Schweizer Revue 2/2025

DAVID HESSE UND PHILIPP LOSER Über Jahrhunderte war die Schweiz ein Auswanderungsland. Männer, Frauen, Kinder verliessen ihre Täler und suchten das Glück im Ausland – als Reisläufer und Zuckerbäcker, Architekten und Kindermädchen, Händler, Melker und Kaminfegerkinder. Erst Ende des 19. Jahrhunderts begann die ausländische Zuwanderung höher zu werden als die Schweizer Abwanderung. 1914 vermuteten die Behörden 380000 Schweizer Bürger im Ausland – eine stolze Zahl bei damals weniger als 4 Millionen inländischer Einwohnerinnen und Einwohner. Bund und Kantone hatten wenig Interesse an den Ausgewanderten oder waren gar interessiert am Export von Armut. «Man war froh, dass sie weg waren», sagt der Historiker Patrick Kury. Wer das Land verlassen hatte, verlor Anspruch auf Schutz und Fürsorge. Immerhin, ab 1874 beaufsichtigte der Bund die privaten Agenturen, die die Auswanderung organisierten und bei denen es immer wieder zu Betrügereien kam. Und im Jahr 1900 nahm ein staatliches Auswanderungsamt den Betrieb auf, das präventive Beratung leistete und «leichtsinnige Auswanderung» zu verhindern suchte. Im Ersten Weltkrieg veränderte sich der Blick auf die Diaspora. Ein nationales Sammeln setzte ein, ein Bemühen um Zusammenhalt. Die Abwanderung wurde neu und kritisch als ein Verlust von nationaler Kraft diskutiert. Die 1914 gegründete Neue Helvetische Gesellschaft (NHG) trat an, «das nationale Erbgut wahren» zu wollen – und bemühte sich um Anbindung der Auslandschweizervereine und Schweizerschulen. 1916 schuf sie eine Ablegergruppe in London und 1920 das Auslandschweizerwerk, das sich bis heute als Auslandschweizer-Organisation (ASO) für die Beziehungspflege zwischen Heimat und Ausgewanderten einsetzt. Die Emigranten hatten den neuen Bundesstaat ab 1848 wiederholt um Schutz und Stimmrecht gebeten. Doch erst zu Beginn der 1960er-Jahre nahm der Bund ihr Begehren auf. Er sah die Ausgewanderten nun vermehrt als Potenzial, das es zum Wohle der Nation zu erschliessen galt. In seiner Botschaft an die Bundesversammlung vom 2. Juli 1965 schrieb der Bundesrat: «Die Schweiz als kleines und rohstoffarmes Binnenland mit einer hoch entwickelten und weltweiten Wirtschaft ist auf starke und lebenskräftige Niederlassungen, die durch tüchtige Auswanderer immer wieder aufgefrischt werden, angewiesen.» Diaspora-Netzwerke wurden wirtschaftlich interessant. Entsprechend wollte der Bundesrat seine Zuständigkeit für die Auslandschweizerinnen Der Tag, an dem die Fünfte Schweiz offiziell wurde Am 16. Oktober 1966 prägte ein Urnengang die Beziehungen zwischen Heimat und Diaspora neu: Die Schweizer Stimmberechtigten sagten Ja zu einem Auslandschweizer-Artikel in der Bundesverfassung. Die Autoren David Hesse und Philipp Loser zählen dieses Votum in ihrem neuen Buch «Heute Abstimmung!» zu den 30 Volksentscheiden, die die Schweiz veränderten. – Nachstehend das vollständige Buchkapitel. und Auslandschweizer in der Verfassung festhalten. Der neue Artikel sollte den Bund ermächtigen, die «Rechte und Pflichten» der Auslandschweizer zu regeln. Explizit im Text genannt waren «die Ausübung politischer Rechte, die Erfüllung der Wehrpflicht und die Unterstützung». Das Referendum für die Verfassungsänderung war obligatorisch. Abstimmungsdebatte Das Abstimmungsjahr 1966 wurde zum Jahr der Auslandschweizer. Drei Altbundesräte – Traugott Wahlen, Max Petitpierre und Giuseppe Lepori – stellten sich dem Patronatskomitee der Auslandschweizer-Organisation zur Verfügung, die 1966 ihr 50-JahrJubiläum ausrichtete. Die Post gab eine Auslandschweizer-Marke aus, die Landesbibliothek in Bern lancierte eine Ausstellung («Die Fünfte Schweiz im Wandel der Zeit»). Plötzlich schienen sich alle einig: Emigranten sind ein Gewinn für die alte Heimat. Kritische Stimmen gab es kaum, die NZZ nannte die Vorlage kurz vor dem Abstimmungstermin «völlig unbestritten». Es gehe, so die Zeitung, um viel mehr als um einen technischen Verfassungsartikel: «Vielmehr will die Schweiz damit ihren Landsleuten im Ausland eine Dankesschuld abstatten, ihre wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Leistungen anerkennen und das Zusammengehörigkeitsgefühl verankern.» Im Nationalrat hiess es, der Artikel werde die Auslandschweizer zu «vollwertigen Mitbürgern» machen. Das neue Bemühen um die Schweizer jenseits der Grenzen geschah erstens im Kontext der Dekolonialisierung. Schweizer Auswanderer in Algerien oder im Kongo hatten sich vermehrt an den Bund gewandt, weil sie Land und Vermögen verloren hatten. Das Der AuslandschweizerArtikel, für den dieses Plakat wirbt, wurde mit rund 68 Prozent der Stimmen deutlich angenommen. Foto Graphische Sammlung Schweizerische Nationalbibliothek, Bern Schweizer Revue / April 2025 / Nr.2 20 Gelesen

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