Gesamtwert von weit über einer Milliarde Franken. Schweizer Revue / April 2025 / Nr.2 4 Schwerpunkt

5 schweizerinnen und Auslandschweizer von existenzieller Bedeutung. Im Gegenzug können EU-Bürgerinnen und -Bürger in der Schweiz eine Stelle suchen und sich hier niederlassen. Ausnahmen für den Sonderfall Schweiz Bei den Neuverhandlungen kam Brüssel den Schweizer Sonderinteressen entgegen. Zum Beispiel dürfen EUBürgerinnen und -Bürger nur dann dauerhaft in der Schweiz bleiben, wenn sie einer Arbeit nachgehen. Damit soll verhindert werden, dass Personen aus der EU einzig wegen der im Vergleich besseren Sozialleistungen in die Schweiz einwandern. Ausgehandelt wurde zudem eine sogenannte «Schutzklausel»: Demnach dürfte die Schweiz die Zuwanderung bei «schwerwiegenden wirtschaftlichen oder sozialen Problemen» eigenständig beschränken. Wann und wie dieser Mechanismus greifen soll, ist noch offen und wird innenpolitisch noch viel zu reden geben. Ein weiterer Knackpunkt bleibt der Lohnschutz. Auch künftig gilt europaweit das Prinzip: gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort. Das sichert das hohe Schweizer Lohnniveau und verhindert, dass Firmen aus der EU in der Schweiz Arbeiten zu Dumpingpreisen anbieten. Nicht akzeptieren wollen die Gewerkschaften aber die Übernahme der EU-Spesenregelung, die auf dem Herkunftsland der entsandten Arbeitnehmenden basiert. Demnach würde ein polnischer Arbeiter, der auf eine Schweizer Baustelle geschickt wird, für Übernachtung und Verpflegung nur so viel Geld erhalten, wie er in Polen dafür ausgeben müsste. Als «grotesk» erachtet diese Regelung auch der Schweizer Arbeitgeberverband. Die Sozialpartner wollen Bundesrat und Parlament deshalb dazu bringen, per Gesetz festzuschreiben, dass nicht nur bei den Löhnen, sondern auch bei den Spesen die Schweizer Tarife gelten. Illustration Max Spring Schweizer Revue / April 2025 / Nr.2

Für den Gewerkschaftsbund ist dies eine der Bedingungen, damit er sich bei einer kommenden Volksabstimmung hinter die EU-Verträge stellen wird. Bis zum Sommer will der Bundesrat die offenen Fragen klären und anschliessend zum Gesamtpaket, inklusive Gesetzesänderungen, eine Vernehmlassung durchführen. Das Parlament beugt sich ab 2026 über das EU-Dossier, eine Volksabstimmung wird kaum vor dem Jahr 2028 stattfinden – möglicherweise sogar erst nach den nächsten nationalen Wahlen 2027. Fundamentalopposition von rechts Bei den Parteien löste der neue Deal mit der EU gemischte Gefühle aus. Einzig die Grünen und die Grünliberalen stellten sich bereits klar hinter die Verträge. Auf linker Seite pocht die SP zusammen mit den Gewerkschaften auf innenpolitische Zusicherungen – sowohl beim Lohnschutz wie auch beim Service Public. Bei der FDP, der Partei von Aussenminister Ignazio Cassis, gab man sich nach Bekanntgabe des Verhandlungsabschlusses ebenfalls zurückhaltend. «Wir jubeln die Verträge weder hoch, noch verdammen wir sie», hiess es bei der liberalen Partei, die den bilateralen Weg der Schweiz bislang vorbehaltlos unterstützt hatte. Man wolle die neuen Verträge zunächst genau prüfen. Auch die Mitte zeigte sich wenig euphorisch, sprach jedoch von einem «klaren Fortschritt» gegenüber dem 2021 gescheiterten Rahmenabkommen. Die Zurückhaltung im bürgerlichen Lager hat nicht zuletzt mit dem massiven Widerstand der SVP zu tun. Die rechtskonservative Partei, die jede Annäherung an die EU ablehnt, stemmt sich mit allen Kräften gegen den «Unterwerfungsvertrag», weil die Schweiz in vielen Bereichen EU-Recht übernehme (Statement von SVP-Nationalrätin Magdalena Martullo-Blocher Seite 7). Auch stört sich die SVP an der «unkontrollierten» Einwanderung. 2020 scheiterte die Partei jedoch mit einer «Begrenzungsinitiative» an der Urne: Die Volksmehrheit wollte damals die Personenfreizügigkeit nicht aufs Spiel setzen. Nun nimmt die SVP einen neuen Anlauf: Mit der 2024 eingereichten «Nachhaltigkeitsinitiative» fordert sie, dass in der Schweiz bis 2050 höchstens 10 Millionen Menschen leben dürfen. Derzeit liegt die Zahl der ständigen Wohnbevölkerung bei 9 Millionen. Die brisante Initiative kommt voraussichtlich 2026 an die Urne – mitten in der parlamentarischen Debatte über die bilateralen Verträge. Ein Volks-Ja dürfte er2025 Vernehmlassung zum Vertragspaket und zu den flankierenden Massnahmen in der Schweiz 2026 • Beratung der EU-Verträge sowie Gesetzesänderungen im eidgenössischen Parlament. • Voraussichtlich Volksabstimmung über die SVP-Initiative «Keine 10-Millionen-Schweiz» 2027 Eidgenössische Wahlen für National- und Ständerat 2028 Voraussichtlich Volksabstimmung über die neuen EU-Verträge Die freie Wahl von Wohn- und Arbeitsort ist für die über 500000 in Europa lebenden Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer von existenzieller Bedeutung. neut zu einer schweren Beziehungskrise mit der EU führen. Während die SVP jegliche Verträge mit der EU lautstark bekämpft, fehlt es der Befürworterseite noch an Zugkraft. In der Pflicht stehen – nebst den politischen Parteien – insbesondere die Wirtschaftsverbände wie Economiesuisse, die bei früheren Abstimmungen zu den Bilateralen I und II jeweils ihr ganzes Gewicht in die Waagschale warfen. Erst einzelne Wirtschaftsvertreter, wie der Solothurner Unternehmer und FDP-Nationalrat Simon Michel (siehe Statement Seite 7), stellen sich mit Überzeugung hinter die Bilateralen III. Damit die Verträge mehrheitsfähig sind, braucht es aus Sicht des Politologen Fabio Wasserfallen, Professor für europäische Politik an der Universität Bern, «eine breite und klare Ansage, dass diese Verträge für die Schweiz wichtig sind». Ohne ein solches Bekenntnis von Wirtschaft, Sozialpartnern und Parteien sei nachvollziehbar, weshalb der Bundesrat zögerlich agiere und nicht alleine die Führungsrolle übernehmen wolle. «Ich habe den Eindruck, dass beim EU-Dossier einmal mehr auf Zeit gespielt wird.» Ob dies eher den Befürwortern oder den Gegnern nützt, bleibt offen. Sicher ist, dass früher oder später alle Akteure Farbe dazu bekennen müssen, wie die Beziehung zu den europäischen Nachbarn geregelt wird. Zum Dossier: www.revue.link/eudo Schweizer Revue / April 2025 / Nr.2 6 Schwerpunkt

Kontra «Der EU-Vertrag ist für die Schweiz ein Unterwerfungsvertrag: Er verpflichtet die Schweiz, in wichtigen Bereichen wie Handel, Land-/Luftverkehr, Energie, Lebensmittel, Gesundheit, Finanzen, Zuwanderung und Bildung alles heutige und zukünftige EU-Recht zu übernehmen. Übernehmen wir es nicht, verfügt die EU Strafen gegen uns, der europäische Gerichtshof entscheidet abschliessend. Die EU-Bürokratie ist uferlos: Tausende Seiten von Richtlinien müssten wir bereits heute übernehmen. 150 Beamte schreiben zurzeit unsere Verfassung und unsere Gesetze um. Für all das müssen wir noch Milliarden bezahlen! Dabei steckt die Fehlkonstruktion EU bereits im Untergang. Eine hohe Teuerung, eine immense Verschuldung und Massenentlassungen lassen ihre Bürger und Unternehmen verzweifeln. Die Schweiz würde sich dem tieferen Niveau der EU anpassen und müsste ihre bewährte Demokratie aufgeben. Das wollen wir nicht! Wir müssen es auch nicht. Mit ihrer Innovationskraft, ihrer Stabilität und ihrer Neutralität ist die Schweiz international ein gefragter Partner. Sie setzt seit Jahrzehnten auf Freihandelsverträge und hat mit 33 Abkommen viel mehr als die EU. So konnten neue Abkommen mit Indonesien, Korea, Thailand, dem Kosovo und Indien abgeschlossen werden. Mit den Mercosur-Staaten sowie mit Japan, China und den USA sind weitere in Verhandlung. Keines dieser Länder verlangt von der Schweiz die Übernahme ihres Rechtssystems! Den Kolonialvertrag der EU muss die Schweiz zurückweisen. Der Wind steht für die Schweiz weltweit gut, setzen wir unsere eigenen Segel!» «Der Wind steht für die Schweiz weltweit gut, setzen wir unsere eigenen Segel!» «Eine gute Beziehung zur EU ist nicht nur aus wirtschaftlicher Sicht wichtig.» Pro «Ein Hoch auf die gute Nachbarschaft: Haben Sie an einem sonnigen Sommertag auch schon einmal Ihren Rasen bis nach 20 Uhr gemäht? Oder hat einer Ihrer Gäste sein Fahrzeug auf den Parkplatz des Nachbarn gestellt? Wie dankbar ist man in einem solchen Fall, wenn nicht sofort eine Schimpftirade losgeht oder gar die Polizei gerufen wird. Es lohnt sich, in eine gute Nachbarschaft zu investieren. Im Sozialen fördert sie den Zusammenhalt im Quartier und damit auch die gegenseitige Nachbarschaftshilfe. Und der Immobilienwert ist in einem guten Quartier höher als in einem zerstrittenen. Was für unsere direkte Nachbarschaft gut ist, das kann doch auch für unser Land im europäischen Kontext nicht komplett verkehrt sein. Eine gute Beziehung zur Europäischen Union ist nicht nur aus wirtschaftlicher Sicht wichtig, sondern ebenfalls gesellschaftlich sinnvoll: Auch hier können wir von Vorteilen auf der sozialen, praktischen und sicherheitspolitischen Ebene profitieren – und dabei immer noch uns selber sein, unsere Identität, unsere eigenen Regeln, Bräuche und Gesetze behalten. Die bilateralen Verträge bilden die Basis dieser guten Nachbarschaft. Diese wollen wir nach 25 Jahren wieder kitten und stärken, denn uns fehlen zum Beispiel ein gemeinsames Stromabkommen oder Regeln für die Streitbeilegung. Eine gute Nachbarschaft und klare Regeln zwischen der Schweiz und der EU zu haben, bedeutet noch lange nicht, dass wir deren Gesetze und Rechte unreflektiert übernehmen müssen. Die Schweiz wird auch mit den Bilateralen III ihre Identität und Selbständigkeit behalten.» Simon Michel am Hauptsitz des Unternehmens Ypsomed in Burgdorf. Michel ist CEO der Ypsomed Holding und Solothurner FDP-Nationalrat. Foto Keystone Magdalena Martullo-Blocher, Unternehmerin, Graubündner Nationalrätin und Vizepräsidentin der SVP, demonstriert eine Pipette während der Bilanzmedienkonferenz 2025 der EMS-Gruppe. Foto Keystone Schweizer Revue / April 2025 / Nr.2 7

Amherd geht, Süssli geht, Dussey geht: Im VBS mehren sich die Herausforderungen Im Verteidigungsdepartement (VBS) bleibt derzeit kein Stein auf dem anderen. Im Januar kündigte Bundesrätin Viola Amherd, oberste VBS-Chefin, ihren Rücktritt an (siehe Seite 26). Und im Februar wurde publik, dass auch Armeechef Thomas Süssli und Christian Dussey, Chef des Nachrichtendienstes des Bundes, den Hut nehmen. Zuvor hat sich bereits der Kommandant der Luftwaffe, Peter Merz, entschieden, die Armee zu verlassen. Die Abgänge bedeuten, dass der am 12. März 2025 gewählte Nachfolger Amherds, der neue Bundesrat Martin Pfister (ZG), sehr bald eine Reihe wichtiger Personalentscheide zu fällen hat. (MUL) Finanzkontrolle deckt im Schweizer Rüstungskonzern RUAG Betrug auf Im bundeseigenen Rüstungskonzern RUAG soll ein betrügerisches System mit dem Kauf und Verkauf von Ersatzteilen für Leopard-Panzer den Staat «im hohen zweistelligen Millionenbereich» geschädigt haben. Dies legt ein Untersuchungsbericht der Eidgenössischen Finanzkontrolle (EFK) nahe, der im Februar publiziert wurde. Der Bericht nennt auch fehlende und ungenügende Kontrollen. Laut EFK herrsche in der RUAG eine «fragwürdige Kultur» vor und sie rügt «schwere organisatorische Versäumnisse». In schiefem Licht erscheint auch die Rolle des Verteidigungsdepartements (VBS). Dieses erfuhr bereits 2019 durch einen Whistleblower von Missständen, reagierte aber laut EFK «in nicht nachvollziehbarer Weise». (MUL) Der Bundesrat anerkennt «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» an Jenischen und Sinti Das «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» nahm zwischen 1926 und 1973 rund 600 jenische Kinder ihren Eltern weg und «versorgte» sie zwangsweise in Heimen und bei Pflegefamilien. Kirchliche Hilfswerke und Behörden taten Gleiches, weshalb von rund 2000 Betroffenen ausgegangen wird. Viele von ihnen wurden im Erwachsenenalter zudem unter Vormundschaft gestellt, mit einem Eheverbot belegt oder gar zwangssterilisiert. Der Bundesrat räumt nun gestützt auf ein Rechtsgutachten ein, dass dies alles ein an den Jenischen und Sinti begangenes «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» sei und anerkennt die Mitschuld der Behörde. Die Betroffenen selbst hatten eine Einstufung als «kulturellen Genozid» gefordert. Zum Gutachten: www.revue.link/jenische (MUL) Direktorin Ariane Rustichelli verlässt die ASO, Lukas Weber folgt an ihre Stelle Ariane Rustichelli tritt im April als Direktorin der Auslandschweizer-Organisation (ASO) zurück (mehr auf Seite 34). Just bei Redaktionsschluss wurde bekannt, dass der ASO-Vorstand Lukas Weber als ihren Nachfolger gewählt hat. Die «Revue» wird Weber in ihrer nächsten Ausgabe vorstellen. Bereits publiziert ist das Communiqué der ASO zu seiner Wahl: www.revue.link/weber (MUL) Germaine Seewer Die ranghöchste Frau in der Schweizer Armee heisst Germaine Seewer. «Sie ist sogar die ranghöchste Frau in der Schweizer Militärgeschichte», sagt Armee-Sprecherin Delphine Schwab-Allemand. Divisionär Seewer ist seit dem 1. August 2024 Chefin Internationale Beziehungen Verteidigung im Armeestab. Ihr Dienstgrad würde in anderen Armeen dem eines Generalmajors entsprechen. Ihre Aufgabe? Die Beziehungen zu ausländischen Armeen leiten und koordinieren. Die Berufssoldatin war die erste Brigadierin der Schweizer Armee. Danach leitete sie die höhere Kaderausbildung. Sie stellt in zweierlei Hinsicht eine Ausnahme dar: Sie bekleidet einen Dienstgrad, der traditionell Männern vorbehalten war, und sie gehört zu den nur 1,6 % Frauen in der Schweizer Armee. Im März 2024 waren insgesamt 2301 Frauen Angehörige der Armee. Die in Leuk (VS) geborene Germaine Seewer studierte Chemie an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich und schloss ihre Doktorarbeit zum Thema Qualität von Schweinefleisch und -fett ab. Danach war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Nutztiere tätig. Ihre Karriere in der Armee begann sie 1998. In der Zwischenzeit ist sie viel in der Welt herumgekommen und nahm etwa an Einsätzen im Kosovo, in Äthiopien und in Eritrea teil. 2009 fiel ihr Name als potenzielle Chefin der Armee. Schliesslich erhielt aber der Deutschschweizer Thomas Süssli den Posten. Germaine Seewer lebt immer noch im Wallis. Sie liebt die Berge so sehr, dass sie am Gebirgslauf «Patrouille des Glaciers» teilnimmt. Was macht ihre Person sonst noch aus? Diskretion und Zurückhaltung. Eine Ausnahme? Sie befürwortete den Frauenstreik von 2019 und bezeichnete ihn als «notwendig», ohne jedoch selbst auf die Strasse zu gehen STÉPHANE HERZOG Foto Herbert Zimmermann/13Photo Schweizer Revue / April 2025 / Nr.2 8 Herausgepickt Nachrichten

9 SUSANNE WENGER Mitte März 2023 blickte die Welt nervös auf den Finanzplatz Schweiz: Die Credit Suisse (CS) kämpfte trotz eines Notkredits der Nationalbank mit Liquiditätsproblemen, die global systemrelevante Bank taumelte. Mit der staatlich verfügten Fusion von CS und UBS verhinderten Finanzministerin Karin Keller-Sutter, die Finanzmarktaufsicht (FINMA) und die Nationalbank «unter immensem Druck» eine internationale Finanzkrise, wie die parlamentarische Untersuchungskommission (PUK) in ihrem Ende 2024 veröffentlichten Bericht festhält. Die 14-köpfige Kommission unter dem Präsidium der Freiburger Mitte-Ständerätin Isabelle Chassot beschreibt ausführlich, wie die Behörden auf die sich ab Herbst 2022 zuspitzende Lage der Bank reagierten. Sie prüften auch Alternativen zur Notfusion, darunter die bankrechtliche Sanierung, den Konkurs und eine vorübergehende Verstaatlichung der CS. Als sich die Ereignisse im Frühjahr 2023 überschlugen, kam die von den Behörden favorisierte Übernahme durch die UBS zustande, abgesichert durch Milliardengarantien des Bundes. Für die PUK eine «im Grossen und Ganzen» angemessene Lösung, auch wenn ein Risiko für die Steuerzahlenden bestand. Die Kommission macht klar: Der Beinahe-Kollaps der einst soliden Bank geht auf «jahrelanges Missmanagement des CS-Verwaltungsrates und der CS-Geschäftsleitung» zurück. Der Bericht zeigt, wie CS-Vertreter bis zuletzt mit den Behörden um Konditionen feilschten – das Wort «Pokerspiel» fällt. Doch die PUK untersuchte auftragsgemäss nicht das Verhalten der Bankmanager, sondern die Geschäftsführung der Bundesbehörden. Nicht alle schneiden dabei gut ab. Kritik an Ueli Maurer Die PUK sieht Mängel in der Krisenprävention und -früherkennung. Bundesrat und Parlament haben nötige Instrumente der «Too-Big-to-Fail»-Regelung, die nach der UBSRettung 2008 eingeführt wurde, zu zögerlich umgesetzt und kaum weiterentwickelt. Als die CS in Schieflage geriet, informierte der damalige Finanzminister Ueli Maurer das Bundesratskollegium nur unzureichend, eine Krisensitzung sagte er kurzfristig ab. Seiner Nachfolgerin KellerSutter übergab er Ende 2022 kein schriftliches Dossier. Maurer wies die Vorwürfe Anfang 2025 zurück. Es sei darum gegangen, Leaks zu verhindern, die die Bank zusätzlich gefährdet hätten. Die FINMA hatte seit 2015 mehrfach bei der CS interveniert und Verbesserungen gefordert, konnte sich aber laut PUK nicht durchsetzen. Auch ahndete die FINMA Fehlverhalten von CS-Führungskräften nicht, obwohl Verfahren liefen. 2017 gewährte sie der Bank einen «regulatorischen Filter», eine Erleichterung, die das Kapitalpolster grösser erscheinen liess, als es tatsächlich war. Die Nationalbank hatte davon abgeraten. Mehr Eigenkapital? Welche Lehren zieht die Politik nun aus der Aufarbeitung, um künftigen Risiken und Folgen für die Allgemeinheit vorzubeugen? Die PUK fordert unter anderem, die FINMA mit Sanktionsmöglichkeiten zu stärken. Allgemein plädiert sie dafür, der Finanzstabilität «mehr Gewicht» zu geben und dabei die «bedeutende Grösse» der fusionierten UBS zu berücksichtigen. Konkret zur Debatte stehen höhere Anforderungen an das Eigenkapital der nunmehr einzigen global operierenden, systemrelevanten Schweizer Bank, damit diese Verluste im Ausland selbst auffangen könnte. Die Massnahme ist umstritten. Mitte-links-Parteien befürworten sie angesichts der «XXL-Bank» UBS, während Bürgerliche vor der Konsequenz einer möglichen Abwanderung der Bank warnen. UBS-Chef Sergio Ermotti lehnt eine höhere Kapitalisierung ab, was Medien zum Machtkampf mit Finanzministerin Keller-Sutter stilisierten. Wie weit der Bundesrat geht, zeigt sich voraussichtlich bis zum Frühsommer. Zuvor wollte das Parlament im März den PUK-Bericht beraten. Nach zwei dramatischen Rettungsaktionen innerhalb von 15 Jahren streitet die Schweiz erneut über die Regulierung ihrer Banken. Welche Lehren zieht die Schweiz aus dem Credit-Suisse-Debakel? Die Führung der Credit Suisse ist für den Untergang der Bank verantwortlich, doch die Behörden machten bei der Aufsicht Fehler. So lautet das Fazit einer parlamentarischen Untersuchung. Nun wird um die strengere Regulierung der fusionierten Grossbank UBS gerungen. Die PUK unter Präsidentin Isabelle Chassot kritisiert «jahrelanges Missmanagement» der CS. Foto Keystone Link zum Bericht der PUK: www.revue.link/cspuk Schweizer Revue / April 2025 / Nr.2 Nachrichten

Das kulinarische Erbe der Schweiz birgt Entdeckungen Eine neue, inspirierende Enzyklopädie präsentiert Hunderte kulinarische Spezialitäten aus verschiedenen Regionen der Schweiz und erzählt die Geschichten dahinter. Damit wertvolles Wissen nicht vergessen geht. Und weil ein Land sich auch über sein Essen erklärt, wie der Autor Paul Imhof betont. «nach nuancierten Rezepten», wie Imhof sagt: «Ein einstiges Produkt der ‹Cucina povera›, der Armenküche, ist zur gefragten Spezialität geworden.» Auf Spurensuche Warum und wie erforscht man ein kulinarisches Erbe? Vor 25 Jahren SUSANNE WENGER Der über 700 Seiten starke Band beschreibt 453 Produkte – vom Alpenbitter bis zum Zigerkrapfen. Was soll man hervorheben aus der Fülle? Fragen wir den Autor selbst. Paul Imhof nennt die «Chèvre», einen «Bauernchampagner» aus der Romandie, für ihn «eine wahre Entdeckung». Das mindestens drei Generationen alte Getränk wird heute noch von einzelnen Winzern vorab im Genfer Hinterland während der Weinlese hergestellt. Imhof besuchte einen von ihnen und liess sich zeigen, wie leicht angegorenem Traubensaft Reismehl, Traubenzucker, Schnaps und Vanilleschoten beigefügt werden. Die Mischung gärt mindestens einen Monat im Fass, das mit Stahlreifen gesichert ist – «sonst würde es explodieren». Pünktlich zu Silvester ist der ländliche Schaumwein fertig. Frisch gezapft, schiesst die weisse Flüssigkeit zischend aus dem Hahn, fast wie Ziegenmilch aus dem Euter, daher wohl der Name Chèvre. Eine weitere Trouvaille ist für Imhof der «Furmagin da Cion» aus dem Val Poschiavo, dem italienischsprachigen Tal im Kanton Graubünden. «Cion» bedeutet im Puschlaver Dialekt Schwein, «Furmagin» kleiner Käse. Doch handelt es sich nicht um ein Milchprodukt, sondern um eine deftige Fleischpastete. Früher stellte jede Familie während der Hofschlachtung ihren eigenen Furmagin her, aus Fleischresten, auch Innereien, und buk ihn wie einen Kuchen im Ofen. «From Nose to Tail», heute ein Trend, war damals selbstverständlich. Metzgereien im Puschlav produzieren den Furmagin noch immer, inzwischen «Die kulinarische Kraft der Schweiz liegt in den Regionen»: Hier eine kunstvoll arrangierte Genfer Auswahl, mit der «Chèvre» im Trinkglas. Fotos Echtzeit Verlag, ZVG Aus den Bündner Südtälern: Die Coppa-Wurst als altes Produkt der Hausschlachtung, und Pizzoccheri, Teigwaren aus Buchweizen- und Weizenmehl. Schweizer Revue / April 2025 / Nr.2 Gesellschaft 10

PAUL IMHOF: «Das kulinarische Erbe der Schweiz – Ein Panoptikum des Ess- und Trinkbaren» Echtzeit-Verlag, Basel, 2024, 776 Seiten, 78 CHF. Schweizer Schokolade darf natürlich nicht fehlen, die Freiburger Marke Cailler ist die älteste des Landes. brachte der Waadtländer Nationalrat Josef Zisyadis von der Partei der Arbeit das Thema ins Rollen. «Er wollte mit seinem Vorstoss verhindern, dass die kulinarischen Traditionen der Schweiz und das Wissen um ihre Herstellung in Vergessenheit geraten», erklärt Imhof. Bundesrat und Parlament stimmten zu, ein Team von Fachleuten begann im Auftrag von Bund und Kantonen mit der Arbeit. Es durchstöberte Bibliotheken und Archive, sprach mit Produzentinnen und Produzenten und dokumentierte Produkte, Herstellungsprozesse, Rezepte. 2008 erschien das Ergebnis online unter www.patrimoineculinaire.ch. Paul Imhof, heute 72, war von Anfang an dabei. Der Journalist übernahm es, aus dem akribischen Online-Inventar einen lesbareren Führer in Buchform zu machen. Bis 2016 erschienen fünf Bände, einige sind vergriffen. Sein neustes Werk ist eine aktualisierte Gesamtausgabe. Neu aufgenommen wurden Produkte, die inzwischen die Voraussetzung erfüllen, seit mindestens 40 Jahren erhältlich zu sein – etwa der Tessiner Reis, ein Zeichen des Klimawandels, wie Imhof anmerkt. Der Autor schreibt vergnügt und gehaltvoll. Er ergänzt die vorgestellten Produkte mit historischen Fakten und lebendigen Anekdoten aus eigener Recherche. Nach Kantonen gegliedert, lädt das Buch zu einer lehrreichen Reise durch die kulinarische Landschaft der Schweiz ein. Diese besticht durch Vielfalt, geprägt von den Kulturräumen, die hier aufeinandertreffen: französisch, kontinental, italienisch-mediterran, dazu die rhätische Eigenheit. Ein Nationalgericht gibt es laut Imhof deshalb nicht: «Die kulinarische Kraft der Schweiz liegt in den Regionen.» Topografie als Ideengeberin Die hügelige Landschaft und die Kleinräumigkeit beeinflussten jedoch die Zutaten. Vor der Begradigung der Flüsse war Ackerland knapp. Die weit verbreitete Viehwirtschaft machte die Schweiz zur «Meisterin der Konservierung», wie Imhof feststellt: Milch wurde als Käse haltbar gemacht, Fleisch als Wurst und Trockenfleisch. So entstanden Vorräte, die zugleich handelbar waren. Der Sbrinz etwa, «der älteste Schweizer Exportkäse», gelangte früh über Säumerwege in die Städte des Südens, Glarner Schabziger auf den Markt in Zürich. «Ein Land erklärt sich immer auch über sein Essen», sagt Imhof. Für ihn ist das kulinarische Erbe der Schweiz «ein überquellender Schatz, der von grossem Einfallsreichtum zeugt». Jahrhundertealte Lebkuchenrezepte und das gesunde Birchermüesli gehören genauso zu den Erbstücken wie jüngere Industrieprodukte – etwa die Kult gewordene gelbe Streuwürze Aromat und die Milchserum-Limonade Rivella. In Zeiten von Fertigessen, Zusatzstoffen und Food-Inszenierungen auf Social Media hält Imhof die Besinnung auf Ursprünge «wichtiger denn je». Es Schweizer Revue / April 2025 / Nr.2 11

gehe auch um die Leistungen jener, «die den Boden des guten Essens zuerst bestellt haben: Bäuerinnen, Mägde und später Köchinnen». Oder um die Kreativität der Metzger, die im Verlauf der Jahrhunderte über 400 Wurstsorten ertüftelten, von denen nur ein Bruchteil im Buch Platz findet. Ihre traditionellen Produkte stärken auch heute allen «Handwerkern des Guten» den Rücken, meint Imhof. Den populären Cervelat übrigens ordnet er dem Kanton Solothurn zu. Nicht weil die geräucherte Brühwurst dort erfunden wurde, sondern weil das zentral gelegene Olten bis in die 1980er-Jahre entscheidend zu ihrem Erfolg beitrug: Der Wurstsalat im Oltner Bahnhofbuffet wurde nach Sitzungen von Verbänden, Parteien, Gewerkschaften und Vereinen im ganzen Land gerühmt. Wein vom Gletscher Einen Blick in die alte Wanderwirtschaft der Walliser Seitentäler bietet der Eintrag zum «Vin du Glacier». Bauern des 18. Jahrhunderts bauten im damals sumpfigen Rhonetal Reben an, pressten die Trauben und trugen den Wein in ihre hochgelegenen Dörfer. Dort, in kühler Höhenlage, etwa neben dem Gletscher Glacier de Moiry oberhalb von Grimentz, lagerten sie ihn lange in Gemeinde- oder Familienfässern, ohne dass er verdarb. Jedes Jahr wurde nachgefüllt. Die heutige Bürgerschaft von Grimentz besitzt noch einige dieser Fässer. «Das älteste, das Bischofsfass von 1886, enthielt 2022 eine Assemblage aus mehr als 130 Jahrgängen», berichtet Imhof. Er durfte den Gletscherwein probieren, dieser schmecke wie Sherry. Imhof selbst war in den 1980er- und 1990er-Jahren Auslandschweizer, als er für die «Basler Zeitung» aus Südostasien berichtete. In Singapur beobachtete er, wie Schweizer Küchenchefs in Hotels gerne mit heimischen Produkten kochten und sich beispielsweise Rahm oder Schokolade liefern liessen. «Auslandschweizerinnen und -schweizer tragen ihren Teil zum Erhalt des kulinarischen Erbes bei», sagt er. Letzte Frage an den Autor: Gibt es, wenn sich Auslandschweizer-Vereine weltweit immer wieder zum Fondue treffen, vielleicht doch ein Nationalgericht? Wenn man unbedingt eines haben wolle, bleibe nach allem das Fondue übrig, antwortet Imhof. Die Käsevielfalt gehöre zur Schweiz, und was man in der Kindheit gegessen habe, präge den Geschmack fürs Leben. Aus Schaffhausen: die Streuwürze Aromat, die Hallauer Schinkenwurst und die «Schaffhauserzungen», eine geschützte Marke seit 1902. Fotos Echtzeit Verlag, ZVG Bern wartet im Bild mit prächtigem Bauernschinken, Sauerkraut und trockenen, aber nahrhaften Militärbiscuits auf. Schweizer Revue / April 2025 / Nr.2 Gesellschaft 12

Schweizer Revue / April 2025 / Nr.2 13 Gesellschaft Nazi-Symbole sollen nun doch verboten werden Auf Druck des Parlaments legt die Schweizer Landesregierung ein Gesetz vor, mit dem das öffentliche Zeigen von Symbolen wie Hakenkreuz oder Hitlergruss rasch untersagt werden soll. SUSANNE WENGER Wer in der Schweiz öffentlich ein nationalsozialistisches Symbol verwendet, macht sich heute nur strafbar, wenn eine propagandistische Absicht damit verbunden ist oder eine Personengruppe herabgesetzt wird. Neu soll auch das reine Zurschaustellen verboten sein. Wer sich nicht daran hält, wird mit 200 Franken gebüsst. So sieht es ein Spezialgesetz vor, das der Bundesrat Ende 2024 in die Vernehmlassung geschickt hat. Er setzt damit Vorstösse aus dem Parlament um, wo das geltende Recht zunehmend unter Druck geraten ist. 2022 sprach sich auch der Auslandschweizerrat dafür aus, die Gesetzeslücke zu schliessen, auf Antrag seines Mitglieds Ralph Steigrad (siehe «Schweizer Revue» 3/2022). vom Verbot sollen für schulische, wissenschaftliche, künstlerische oder journalistische Zwecke gelten. Auch existierende religiöse Symbole etwa des Hinduismus, die dem Hakenkreuz ähneln, fallen nicht unter das Verbot. Die Aargauer Mitte-Ständerätin Marianne Binder setzt sich im Parlament am längsten für Nulltoleranz gegenüber Nazi-Symbolen ein. Sie begrüsst das Vorgehen des Bundesrats und sagt gegenüber der «Schweizer Revue», der Rechtsstaat dürfe die Verherrlichung oder Verharmlosung der NS-Zeit und ihrer «kranken Ideologie» keinesfalls dulden. Die Sanktionierung durch Bussen hält Binder für eine «schnelle und effiziente Massnahme», doch 200 Franken sind für sie «zu milde». Zusätzlich sollten die Gebüssten in die Geschichtsnachhilfe geschickt werden, findet die Parlamentarierin, deren Grossmutter Paulina Borner im Zweiten Weltkrieg im Hotel «Rosenlaube» im Städtchen Baden jüdischen Flüchtlingen Schutz bot. Mit dem Verbot der Nazi-Symbole würde die Schweiz gemäss Ständerätin Binder ein Zeichen setzen in einer Zeit, in der «autokratisches Gedankengut wieder salonfähig» werde. Die Vernehmlassung zum neuen Spezialgesetz dauerte bis Ende März, nach Redaktionsschluss dieser Ausgabe der «Schweizer Revue». Nach der Auswertung der Stellungnahmen will der Bundesrat eine Vorlage in die parlamentarische Beratung schicken. Später will er in einem zweiten Schritt das Gesetz ausweiten und, wie vom Parlament verlangt, weitere extremistische, rassendiskriminierende und gewaltverherrlichende Symbole verbieten – was von der Eingrenzung her schwieriger werden dürfte. Die Nazi-Symbole zog die Landesregierung laut Justizminster Jans aus Dringlichkeitsgründen vor. So könne das Verbot rasch umgesetzt werden. Ein Museum für den Retter Carl Lutz, Schweizer Diplomat in Budapest, rettete im Zweiten Weltkrieg Zehntausenden Jüdinnen und Juden mit Schutzpässen und -briefen das Leben (siehe «Schweizer Revue» 3/2023). Zurück in der Schweiz, erntete er von offizieller Seite zunächst nur Tadel, inzwischen wird sein Wirken anerkannt und gewürdigt. Zu Lutz’ 50. Todestag eröffnete im Februar an seinem Geburtsort Walzenhausen im Kanton Appenzell Ausserrhoden ein Museum, das an ihn und seine Rettungsaktion erinnert. Das von der Gemeinde Walzenhausen, der «Gamaraal Stiftung» und dem örtlichen Unternehmen «Just» getragene Museum besteht vorerst bis Ende 2025. Ob eine dauerhafte Institution daraus wird, wird später entschieden. (SWE) Dass der Bundesrat den Forderungen nun folgt, bedeutet eine Kehrtwende. Noch vor wenigen Jahren vertrat er die Haltung, die Meinungsäusserungsfreiheit müsse auch Stossendes aushalten. Antisemitismus werde besser durch Prävention bekämpft als durch Repression. Doch die Situation hat sich verändert, wie der Bundesrat im Bericht zur Vernehmlassungsvorlage festhält: Im öffentlichen Raum sind vermehrt Nazi-Symbole zu sehen, vor allem seit dem Terrorangriff auf Israel 7. Oktober 2023 und dem Kriegsbeginn in Gaza. Es gibt deutlich mehr antisemitische Vorfälle, von Hakenkreuz-Schmierereien bis zu Tätlichkeiten gegen jüdische Personen. Jans: Signal der Gesellschaft nötig Die Symbole stehen laut Bundesrat für eine faschistische Gewaltherrschaft, den Holocaust und die Verfolgung von Minderheiten. «Sie sind Symbole des Hasses, der Intoleranz und des Leidens und sollen ganz aus der Öffentlichkeit verschwinden», sagte Justizminister Beat Jans vor den Medien. Jetzt sei ein klares Signal der Gesellschaft nötig. Das Verbot soll neben offensichtlichen Nazi-Symbolen wie Hakenkreuz und Hitlergruss auch Abgewandeltes wie die Zahlencodes «18» und «88» umfassen. Letztere aber nur in entsprechendem Kontext, wie Jans erklärte. Ausnahmen «Diese Symbole des Hasses, der Intoleranz und des Leidens sollen ganz aus der Öffentlichkeit verschwinden.» Justizminister Beat Jans

STÉPHANE HERZOG Das Genfer Ingenieur- und Holzbauunternehmen «Charpente Concept» ist ein Mekka für Holz. Das 1991 von Zimmermeister Thomas Büchi gegründete Büro entwarf den «Broken Chair» auf dem Place des Nations in Genf, baute die Schutzhütte «Refuge du Goûter» an den Hängen des Mont Blanc aus Holz und konstruierte den «Palais de l’Équilibre», eine riesige Holzkugel, die 2002 an der Expo.02 gezeigt wurde, bevor sie im CERN aufgebaut wurde. Weiterer Stolz des Büros? Nach dem Brand der Kathedrale Notre-Dame in Paris wurde es mit einer technischen Analyse des Kirchenschiffs im Hinblick auf den Wiederaufbau beauftragt. Das Büro erhielt Einsicht in ein 600 Jahre altes Archiv – eine Reise ins Mittelalter, als zwischen Holzschlag und der effektiven Verwendung der Balken gut und gerne 20 Jahre vergehen konnten. «Das Holz erobert sich nun seine Position zurück, die es im Laufe der Jahrhunderte durch die Verwendung von Stahl und später von Beton verloren hatte. Man hatte vergessen, welche Qualitäten dieses Material hat», sagt Rafael Villar, Vizepräsident des Unternehmens. Er erinnert sich an seine Anfänge, als die Befürworter von Holz noch als Spinner abgetan wurden. Das Büro hatte in Genf zwar gerade eine 300 Meter lange Ausstellungshalle aus Holz gebaut, aber der Grossteil der Aufträge konzentrierte sich auf Chalets und einige Dächer von Sporthallen. Heute wird Holz auch für den Bau von Wohngebäuden verwendet. «Innerhalb von 30 Jahren haben sich die Lieferzeiten für bestimmte Komponenten mehr als verdoppelt», bemerkt der Genfer. Das ist ein Indiz für die hohe Nachfrage. Die Festigkeit der Holzkomponenten kann vor der Bearbeitung mittels Ultraschall bestimmt werden. Der Zuschnitt erfolgt mithilfe digitaler Maschinen. Auf den Baustellen verkürzt das Zusammensetzen von vorgefertigten Holzelementen die Bauzeit im Vergleich zu mineralischen Wänden erheblich. Die Zeit für Wolkenkratzer ist da «Da Holz leicht ist, vereinfacht es die Stelzung von Gebäuden», betont Sébastien Droz, Sprecher von Lignum, dem Dachverband der Holzindustrie. Das Comeback von Holz im Schweizer Bauwesen Holz kann CO2 speichern und ist daher ein echter Renner im Bauwesen. Es wird sogar zur Errichtung von Wolkenkratzern verwendet. Das Schweizer Know-how kommt an. Die Nachfrage steigt. Doch es gibt auch Spannungen. Daher ist die Zeit für Wolkenkratzer aus Holz nun reif. Der «Rocket» im Winterthurer Stadtteil Lokstadt wird 100 Meter hoch. «Das in der Planung befindliche Gebäude wird eines der höchsten Wohngebäude aus Holz sein», sagt die Bauherrin Ina Invest. Der Turm benötigt 3300 Kubikmeter Holz für die tragende Struktur. «Wir verwenden Buchen- und Fichtenholz aus der Schweiz und den Nachbarländern», erläutert Pressesprecher Stephan Meierhofer und sagt: «Das Höher, weiter, schneller, schöner? Auf der Suche nach den etwas anderen Schweizer Rekorden. Heute: Auf dem Weg zu den höchsten Holzbauten der Welt Mit dem 100 Meter hohen Rocket-Hochhaus entsteht derzeit in Winterthur (ZH) das bald weltweit höchste Wohngebäude aus Holz. Visualisierung Ina Invest 14 Reportage

2031 soll der weltweit höchste Holzturm in der Schweiz stehen Die Bank UBS denkt gross. Ein Beispiel dafür ist ihr geplantes Hochhaus im Zürcher Stadtteil Altstetten. Mit seinen 108 Metern soll es 2031 den Rang als höchster Holzturm der Welt einnehmen. Es sei denn, ein anderes Projekt schafft es noch, ihn zu übertrumpfen: ein Holzhochhaus in Basel, in dem im selben Jahr die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich einziehen will. Die geplante Höhe? 122 Meter! (SH) Kubikmetern für spektakuläre Strukturen zu verwenden, wäre es vorteilhaft, wenn man es in Quadratmetern einsetzen würde», sagt er. Mit anderen Worten: Holz könnte Flächen bedecken, anstatt das Skelett für sehr grosse Bauwerke zu bilden. Der Fachmann führt als Beispiel die Steinmauern von Bündner Häusern an, in denen Holz auf die Innenwände gelegt wird, wodurch Isolierung und Komfort deutlich erhöht werden. Mit diesem Ansatz könnte ein Teil des Gebäudebestandes isoliert werden: zum Beispiel Hochhäuser, Industriegebäude und Schulen. «Einen neuen Wolkenkratzer zu bauen ist so, als würde Holz ist sehr widerstandsfähig und behält selbst im Brandfall seine Tragfähigkeit für lange Zeit bei.» Die Bauarbeiten beginnen diesen Frühling. Im Zürcher Stadtteil Altstetten plant die UBS sogar einen noch höheren Turm. Mit 108 Metern dürfte dieser Wolkenkratzer 2027 das höchste Holzgebäude der Welt sein. In den Büros werden dereinst 2800 Mitarbeitende beschäftigt. Auch in der welschen Schweiz geht es hoch hinaus. Der 2024 begonnene Tilia-Turm (lateinisch für Linde) ist eine Kombination aus Holz und Beton. Dabei werden die Qualitäten von Laubbäumen wie der Buche genutzt, die eine höhere Festigkeit als Nadelhölzer aufweisen. Das 85 Meter hohe Gebäude entsteht im Stadtteil Prilly, im Westen von Lausanne. Und in der Nähe wird der Turm Malley Phare auf einem bestehenden Gebäude gebaut. Die 2000 Kubikmeter Holz, die für dieses Wohngebäude eingesetzt werden, bestehen aus Tanne und Fichte, von denen 95 Prozent aus der Schweiz stammen. Die Fertigstellung erfolgt noch in diesem Jahr. «Wie kann Holz im Hinblick auf Umwelt und Biodiversität optimal genutzt werden? Diese Frage muss man sich stellen», sagt Ernst Zürcher, Forstingenieur und emeritierter Professor für Holzwissenschaften. Ein Kubikmeter Stahlbeton verursacht zwischen 350 und 400 kg CO₂, während ein Kubikmeter Holz 1000 kg CO₂ bindet. «Anstatt Holz in Form von Ein früher Versuch, in die Höhe zu bauen: Historisches Holzhaus in La Sage (VS). Es ermöglichte auch eine erste Form des Stockwerkeigentums. Foto Cortis und Sonderegger,13Photo 75 Meter ragt in Regensdorf (ZH) das Zwhatt-Holzhochhaus in die Höhe. Dessen Model zeigt das Konstruktionsprinzip: Ein schlanker Kern aus Beton wird von einer ausladenden Holzkonstruktion ummantelt. Foto Pensimo, Boltshauser Architekten Itten Brechbühl AG / Kengo Kuma & Associates Schweizer Revue / April 2025 / Nr.2 15

man zurück in die Vergangenheit gehen, als dies ein Ausdruck der Macht war. Viel besser wäre es, bestehende Gebäude zu renovieren und sie mit dem wertvollen Material Holz komfortabel und biokompatibel zu machen», erklärt der Wissenschaftler. Wald nutzen und erhalten Die Schweiz hat ein einzigartiges Waldgesetz, das ins Jahr 1903 zurückreicht. «Der Wald wird genutzt, um ihn gleichzeitig instand zu halten», sagt Rafael Villar. Allerdings deckten die Einnahmen aus dem Holzverkauf die Kosten für die Instandhaltung der Wälder nicht. Die Bäume müssten zudem auf optimale Weise gefällt werden, wie etwa im Rahmen eines Projekts für eine Turnhalle in Aigle (VD), an dem sein Büro beteiligt war. Das Büro wählte in Waadtländer Wäldern vom Borkenkäfer befallene Bäume aus. Dieses Insekt ernährt sich vom Saft der Bäume, wobei durch die Einwirkung auf die Rinde ein Pilz entsteht, der das Holz blau färbt. «Durch das Fällen des Baumes kann das Holz gerettet und der Baum sinnvoll genutzt werden», erläutert der Ingenieur. In der Schweiz wird jedoch nicht das gesamte gefällte Holz auf sinnvolle Weise genutzt und endet zum Teil als Brennholz, stellt Ernst Zürcher fest. Ein Grund dafür sind die steigenden Preise für fossile Brennstoffe. Eine «Kaskadennutzung» des Holzes wäre besser, es also zuerst für Gebäude, dann für Verbundwerkstoffe, dann für Papier und erst dann für die Verbrennung zu verwenden. «In der Schweiz werden Sägewerke aufgrund mangelnder Nachfrage geschlossen. Und wir exportieren sogar Holz und importieren es nach der Verarbeitung wieder», bedauert Ernst Zürcher. Er betont die Vorzüge einer lokalen Nutzung der Wälder. «Wenn 5000 Personen im Wald arbeiten, schaffen wir Arbeit für mehr als 50000 Menschen in der Holzindustrie. Das Verbrennen von Holz hingegen bringt nur einen geringen Mehrwert», vergleicht er. Gegenwärtig sind in der Schweizer Holzwirtschaft 85000 Menschen beschäftigt. Haben wir genug Holz? Das natürliche Wachstum der Schweizer Wälder erzeugt jedes Jahr 10 Millionen Kubikmeter Holz. Im Durchschnitt werden 5 Millionen Kubikmeter pro Jahr entnommen, wovon 25 Prozent für Heizzwecke verwendet werden. Das verfügbare Potenzial beläuft sich auf 3 Millionen Kubikmeter pro Jahr. Es gibt also viel Raum für Verbesserungen bei der Verwendung von Schweizer Bauholz. Und an Projekten mangelt es nicht, wie Sébastien Droz feststellt und auf den Lignum-Preis verweist, der 2009 ins Leben gerufen wurde. «Seither hat die Qualität, die Vielfalt und das Volumen der Projekte deutlich zugenommen», sagt er. Ein Beispiel dafür ist der 500 Meter lange Baumwipfelpfad aus Holz, die sich durch das Kronendach eines Waldes im Toggenburg in der Nähe von St. Gallen schlängelt. Diese Leistung zeigt, wie stark die Holzbaukultur in der Schweiz ist. Moderner Holzbau nutzt neue Prinzipien: Stäbe aus Buchenholz werden zu massiven Trägern verleimt und danach zu passgenauen Bauteilen verarbeitet. Im Zwhatt-Holzhochhaus zeigen sich klare Strukturen: Die Holzträger und Holzpfeiler bleiben sichtbar, Trennwände können flexibel eingesetzt werden. Fotos Pensimo, Sandro Straube, Boltshauser Architekten Schweizer Revue / April 2025 / Nr.2 16 Reportage

dem am 29. Juli 1954 seine Mutter, die ihn immer wieder davor bewahrt oder daraus zurückgeholt hatte, gestorben war. Erschütternde Zeugnisse einer gequälten Seele Dass es Giauque in der Verlorenheit seiner selbstgewählten Verliesse und unter dem Eindruck der psychiatrischen Zwangsvorkehren gelang, seine Qual in 156 Gedichte von erschütternder Wucht einfliessen zu lassen, erscheint besonders dann wie ein Wunder, wenn man seine Prosa, etwa die «Fragmente eines Höllentagebuchs», liest, die das in den Versen metrisch gezügelte Leiden schonungslos offenbaren: «Angstverzerrte Seele. Weggehen. Nur weg. Alle Ausgänge sind verstopft. Dicke Mauern. Gitter. Verschlossene Türen. Verbarrikadierte Fenster. Welt, in der das Schreckliche sich wie eine schlaue Schlange bewegt. Weggehen. Durch die königliche Pforte des Todes hinausgehen.» Und doch kann es nicht, wie immer behauptet, die Krankheit allein gewesen sein, die Giauque zum poète maudit machte, sondern auch das Zerbrechen an der Liebe zu Emilienne Farny, mit Bezug auf die es in einem seiner allerletzten Gedichte noch immer heisst: «Stunden der Agonie / die mich überflutende Brandung / der ärgsten Verzweiflung / und du, die du niemals mehr wiederkommst.» BIBLIOGRAFIE: Auf Deutsch greifbar ist: Francis Giauque, «Die Glut der Schwermut im Schattenraum der Nacht». Gedichte und Prosa. In der Übersetzung von Christoph Ferber und Barbara Traber erstmals deutsch ediert und mit einem biografischen Nachwort versehen von Charles Linsmayer. Edition Reprinted by Huber, Band 37, Th.-Gut-Verlag, Zürich 2019. CHARLES LINSMAYER IST LITERATURWISSENSCHAFTLER UND JOURNALIST IN ZÜRICH CHARLES LINSMAYER Die einen meinen, es habe ihn ein tödliches Rätsel im Griff gehalten, andere sprechen von einem fatalen Fluch: Unbestreitbar ist, dass über dem Leben und Denken von Francis Giauque, der 1965 mit 31 Jahren im Neuenburgersee «durch die königliche Pforte des Todes» ging, eine Angst, eine Verzweiflung und eine Verlassenheit lagen, die ihn den immer wieder gesuchten Tod als Erlösung empfinden liessen. Geboren als Briefträgersohn am 31. März 1934 in Prêles im französischsprachigen Berner Jura, besuchte er das Gymnasium in La Neuveville. Aber schon die Handelsschule in Neuenburg brach er ab und zog sich, von einer Hautkrankheit betroffen, ohne Kontakt nach aussen in sein Elternhaus zurück und befasste sich mit den Werken von Samuel Beckett und des französischen poète maudit Tristan Corbière, die ihn bald auch zu eigenen Texten und Gedichten anregten. Eine Zeitlang war er Buchhändler und Korrektor in Lausanne, und da lernte er 1956 auch die einzige Liebe seines Lebens, die wunderschöne 20-jährige Künstlerin Emilienne Farny, kennen, die er auch dann noch nicht vergessen konnte und in seinen Gedichten feierte, als sie ihn längst verlassen hatte. Im Würgegriff der Depression Als Französischlehrer im spanischen Valencia wurde er 1958 erstmals von starken Depressionen heimgesucht, die zur Folge hatten, dass er, in die Schweiz zurückgekehrt, der Reihe nach und immer wieder neu die psychiatrischen Kliniken von Genf, Yverdon und Neuenburg von innen erlebte. Da wurde er mit Elektroschocks und Insulinkuren therapiert und fühlte sich, von Suizidversuch zu «Du bist nah, du bist fern, erreichen werd ich dich nie» Das Werk des vor 60 Jahren verstorbenen Lyrikers Francis Giauque feiert auf erschütternde Weise eine unglückliche Liebe. Suizidversuch getrieben, zwischen tiefster Verzweiflung und hoffnungsvollen Momenten hin und her schwankend, immer deutlicher nicht nur von einer «normalen» bürgerlichen Existenz, sondern vom Leben überhaupt auf eine radikale Weise abgestossen. Was ihn überleben liess, war sein Schreiben, von dem die zwei zu Lebwenn ich sterben werde morgen wenn möglich beerdigt mich in einer Erde die feucht ist und schwer von Wärme dass die Wölbung des Sargs meines Schlafes gestirnter Himmel werde dass niemand weine ich der ich nicht wusste wie leben ich werde mich endlich erheben können bei den hellen Klängen der Nacht Aus Francis Giauque, «Die Glut der Schwermut im Schatten der Nacht» Th.-Gut-Verlag-Zürich 2019. Übersetzung Christoph Ferber zeiten veröffentlichten Bändchen «Parler seul» von 1959 und «L’Ombre et la Nuit» von 1962 zeugen, während eine lange angestrebte Gesamtausgabe seiner Gedichte und seiner Prosatexte erst 40 Jahre nach seinem Tod, im Jahre 2005, zustande kam. Die immer wieder versuchte Selbsttötung aber gelang ihm erst, nachFrancis Giauque (1934–1965) Schweizer Revue / April 2025 / Nr.2 17 Literatur

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