Schweizer Revue 3/2025

JULI 2025 Die Zeitschrift für Auslandschweizer:innen Forschende bergen «Erinnerungen», die tief im Eis der Gletscher ruhen Zwischen Angst und Aufbruch: Wie die Jugend mitreden will Der Trumpsche Zollhammer trifft die Schweiz eiskalt

SwissCommunity Legate und Erbschaften Damit die Fünfte Schweiz gehört wird. Mit einem Legat zugunsten der Auslandschweizer-Organisation (ASO) SwissCommunity unterstützen Sie langfristig die Rechte, Projekte und Hoffnungen unserer Landsleute auf der ganzen Welt. Ein Legat an die SwissCommunity ist ein Zeichen des Vertrauens, der Solidarität — und ein sinnstiftendes Vermächtnis. Unsere Partner: Was wäre, wenn Ihr Testament dazu beitrüge, die Schweiz auch jenseits ihrer Landesgrenzen lebendig zu halten? SwissCommunity Legate und Erbschaften Damit die Fünfte Schweiz gehört wird. Mit einem Legat zugunsten der Auslandschweizer-Organisation (ASO) SwissCommunity unterstützen Sie langfristig die Rechte, Projekte und Hoffnungen unserer Landsleute auf der ganzen Welt. Ein Legat an die SwissCommunity ist ein Zeichen des Vertrauens, der Solidarität — und ein sinnstiftendes Vermächtnis. Unsere Partner: Was wäre, wenn Ihr Testament dazu beitrüge, die Schweiz auch jenseits ihrer Landesgrenzen lebendig zu halten? Die Schweiz in der Tasche SwissInTouch.ch Die App für die Auslandschweizergemeinschaft swissintouch.ch Ausschliesslich hier erhältlich Lesen am Palmenstrand. Geniessen Sie die «Schweizer Revue» gut lesbar – und auch offline – auf Ihrem Tablet oder Smartphone. Die App dazu ist gratis und werbefrei. Sie finden die App mit dem Suchbegriff «Swiss Review» in Ihrem Appstore. SCHWEIZER REVUE  JULI 2025 Die Zeitschrift für Auslandschweizer:innen Forschende bergen «Erinnerungen», die tief im Eis der Gletscher ruhen Zwischen Angst und Aufbruch: Wie die Jugend mitreden will Der Trump’sche Zollhammer trifft die Schweiz eiskalt © pexels.com Konsularische Dienstleistungen überall, komfortabel auf Ihren mobilen Geräten www.eda.admin.ch Rio de Janeiro (2023) © www.pexels.com

Mani Matter (1936–1972) gehört zu den unvergessenen Liedermachern der Schweiz, über den deutschen Sprachraum hinaus. Wenn er unsere «Hemmige» – die menschlichen Hemmungen – besingt, berührt das noch heute. Hemmungen begrenzen uns, Hemmungen möchten wir ablegen. Doch in den Schlusszeilen seines Chansons werden just diese Hemmungen zur Hoffnung: Hoffentlich legt die Menschheit angesichts des Drohenden nicht all ihre Hemmungen ab. Das Lied ist in enormem Mass aktuell geblieben. Weniger populär ist Matters Lied, das seine enorme künstlerische Ambition beschreibt: Mit Pinsel und Staffelei ausgerüstet will er die Kuh am Waldesrande auf die Leinwand bannen – und ein unbezahlbares Werk von ungeahnter Güte schaffen. Er malt den Waldrand, zaubert den Himmel auf die Leinwand und hält die Blumenwiese im Vordergrund fest. Doch dann – plötzlich – ist die Kuh weg. Sie ist dem Blick des Künstlers entschwunden. Das eigentliche Sujet des Bilds bleibt ein schwammiges Etwas. Das Lied taugt als Soundtrack zu unserem Versuch nachzuzeichnen, wie hart der Zollhammer der USA die Schweiz trifft. Der Rahmen, das Umfeld, lässt sich schön nachzeichnen: Die – aus Schweizer Sicht – speziellen Beziehungen zu den USA; die – ebenfalls aus Schweizer Sicht – ungerechten Anschuldigungen seitens Trumps. Aber der eigentliche Kern des Bildes hat noch keine klaren Konturen: Wie hart die US-Zollpolitik die Schweiz tatsächlich treffen wird, blieb auch bei Redaktionsschluss noch offen. Gleichwohl ist unser Beitrag zum Thema (Seite 14) lesenswert: Er macht verständlich, warum die Schweiz überhaupt so perplex auf Donald Trumps Zoll-Ankündigungen reagierte. Während im Zollstreit der Schweizer Börsenkurs zeitweilen wie ein nervöses Irrlicht flackert, kümmern sich Gletscherforscher und -forscherinnen ums seit Ewigkeiten Erstarrte. Sie ziehen lange Bohrkerne aus dem Eis der Gletscher, denn in deren Tiefe sind «Erinnerungen» an eine ferne Vergangenheit konserviert: beispielsweise Spuren des damaligen Klimas vor Tausenden Jahren und Hinweise darauf, wann und wie es sich verändert hat. Was die Forschenden tun, zeichnen wir nach (ab Seite 11). Allerdings kennen inzwischen auch sie die Hektik. Sie sind zu Getriebenen geworden: Die Gletscher schmelzen weg – und mit ihnen schmilzt auch das eisige Geheimnis über die Vergangenheit dahin, das in ihnen ruht. MARC LETTAU, CHEFREDAKTOR 4 Schwerpunkt Die Jugend will mitreden – und in Jugendparlamenten kann sie das 9 Gesellschaft Gegen knallendes Feuerwerk wächst der politische Widerstand 11 Natur und Umwelt Mit den Gletschern schmilzt auch das Klima-Gedächtnis, das in ihnen steckt 14 Wirtschaft Die Zollankündigungen Trumps waren für die Schweiz ein Schock 18 In eigener Sache Stück für Stück lässt die «Revue» ein Bild der Fünften Schweiz entstehen 19 Reportage Die längste Treppe der Welt – führt auf den Niesen im Berner Oberland Nachrichten aus Ihrer Region 22 Literatur Elsie Attenhofer, eine Kabarettistin und Dramaturgin mit Tiefgang 24 Politik Zweiter Anlauf: Die Schweiz will eine «elektronische Identität» einführen 28 Aus dem Bundeshaus Zurück in der Schweiz? Tipps für den Einstieg in den Arbeitsmarkt 30 SwissCommunity-News Wahl des Auslandschweizerrats per E-Voting: eine erste Bilanz 35 Diskurs Der Maler ist parat, aber sein Sujet nicht Titelbild: Eishöhle im Furgg-Gletscher in Zermatt (VS). Foto Imago Herausgeberin der «Schweizer Revue», des Informationsmagazins für die Fünfte Schweiz, ist die Auslandschweizer-Organisation. Foto Stéphane Herzog Schweizer Revue / Juli 2025 / Nr.3 3 Editorial Inhalt

DENISE LACHAT Was will die Jugend in einer grossen, sehr urbanen Schweizer Stadt? In Zürich zum Beispiel wünscht sie sich offene Turnhallen, die Begrünung von Baustellen, Vergünstigungen im Kultur- und Freizeitbereich, für die Verpflegung sowie für den öffentlichen Verkehr. Sie hat gute Chancen, dass ihre Wünsche wahr werden. Im letzten Herbst hat das Zürcher Stadtparlament nämlich insgesamt sieben sogenannte Jugendvorstösse gutgeheissen. Nun ist die Stadtregierung am Zug: Bis im Herbst 2026 muss sie aufzeigen, wie die Anliegen der Jugendlichen konkret umgesetzt werden. Zürich hört auf die Jugend Der Jugendvorstoss ist ein politisches Instrument, das die Stadt Zürich mit dem 2022 lancierten Pilotprojekt «Euses Züri – Kinder und Jugendliche reden mit!» eingeführt hat. Es soll junmeisten Politiker:innen sind viel älter als wir und erleben die Wirkung ihrer Entscheide von heute nicht gleich lange wie wir.» Auch in der Stadt Thun können Jugendliche per Jugendvorstoss mitreden. Bereits seit 2014 tragen dort 13- bis 18-Jährige ihre Anliegen ins Stadtparlament, wenn sie dafür 40 UnterWie stellen sich junge Menschen ihre Zukunft vor? Wovon träumen sie? Was macht ihnen Sorgen? Antworten auf diese Fragen zeigen sich in der Schweiz etwa dort, wo Jugendliche politisch mitreden dürfen. gen Menschen die Gelegenheit geben, ihre Ideen für die Gesellschaft in die Politik einzubringen. Rund 90 Jugendliche zwischen 12 und 18 Jahren treffen sich dafür an Jugendkonferenzen und arbeiten gemeinsam mit Stadtparlamentarier:innen ihre Vorstösse im Detail aus. Anschliessend begründen sie die Anliegen vor dem Parlament. Zu ihnen gehört Ricarda Barman. Die 15-jährige Sekundarschülerin hat an der letztjährigen Jugendkonferenz teilgenommen und wird den Politikern erklären, warum private Liegenschaftsbesitzer:innen bei der Installation von Solaranlagen unterstützt werden sollen. «Öl und Gas werden an anderen Orten dringender gebraucht. Da sie nicht erneuert werden können, muss sparsam umgegangen werden mit ihnen», sagt sie der «Schweizer Revue». Ricarda Barman gefällt der Jugendvorstoss. «Es ist wirklich ein Fortschritt, dass wir Jungen in Zürich mitreden können. Die Schweizer Jugend zwischen Angst und Aufbruch ARYA KAYA flüchtete einst in die Schweiz und erfuhr im «Zukunftsrat U24», was politische Mitwirkung heissen kann. Heute sieht sie sich selbst als Game-Changerin. Foto ZVG Schweizer Revue / Juli 2025 / Nr.3 4 Schwerpunkt

5 schriften von Gleichaltrigen sammeln konnten. In Zürich werden die Jugendlichen von Julia Kneubühler begleitet. Sie ist beim Dachverband Schweizer Jugendparlamente (DSJ) für die Jugendkonferenzen im Auftrag der Stadt Zürich verantwortlich. Der DSJ fördert politische Mitsprache auf allen drei Staatsebenen der Schweiz – kommunal, kantonal und national. Ein wichtiges Hilfsmittel, um die Bedürfnisse der Jungen abzuholen, ist die digitale Plattform www.engage. ch, die der DSJ vor rund zehn Jahren entwickelt hat. Neben der Stadt Zürich nutzt sie auch der Kanton Solothurn, der jedes Jahr einen «Jugendpolittag» organisiert. «Red mit!» heisst die Kampagne, die 2025 bereits zum 18. Mal stattfindet. Was hat sie gebracht? Ein Beispiel liefert ein Vorstoss aus dem Jahr 2023, der letztes Jahr im kantonalen Parlament von allen politischen Parteien unterstützt worden ist: Ein Schulausweis, der überall im Kanton gilt, soll Schüler:innen vergünstigte Tarife gewähren. Tausende Anliegen im Bundeshaus Seit neun Jahren können Jugendliche und junge Erwachsene auch auf nationaler Ebene mitreden; sie haben bereits Tausende von Anliegen im Bundeshaus deponiert. Jeden Frühling werden unter dem Titel «Verändere die Schweiz!» auf www.engage.ch die Ideen von 12- bis 25-Jährigen gesammelt. Anschliessend lesen junge Mitglieder des Schweizer Parlaments, die das ganze politische Spektrum abdecken, je eine Idee aus, die sie weiterverfolgen möchten. Bis heute sind gut hundert Ideen gemeinsam mit ihren Autor:innen ausformuliert worden. Sie haben vielleicht keine bahnbrechenden Neuerungen in der Schweizer Politik gebracht, doch der DSJ ist trotzdem zufrieden. «Dass sich junge Menschen aktiv am politischen Prozess beteiligen, ist bereits ein Erfolg. Wenn aus den Ideen konkrete politische Vorstösse werden, ist dies noch wertvoller. Denn wir wissen, wie schwierig es auch für die Parlamentarier:innen selbst ist, im langwierigen und komplexen Prozess der Schweizer Politik Konkretes zu erreichen», sagt Fiona Maran, TeamleiteOben: Stimmungsbild aus Locarno, wo der Zukunftsrat 2023 an die zwanzig Empfehlungen zum Bereich psychische Gesundheit erarbeitete. Foto Pro Futuris, Dimitri Brooks IREM DÖ NMEZ setzt sich per Jugendvorstoss für die Gesundheit Jugendlicher ein. Sie schlägt der Stadt Zürich vor, neue Präventionsangebote zur Stärkung der psychischen Gesundheit auf Sekundarstufe einzuführen. Foto ZVG Schweizer Revue / Juli 2025 / Nr.3

HANNAH LOCHER von Unicef Schweiz zitiert alarmierende Studienergebnisse. Über ein Drittel aller 14- bis 19-Jährigen litten unter schweren oder mittelschweren Angststörungen oder Depressionen. Foto ZVG Ursachen und Folgen psychischer Erkrankungen Unicef nennt als Risikofaktoren für psychische Probleme von Kindern und Jugendlichen Armut, sucht- oder gewaltbelastete Familienverhältnisse, emotionale Vernachlässigung in der Kindheit oder schlechte Kindheitserfahrungen wie Mobbing an Schulen. Investitionen in die Prävention psychischer Erkrankungen seien im Interesse der gesamten Gesellschaft, auch aus wirtschaftlicher Sicht. So beziffert die London School of Economics die Verluste durch psychische Beeinträchtigungen und Störungen, die zur Erwerbsunfähigkeit oder zum Tod von jungen Menschen führen, in Europa auf fast 58 Milliarden US-Dollar pro Jahr. Psychische Gesundheit von Jungen ist also nicht nur in der Schweiz ein Thema – und nicht erst seit der Covid-Pandemie, wie der Zeitraum der genannten Umfragen (siehe Haupttext) vermuten lassen könnte. «Die Pandemie war ein möglicher Treiber, das Problem bestand bereits vorher», sagt Hannah Locher von Unicef Schweiz und Liechtenstein. Covid habe es verstärkt und sichtbar gemacht. (DLA) rin Kampagnen von engage.ch beim DSJ. Als positives Beispiel erwähnt sie die im Sommer 2022 von Nationalrat Lukas Reimann (SVP) eingereichte Motion, die vom Bundesrat verlangt, Sprachaufenthalte für Schüler:innen in der Schweiz in allen vier Landessprachen zu fördern. Der Bundesrat hat die Motion abgelehnt, doch der Nationalrat hat sie im Frühling 2024 angenommen. Als nächstes ist der Ständerat am Zug; das Schicksal der Motion ist also noch offen. Ein weiteres Thema, das die Jungen aufgegriffen haben, beschäftigt sich mit der Früherkennung des Risikos gekürzter Altersrenten, weil die Beiträge an die Sozialversicherung nicht lückenlos jedes Jahr einbezahlt worden sind. Das Problem stellt sich häufig am Anfang des Berufslebens. FDP-Nationalrat Andri Silberschmidt hat die Frage ins 15-jähige Sekundarschülerin Irem Dönmez reden. Sie wird in Zürich den Jugendvorstoss zum Thema «Psychische Gesundheit» vor dem Stadtparlament vertreten. Es ist ein Thema, das ihr persönlich am Herzen liegt, nachdem sie den Übertritt von der 2. in die 3. Sekundarklasse als «sehr stressig» erlebt hat. «Wir mussten zahlreiche Schnupperlehren absolvieren, bis im August eine Lehrstelle gefunden haben, den normalen Lernstoff bewältigen und am Ende während zwei Wochen täglich eine Prüfung schreiben.» Verständlich, dass in solchen Situationen die Nerven strapaziert werden, erst recht, wenn noch private Probleme hinzukommen. Die Jugendliche wünscht sich mehr Verständnis von den Lehrpersonen für diese emotionale Belastung; es brauche Raum und konkrete Angebote an der Sekundarschule, um Gefühle und Probleme anzusprechen. «In dieser strengen Zeit sollte nicht nur das Schulische beachtet werden», sagt Irem Dönmez. Der von ihr vorgebrachte Jugendvorstoss verlangt darum von der Stadt einen Kredit für Präventionsangebote zur Stärkung der psychischen Gesundheit auf Sekundarstufe. Vordringliches Thema für Junge Für den jungen «Zukunftsrat U24» ist die psychische Gesundheit von jungen Menschen in der Schweiz das Thema schlechthin. Es wurde in einer schweizweit repräsentativen Umfrage als vordringlich eingestuft. Der Zukunftsrat wird von der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft (SGG) getragen. Er ist ein Rat von Bürger:innen zwischen 16 und 24 Jahren, die in der Schweiz wohnen. Die 80 Teilnehmer:innen werden aus 20000 angeschriebenen Personen in einem mehrstufigen Losverfahren ausgewählt. Die Zusammensetzung des Rats Parlament getragen, der Bundesrat hat dazu Stellung bezogen. «Alarmierende Zahlen» zur psychischen Gesundheit Wer junge Menschen mitreden lässt, zeigt ihnen, dass ihre Meinung zählt, und leistet damit auch ein Stück weit Prävention: davon ist Hannah Locher von Unicef Schweiz und Liechtenstein, dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, überzeugt. Studien zeigen, dass es vielen Kindern und Jugendlichen in der Schweiz nicht gut geht. Gemäss einer 2021 im Auftrag von Unicef Schweiz und Liechtenstein durchgeführten Erhebung bei 14- bis 19-Jährigen weisen 37 Prozent der Jugendlichen in der Schweiz mittelschwere oder schwerwiegende Anzeichen einer Angststörung und/oder einer Depression auf. «Die Zahlen sind alarmierend», sagt Hannah Locher, auch mit Blick auf die «StressStudie» der Schweizer Stiftung Pro Juventute, die von Ende 2019 bis Anfang 2020 bei über 1000 Schüler:innen durchgeführt worden ist. Sie zeigt, dass ein Drittel der Kinder und Jugendlichen in der Schweiz unter hohem Stress steht, sich müde und erschöpft fühlt und über Leistungsdruck klagt. Über Leistungsdruck will auch die Schweizer Revue / Juli 2025 / Nr.3 6 Schwerpunkt

Locher lobt zwar die «vielen engagierten, niederschwelligen Angebote beispielsweise von Schulen, Sportvereinen, der Jugendarbeit oder dem psychologischen Dienst in Gemeinden». Doch die kantonalen Unterschiede seien gross. Locher sagt: «Das ist ein Flickenteppich. Wir bräuchten eine nationale Strategie, um im ganzen Land bedarfsgerechte Angebote für die Zielgruppen zur Verfügung zu stellen.» Ein Angebot kommt von Unicef selbst, das Gemeinden mit dem Label «kinderfreundlich» auszeichnet. Die psychische Gesundheit stehe dabei zwar nicht im Fokus, doch ein gesunder öffentlicher Lebensraum für Kinder trage ebenfalls zur Prävention bei. Was bleibt? Bleibt die Frage, ob Jugendpartizipation bei diesem für die Jungen offensichtlich brennenden Thema etwas bewegen kann. Arya Kaya ist davon überzeugt. An der Abschlusskonferenz des Zukunftsrats U24 hätten viele interessierte Politiker:innen teilgenommen, und sie selbst wird seither wiederholt an Fachtagungen eingeladen. Unter anderem sprach sie an einem Grossanlass vor 600 Spezialisten. «Wir haben nicht für die Schublade gearbeitet», sagt sie mit Nachsoll die Schweizer Bevölkerung möglichst gut abbilden und schliesst damit auch Ausländer:innen ein, die in der Schweiz sonst keine politische Mitsprache haben. Arya Kaya, eine heute 24 Jahre alte Kurdin, hat 2023 an der Konferenz teilgenommen und ist begeistert: «Ich war aus der Türkei in die Schweiz geflüchtet, war allein, ohne soziales Netz. Und da gab man mir, einer Ausländerin, die Chance mitzureden!» An drei WochenendWorkshops wurden über 30 Anträge behandelt und schliesslich 18 Handlungsempfehlungen an die Schweizer Politik formuliert. Verlangt werden unter anderem die Schaffung einer gesetzlichen Basis, die es dem Bund erlaubt, im Bereich der psychischen Gesundheit junger Menschen auf nationaler Ebene koordiniert zu wirken, ein Monitoring und ein Fokus auf Prävention. Die Forderungen des Zukunftsrats decken sich in weiten Teilen mit jenen von Unicef. Nach Ansicht von Hannah Locher liegt das Problem nicht allein am Mangel an Fachpersonen, sondern vor allem an strukturellen Defiziten: Die Ausbildung von Kinder- und Jugendpsychiatern sei zu wenig gefördert, die Versorgung nicht bedarfsgerecht geplant worden, und die Prävention werde finanziell massiv vernachlässigt. druck. Sie sieht sich heute als «GameChangerin», indem sie die Handlungsempfehlungen des Zukunftsrats weiterverbreitet in ihrem Netzwerk, das zusehends grösser wird. Die junge Frau spricht inzwischen ausgezeichnet Deutsch, hat sich gemeinsam mit 29 weiteren motivierten Zukunftsrät:innen als «Zentrum Zukunftsrat U24» organisiert und ein Psychologiestudium an der Universität Zürich aufgenommen. Doch nicht alle Jungen in der Schweiz haben ein Interesse daran oder die Kraft dazu, sich politisch zu engagieren. Für sie sind niederschwellige Angebote von Jungen für Junge zentral. Zu ihnen gehört beispielsweise das «Zeta Movement», getragen von ehemaligen von psychischen Problemen Betroffenen. Die heutigen Botschafter:innen deklarieren ihr Ziel so: «Nach unserer Vision sollte die Generation Z die letzte Generation sein, die unter Stigmatisierung, Schweigen und Diskriminierung im Zusammenhang mit psychischer Gesundheit leidet, aber die erste Generation, die ein Katalysator für Veränderungen sein und die Einstellung zu diesem Thema radikal verändern wird». Links zu weiterführenden Informationen: Online-Plattform engage.ch: www.engage.ch Zürcher Jugendvorstösse: www.engage.ch/euses-zueri Jugendpolittag Solothurn: www.engage.ch/jugendpolittag Der Zukunftsrat U24: www.zukunfts-rat.ch Studie Unicef Schweiz und Liechtenstein (2021): www.revue.link/unicef1 Unicef-Umfrage zur psychischen Gesundheit (weltweit, in Englisch): www.revue.link/unicef Stress-Studie Pro Juventute (nur in Deutsch): www.revue.link/stress JULIA KNEUBÜHLER begleitet Jugendliche, die politisch mitbestimmen wollen. Sie ist für die im Auftrag der Stadt Zürich durchgeführten Jugendkonferenzen zuständig. Foto ZVG FIONA MARAN leitet beim DachverbandSchweizer Jugendparlamente die Kampagne engage.ch. Sie sagt: Allein schon die Tatsache, dass sich junge Menschen aktiv am politischen Prozess beteiligten, sei ein Erfolg. Foto ZVG Schweizer Revue / Juli 2025 / Nr.3 7

Schutt- und Eislawine zerstört das Walliser Bergdorf Blatten komplett Blatten, das Bergdorf im Lötschental, existiert nicht mehr. Es liegt unter einer bis zu 100 Meter dicken Schicht begraben – zerstört von der Schutt- und Eislawine, die am 28. Mai 2025 mit einem geschätzten Volumen von zehn Millionen Kubikmetern talwärts donnerte. Die nicht verschütteten Teile des Dorfes wurde in den Tagen nach dem Niedergang der Lawine überflutet, da der mächtige Schuttkegel den Fluss Lonza staute. Die Zerstörung von Blatten erschüttert die Schweiz – wegen dem Ausmass des Naturereignisses, wegen dessen unvergleichlicher Dynamik und auch wegen den Fragen zur langfristigen Bewohnbarkeit alpiner Regionen, die das Ereignis auslöst. Zwei Wochen vor der Zerstörung Blattens mehrten sich Anzeichen eines möglichen Bergsturzes: Die Flanke des Kleinen Nesthorns – es war vor der Naturkatastrophe 334 Meter hoch – geriet in Bewegung und bröckelte. Schutt und Felsbrocken stürzten dabei auf den darunterliegenden Birchgletscher. Dieser stand, weil selber instabil, seit 1993 unter Beobachtung. Nach einem ersten, kleineren Murgang, aber vor allem angesichts der anhaltenden Bewegungen von Fels und Gletscher verfügten die Behörden am 17. Mai die Evakuation aller Bewohnerinnen und Bewohner von Blatten. Was sich in der Folge abspielte, ist in dieser Form und Dramatik für die Alpen ohne Vergleich: Das auf den Gletscher gestürzte Schutt- und Felsmaterial übte so viel Druck auf den Gletscher aus, dass sich immer mehr Schmelzwasser bildete. Dieses liess den Gletscher innerhalb weniger Tage als Ganzes immer schneller abgleiten, am Schluss bis zu zehn Meter pro Tag. Am Nachmittag des 28. Mai glitt ein grosser Teil des gesamten Birchgletschers samt dem auf ihm lastenden Felsmaterial ab, zerbarst in eine immer schneller gleitende Eis- und Schuttmasse, die schliesslich das Dorf Blatten erreichte und zerstörte. Rettungsarbeiten, etwa ein Abpumpen des hinter dem Schuttdamm entstandenen Sees, war zunächst nicht möglich. Einerseits drohten am Kleinen Nesthorn noch mehrere Hunderttausend Kubikmeter Fels abzubrechen. Anderseits brandete die Gerölllawine am Gegenhang so weit hoch, dass Material zurückzustürzen drohte. Bei Redaktionsschluss dieser «Schweizer Revue» war noch keineswegs klar, wie das Ereignis enden würde. Erst angelaufen ist zudem die Fachdiskussion über die Ursachen des Bergsturzes von Blatten. Der Tenor der Expertinnen und Experten: Das Ereignis habe im Kontext des Klimawandels stattgefunden, aber noch sei unklar, wie entscheidend die einzelnen Faktoren eingewirkt hätten – etwa das Auftauen der Permafrostzone oberhalb des Gletschers oder die Gletscherschmelze an sich, durch welche stützende Kräfte auf die Bergflanken schwinden. (MUL) www.swissinfo.ch berichtet regelmässig über die anhaltende, aktuelle Entwicklung im Lötschental (Suchbegriff: Blatten) Zoë Më Sie vertrat das Gastgeberland Schweiz am diesjährigen Eurovision Song Contest (ESC). Der weltweit grösste Musikwettbewerb fand im Mai in Basel statt, nachdem Nemo den letztjährigen ESC gewonnen und erstmals nach 37 Jahren wieder in die Schweiz geholt hatte. Die 25-jährige Zoë Më absolvierte ihren Auftritt vor 170 Millionen Fernsehzuschauenden souverän – und bewusst ohne spektakuläre Bühnenshow. Die minimalistische Inszenierung der poetischen Ballade «Voyage» setzte ganz auf die Magie von Zoë Mës betörender Stimme. Mit dem auf Französisch gesungenen Lied lud die Sängerin das Publikum zu einer «emotionalen Reise für mehr Menschlichkeit» ein. Ihr authentischer Auftritt überzeugte die Jurys, konnte hingegen beim ESC-Publikum, das spektakuläre Shows bevorzugt, nicht punkten. So resultierte für die Schweiz immerhin der 10. Schlussrang von 26 Finalisten. Für «Voyage» erhielt Zoë Më zudem einen Award für die beste Komposition aller teilnehmenden Länder. Ein wenig Schweiz steckt übrigens auch im österreichischen Gewinnersong des diesjährigen ESC: Produzent von «Wasted Love» des Opernsängers JJ ist der Zürcher Pele Loriano, der 2024 bereits Nemo mit «The Code» zum Sieg verholfen hatte. Für Zoë Më – mit bürgerlichem Namen Zoë Kressler – geht die musikalische Reise weiter, zu der sie bereits im Kindesalter aufgebrochen war: Mit 10 Jahren schrieb sie erste eigene Songs, damals noch auf Deutsch. In Basel geboren, wuchs die Schweizerin zunächst in Deutschland auf, bevor ihre Familie 2009 in den zweisprachigen Kanton Freiburg zog. Dort entdeckte Zoë die Liebe zur französischen Sprache und fühlt sich seither als Brückenbauerin zwischen Sprach- und Kulturgrenzen (siehe auch www.revue.link/zoe). THEODORA PETER Schweizer Revue / Juli 2025 / Nr.3 8 Herausgepickt Nachrichten

SUSANNE WENGER Auslandschweizerinnen und -schweizer erinnern sich: Raketen, Vulkane und Knallkörper gehören zum 1. August wie der Senf zur Bratwurst vom Gartengrill. Auch Silvester ist in der Schweiz seit einigen Jahren von Pyrotechnik geprägt. Rund 2000 Tonnen Feuerwerk werden jährlich abgebrannt – doppelt so viel wie vor 20 Jahren, so das Bundesamt für Umwelt in einer Studie von 2014. Bis zu 600 unterschiedliche Feuerwerkskörper sind erhältlich. «Feuerwerk ist Ausdruck von Lebensfreude», sagt Linda Feller, Inhaberin des Berner Fachgeschäfts «Stärnehimu» (Mundart für Sternenhimmel). Wie bei jeder Tradition fühlen sich einige stärker verbunden als andere, erklärt Feller. Zwar störe das Knallen vor und nach dem Feiertag, doch «sehr viele Menschen» genössen die bunten Bilder. Bei lokalen 1.-August-Feiern, Hochzeiten, Jubiläen oder Geburtstagen schaffe Feuerwerk «unvergessliche Momente». Nur: Fans und Anbieter stehen unter Druck. Immer mehr Gemeinden schränken Feuerwerk ein oder verbieten es. Besonders im Kanton Graubünden: Jede dritte Gemeinde hat in den letzten Jahren ein Verbot erlassen, darunter die Touristenorte Davos, Pontresina und St. Moritz. Die Gemeinden begründen dies mit dem Schutz von Haus- und Wildtieren sowie der Natur. Tiere «in Panik» Bald könnte das ganze Land folgen. Im November 2023 reichte ein Komitee die Volksinitiative «für eine Einschränkung von Feuerwerk» ein. Über Feuerwerk: Freude für manche, Stress für Tiere und Umwelt Am 1. August, dem Schweizer Nationalfeiertag, wird viel Feuerwerk gezündet. Doch was vielen gefällt, sorgt zunehmend für Kritik: Tiere, Menschen und die Umwelt leiden darunter. Eine Volksinitiative will nun lärmendes Feuerwerk für Privatpersonen verbieten. 137000 Menschen unterzeichneten sie. Die Initiative fordert, den Verkauf und die Verwendung von Lärm erzeugendem Feuerwerk zu verbieten. Leise Varianten wie Zuckerstöcke, Wunderkerzen oder römische Lichter wären weiterhin gestattet. Professionelle Feuerwerke bei überregionalen Anlässen sollen mit Bewilligung erlaubt bleiben. Hinter der Initiative stehen Privatpersonen. Auch Organisationen wie der Schweizer Tierschutz, BirdLife Schweiz, die Lärmliga Schweiz, Pro Natura und die Fondation Franz Weber unterstützen sie. «Lärmendes Feuerwerk versetzt Heim-, Nutz- und Wildtiere in Angst und Panik», sagt Simon Hubacher vom Schweizer Tierschutz. Das plötzliche Knallen löse grossen Stress aus, dem Tiere nicht entkommen könnten. Nutztiere verErst ein bunter Feuerball, dann ein lauter Knall: Vor allem auf den Lärm zielt die Volksinitiative, die eine Einschränkung von privatem Feuerwerk verlangt. Öffentliche Feuerwerke wie hier 2022 in Nyon blieben weiterhin erlaubt. Foto Keystone 9 Gesellschaft

grosse Sympathien bescheinigen? Rund 70 Prozent würden ihr zustimmen, ergab 2024 eine repräsentative Umfrage des Forschungsinstituts gfs. bern. Hauptgrund: die Lärmbelästigung. Bei den Gegnerinnen und Gegnern lautet das Hauptargument, ein Verbot sei übertrieben. Noch liegt der Gegenvorschlag nicht vor, und die Parteien haben sich nicht positioniert. Der Schweizerische Gewerbeverband warnt vor einer «Verbotskultur», die Kindern eine Tradition nehme. Für KMU hätte das Verbot laut dem Verband negative Folgen. «Branche bedroht» «Die Initiative bedroht eine ganze Branche», sagt Geschäftsinhaberin Linda Feller. Ohne die Einnahmen aus dem Feuerwerksverkauf stünden viele kleine Detailhändler vor dem Aus. Die Initianten verweisen darauf, dass in der Schweiz vor allem Vulkane produziert werden, die nicht betroffen wären. Der Grossteil des Feuerwerks wird aus China importiert. Das Initiativkomitee zeigt sich offen für einen «griffigen» Gegenvorschlag. Ob dieser ausreicht, bleibe abzuwarten. Simon Hubacher vom Schweizer Tierschutz sieht die Initiative als pragmatisch: Neben leisem Feuerwerk und offiziellen Grossfeuerwerken bleiben auch Laser- und Drohnenshows sowie traditionelle Höhenfeuer möglich. «Privates Geböller hat nichts mit Tradition zu tun.» Hubacher führt ein weiteres Umfrageergebnis von 2024 ins Feld: Obwohl die Mehrheit der Befragten Feuerwerke gern anschaut, kaufen die meisten selten oder nie Feuerwerkskörper – und wenn, dann grösstenteils lautlose. Das passe zur Stossrichtung der Initiative. Wird diese nicht wegen eines genehmen Gegenvorschlags zurückgezogen, entscheidet die Stimmbevölkerung voraussichtlich 2026, ob die Schweiz auf lautes Feuerwerk verzichtet. letzen sich bei Fluchtversuche. Hunde leiden so stark, dass ihre Besitzerinnen und Besitzer mit ihnen ins nahe Ausland ausweichen. Gefahr für Menschen Auch Menschen setzt der Lärm zu, besonders älteren und psychisch belasteten, so die Initianten. Die Lautstärke von Feuerwerk ist gesetzlich auf 120 Dezibel begrenzt, aus einem bestimmten Abstand. Zum Vergleich: Ein Presslufthammer erreicht 100 Dezibel. Feuerwerk führt überdies zu Unfällen und Bränden. Zwischen 2018 und 2022 ereigneten sich laut der Beratungsstelle für Unfallverhütung jährlich rund 200 Unfälle an 1.-AugustFeiern, meist Verbrennungen und Gehörschäden. Häufige Ursachen: Basteleien, Ablenkung und Leichtsinn. Letzten Silvester kam es zu einem Todesfall: Ein 46-Jähriger starb im Kanton Luzern, als er an einer Böller-Abschusseinrichtung hantierte. Und im Kanton Wallis wurde eine 14-Jährige schwer verletzt, als ein Feuerwerkskörper mitten in einer Menschenmenge detonierte. Die Initianten erwähnen zudem Umweltprobleme: Über eine Tonne Abfall bleibt liegen, und die Feinstaubbelastung steigt. Feinstaub ist eines der Produkte, das beim Abbrennen von Feuerwerk entsteht, nebst Kohlendioxid und weiteren. Laut der Studie des Bundesamts für Umwelt von 2014 wird der Feinstaub-Tagesgrenzwert am 1. August und Silvester «häufig überschritten». Über das Jahr gesehen macht Feuerwerk jedoch nur rund zwei Prozent des gesamten Feinstaubausstosses aus. Die Behörde rät älteren Menschen und Personen mit Atemwegs- oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Feuerwerken fernzubleiben. Parlament prüft Gegenvorschlag Die Initiative ist in Bundesbern hängig. Der Bundesrat empfiehlt, sie abzulehnen. Eine nationale Regelung sei unnötig, da Kantone und Gemeinden bereits Verbote aussprechen könnten. Doch das Parlament zeigt sich kompromissbereit. Die vorberatenden Kommissionen von Ständerat und Nationalrat stimmten im Januar und im April 2025 der Ausarbeitung eines indirekten Gegenvorschlags zu. Das Anliegen, Mensch und Tier vor der Lärmbelästigung zu schützen, sei «gerechtfertigt». Der Gegenvorschlag soll ein Verbot von reinen Knallkörpern ohne visuelle Effekte ins Sprengstoffgesetz aufnehmen. Liegt das Entgegenkommen auch an den Umfragen, die der Initiative Die junge Bodencrew des Raketenstarts ist mit dem Feuerzeug am Werk. Ein risikoreicher Moment: Am Nationalfeiertag werden Jahr für Jahr rund 200 Unfälle mit Feuerwerk gezählt. Foto Keystone www.feuerwerksinitiative.ch Schweizer Revue / Juli 2025 / Nr.3 10 Gesellschaft

THEODORA PETER Die Klimaerwärmung setzt dem ewigen Eis in den Alpen immer stärker zu. In der Schweiz verloren die Gletscher seit dem Jahr 2000 fast 40 Prozent ihres Volumens – allein in den Extremjahren 2022 und 2023 schmolzen 10 Prozent des hiesigen Gletschereises. Auch im Sommer 2024 schrumpften die Gletscher weiter, obwohl im Winter zuvor aussergewöhnlich viel Schnee gefallen war. Um den Ernst der Lage weltweit zu demonstrieren, haben die Vereinten Nationen das laufende Jahr zum Internationalen Jahr der Gletscher ausgerufen. Tatsächlich drängt die Zeit: Wenn es nicht gelingt, den globalen Anstieg der Temperaturen auf unter zwei Grad Celsius zu stabilisieren, könnten die Schweizer Gletscher bis Ende dieses Jahrhunderts ganz verschwunden sein. Doch auch bei einem griffigen Klimaschutz wird in der Schweiz bis 2100 nur noch ein Viertel der heutigen Eismasse vorhanden sein. Damit schmelzen auch die Möglichkeiten, die in den Gletschern gespeicherte Umweltgeschichte für die Forschung zu erhalten. Denn in den tiefen Eisschichten, die Tausende von Jahren alt sind, finden sich chemische und biologische Spuren. Diese zeigen, wie sich das Klima im Laufe der Zeit entMit den Gletschern schmilzt das Klima-Gedächtnis Die Gletscher speichern nicht nur riesige Wassermengen, ihre Eisschichten erzählen auch die Klimageschichte früherer Epochen. Um dieses vom Verschwinden bedrohte Archiv zu retten, sammeln Forschende weltweit Eiskerne – auch in der Schweiz. wickelte und welchen Umwelteinflüssen die Menschheit in verschiedenen Epochen ausgesetzt war. «Bibliothek» für die Nachwelt Das vor zehn Jahren lancierte Projekt «Ice Memory» hat sich zur Aufgabe gemacht, Eiskerne von besonders bedrohten Gletschern zu sichern – bevor dies zu spät ist. Zu den Promotoren der französisch-italienisch-schweizerischen Initiative, die auch von der UNESCO unterstützt wird, gehört der renommierte Schweizer Klimaphysiker Thomas Stocker. «Wir müssen dieses Erbe für kommende Generationen Wirkt fast etwas verloren: Das Zeltlager des Forschungsteams im nicht mehr gar so ewigen Eis am Lyskamm im Monte-Rosa-Massiv. Foto Riccardo Selvatico, Ice Memory Foundation Schweizer Revue / Juli 2025 / Nr.3 11 Natur und Umwelt

gen gar bis hinunter auf das Felsbett in über 80 Metern Tiefe. Diese Proben sind besonders eindrücklich: Sie erzählen die Klima- und Umweltgeschichte von 10000 Jahren und stellen somit das älteste Eis der Alpen dar. Im Herbst 2023 gelang am nahegelegenen Lyskamm eine weitere Bohrung bis auf 100 Meter Tiefe. Dieses Eis ist mit geschätzten 150 bis 200 Jahren jedoch deutlich jünger. Insgesamt sollen im Rahmen von «Ice Memory» innerhalb von 20 Jahren weltweit 20 Eiskerne von bedrohsichern», sagt Stocker, der die «Ice Memory»-Stiftung strategisch begleitet. Zu diesem Zweck entsteht in der Antarktis ein Archiv. In dieser «Bibliothek» wird jeweils einer von zwei am selben Ort erbohrten Eiskerne hinterlegt – das andere Exemplar dient der aktuellen Forschung. Die Hinterlassenschaft soll künftigen Forschergenerationen ermöglichen, mit dannzumal neuen Methoden noch mehr über die Klima- und Umweltgeschichte des Planeten herauszufinden. Die Bauarbeiten für die «Ice Memory»-Schneekaverne in der Antarktis starten laut Stocker Ende 2025. Standort ist die internationale Forschungsstation Concordia, wo jüngst mit Schweizer Beteiligung ein mehr als 1,2 Millionen Jahre alter Eiskern an die Oberfläche geholt wurde (siehe Kasten auf Seite 13). Luftverschmutzung nachzeichnen Während Bohrungen in der Antarktis weit zurückreichende Einblicke in die Dynamiken früherer Eiszeiten ermöglichen, sind die Kernbohrungen auf Gletschern aus anderen Gründen von Interesse: «Diese Informationen sind deshalb einzigartig, weil sie aus stärker besiedelten Regionen stammen, wo die Luftverschmutzung grösser ist als in der Antarktis», erklärt Stocker. insbesondere der Alpenraum sind in den letzten zehn Jahren mit einer starken Erhitzung konfrontiert», sagt Klimaexperte Thomas Stocker. Vor allem in den letzten vier Jahren seien die Veränderungen enorm. «Für die Gletscher hat dies zur Folge, dass Schmelzwasser in tiefere Schichten eindringt und die Klimasignaturen auswäscht.» Dies erlebte eine «Ice Memory»-Expedition 2020 auf dem hochalpinen Corbassière-Gletscher am Grand Combin im Kanton Wallis. Während eine erste Bohrung 2018 noch stabile Resultate ergeben hatte, zeigte eine vergleichbare Bohrung zwei Jahre später Symptome einer fortgeschrittenen Gletscherschmelze. Die Spurenstoffe waren regelrecht weggespült worden. Mit anderen Worten: Der Corbassière-Gletscher ist als Klimaarchiv weitgehend unbrauchbar geworden. 10 000 Jahre altes Eis vom Monte-Rosa-Massiv Besser sah die Situation für eine spätere Expedition am Monte-RosaMassiv im Grenzgebiet zwischen der Schweiz und Italien aus. Auf dem Gletschersattel des Colle Gnifetti auf 4500 Metern über Meer konnten 2021 mehrere gut erhaltene Eiskerne gesichert werden. Zwei Bohrungen gelanSo lassen sich zum Beispiel die Folgen der Industrialisierung auf die Luftqualität und das Klima nachzeichnen. Auch finden sich im Eis Spuren historischer Ereignisse wie den Atomtests in den 1960er-Jahren. Viel Zeit für die Rettung dieser Archive bleibt nicht. «Die Schweiz und Das Bruchstück eines am Lyskamm ans Tageslicht gebrachten Bohrkerns zeigt Einschlüsse aus einer fernen Vergangenheit. Rechts: Das Team im schützenden Bohrzelt Fotos Riccardo Selvatico, Ice Memory Foundation Seite rechts: In der Antarktis geborgene Bohrkerne werden in Stücke zersägt, die dann den Forschenden – auch jenen in Bern – zur Verfügung stehen. Foto ZVG Laut Thomas Stocker sind Bohrungen in den Alpen besonders wichtig, weil in hiesigen Gletschern Spuren der zivilisatorischen Entwicklung konserviert sind. Foto Universität Bern Schweizer Revue / Juli 2025 / Nr.3 12 Natur und Umwelt

Ohne griffigen Klimaschutz könnten die Schweizer Gletscher bis zum Jahr 2100 ganz verschwinden. Weltweit ältester Eiskern auf dem Weg nach Bern In der Antarktis ist es einem europäischen Forschungsteam Anfang 2025 gelungen, 2800 Meter in die Tiefe bis auf das Grundgestein zu bohren. Dieser durchgehende Eiskern ermöglicht eine noch nie dagewesene Aufzeichnung der Klimageschichte, die über 1,2 Millionen Jahre in die Vergangenheit zurückreicht. Die ersten Analysen deuten darauf hin, dass in einem Meter Eis mehr als 13000 Jahre an Klimadaten komprimiert sind. An dem von der EU finanzierten Projekt «Beyond EPICA» ist auch die Universität Bern beteiligt. Ihre Abteilung für Klima- und Umweltphysik ist spezialisiert auf die Analyse von Treibhausgasen, die sich in den im Eis eingeschlossenen Luftblasen finden. «Wir können im Herbst mit unseren Untersuchungen starten», freut sich Klimaphysiker Hubertus Fischer. Er erhofft sich neue Erkenntnisse zum Zyklus der Eiszeiten. «Vor 1,5 Millionen Jahren gab es alle 40 000 Jahre eine Eiszeit, später verlangsamte sich dieser Zyklus bekanntlich auf 100000 Jahre.» Die Forschenden möchten herausfinden, was die Gründe dafür waren – dabei seien die Treibhausgase «die üblichen Verdächtigen», wie Fischer sagt. «Wenn wir das Klimasystem der Vergangenheit noch besser verstehen, ermöglicht dies präzisere Vorhersagen für die Zukunft.» Kühlraum für -50 °C nötig Die wertvolle Fracht wird im Laufe des Sommers in Bern erwartet. Die Uni Bern baute dazu extra einen neuen Kühlraum für Temperaturen von minus 50°C ein. Bislang konnten Eisproben in Bern bei minus 25 °C gelagert werden. «Für bestimmte Messungen muss das Eis sehr kalt gelagert werden, damit es sich nicht verändert», erklärt der Wissenschaftler. Eine Notstromversorgung sichert die Kühlkette im Falle eines Blackouts. In der Antarktis zersägten die Forschenden den Bohrkern bereits in ein Meter lange Stücke, bevor das Eis bei -50°C über den Atlantik und das Mittelmeer nach Italien verschifft wurde – quer durch tropische Breitengrade mit hohen Lufttemperaturen. Weiter ging es auf dem Landweg ins norddeutsche Bremerhaven, wo die Proben im Eislabor des Alfred-Wegener-Institutes weiter «filetiert» werden, bevor sie europaweit an die beteiligten Forschungsinstitutionen verteilt werden – auch nach Bern. (TP) www.beyondepica.eu ten Gletschern gesichert werden – ausserhalb der Alpen unter anderem in Norwegen, im Kaukasus, in den südamerikanischen Anden oder im Himalaya. Eine geplante Expedition zum Kilimandscharo scheiterte 2022 an bürokratischen Hürden der tansanischen Behörden. Der höchste Berg Afrikas beherbergt den einzigen verbliebenen Gletscher des Kontinentes – der schon in den nächsten Jahrzehnten ganz verdampfen dürfte. www.ice-memory.org Schweizer Revue / Juli 2025 / Nr.3 13

CHRISTOF FORSTER An den Gesichtern der Bundesratsdelegation konnte man ablesen, wie sehr sie die Zollankündigung der USA mitgenommen hat. Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter und Wirtschaftsminister Guy Parmelin erklärten Anfang April vor den Medien die Reaktion des Bundesrats. Man verzichte auf Gegenmassnahmen. Am Vortag hatte US-Präsident Donald Trump in einer Show im Rosengarten den exorbitant hohen Tarif von 31 Prozent auf Importe aus der Schweiz verkündet. Vorerst ausgenommen sind Pharmaprodukte. Grund dafür sind angeblich unfaire Handelsmethoden und Währungsmanipulationen. Was in der Wahrnehmung der Schweiz alles noch viel schlimmer machte: Die Schweiz (und Liechtenstein) traf es im April auf dem alten Kontinent am härtesten. Die EU wurde mit einem Zoll von 20 Prozent belegt. Dabei zählte man hierzulande darauf, dass der US-Präsident wenig vom europäischen Staatenbund hält. Der Glaube an den Schweizer Sonderfall wurde auf die harte Tour entlarvt. Überhaupt wähnte sich die Schweiz lange auf der sicheren Seite und hoffte, von hohen Zöllen verschont zu bleiben. Gründe dafür waren schnell gefunden. Die Schweiz erhebt auf US-Importe praktisch keine Zölle. Zwar ist der Exportüberschuss im Güterhandel relativ hoch – vor allem wegen der Pharma-Exporte in die USA. Aber in eine ganzheitliche Betrachtung gehöre auch der Handel mit Dienstleistungen, so die Lesart in Bundesbern. Und hier haben die USA klar die Nase vorn. Ausserdem investieren Schweizer Unternehmen kräftig in den Vereinigten Staaten. Die Schweiz liegt an sechster Stelle. So gesehen muten die Zölle gegen die Schweiz «fast wie ein Betriebsunfall» an, wie eine Bundesvertreterin etwas ratlos vor den Medien sagte. Gutes Einvernehmen während erster Amtszeit Zum guten Gefühl beigetragen hat wohl auch das ziemlich harmonische Einvernehmen zwischen Bern und Washington in der ersten Amtszeit von Trump. Noch einige Wochen vor der kalten Zoll-Dusche meinte Unternehmerin und SVP-Nationalrätin Magdalena Martullo-Blocher, Trump liebe die Schweiz. Die Schweiz werde bald ein Freihandelsabkommen haben mit den USA. Und Bundesrat Albert Rösti sagte kurz vor der US-Wahl vor Gymnasiasten, er persönlich tendiere eher zu Trump. Trump und die Schweiz: Zölle, Zank – und Zuneigung Lange wähnte sich die Schweiz auf der sicheren Seite. Dann traf sie der Trumpsche Zollhammer umso unvermittelter. Die offizielle Schweiz zeigte sich schockiert und enttäuscht über die «Schwesterrepublik». Vermutlich ist die Zoll-Geschichte weit mehr als ein Betriebsunfall, wie ein Blick in die Geschichte zeigt. Diese ist geprägt vom Glauben der Schweiz an eine spezielle Beziehung zu den USA. Trotzdem wird sie immer wieder vor den Kopf gestossen. Gerne sieht man sich als Schwesterrepublik. Hatte nicht auch Trump die Schweiz eine «sister republic» genannt? Das stimmt, wenn man die institutionelle Geschichte der beiden Länder betrachtet, die sich fast parallel entwickelte. Als sich die USA 1776 eine neue Verfassung gaben, liessen sie sich auch von Schweizer Denkern inspirieren. Als sich die Schweiz dann später zu einem Bundesstaat konstituierte, übernahm sie zentrale USamerikanische Konzepte, von den Menschenrechten bis zum ZweikamDas Dokument zur Schweizer Schreckerfahrung: Auf der von Donald Trump am 2. April 2025 vorgelegten Liste der mit Strafzöllen belegten Länder figuriert die Schweiz in der hart getroffenen «Spitzengruppe». Foto Keystone Schweizer Revue / Juli 2025 / Nr.3 14 Wirtschaft

ren, bei Forschung und Entwicklung sogar die grössten. Politiker haben auch laut darüber nachgedacht, aus dem Kampfjet-Deal mit den USA auszusteigen. Dass die Schweiz etwas zu bieten hat, sehen inzwischen offenbar auch die USA so. Jedenfalls gehört die Schweiz nun zu einer Gruppe von 15 Ländern, mit denen Washington prioritär einen Handelsvertrag abschliessen will. In solchen Verhandlungen könnte Bundesbern etwa weitere Direktinvestitionen von Schweizer Firmen in den USA von rund 150 Milliarden Franken in die Waagschale werfen. Etwa die Hälfte davon kommt von Novartis und Roche. Spielraum bei Avocados und Mandeln Goodwill könnte sich die Schweiz auch über eine verstärkte Zusammenarbeit beim Aufbau des Lehrlingswesens in den USA sichern. Trump selbst hat jüngst eine Berufsbildungsinitiative angekündigt. Verhandelt wird aber über Zölle, nichttarifäre Handelshemmnisse wie etwa Kontingente, Subventionen, Steuern und den Handel mit Gütern. Keller-Sutter möchte den «Basiszoll», der trotz Aufschub weiterhin auf allen Importen gilt, ganz wegbringen. Der Bundesrat wird aber kaum darum herumkommen, bei der Landwirtschaft Zugeständnisse zu machen. Hier gibt es laut Bund bei Produkten wie Mandeln oder Avocados, die in der Schweiz nicht hergestellt werden, Verhandlungsspielraum. Der nächste Schritt ist eine gemeinsame Absichtserklärung, die bei Redaktionsschluss von Ende Mai noch nicht vorlag. Danach soll verhandelt werden. Angesichts der zahlreichen Kehrtwenden und Überraschungen im Weissen Haus ist allerdings auch dieser grobe Fahrplan mit Vorsicht zu geniessen. mersystem des Parlaments. Diese Ähnlichkeiten beim Staatsverständnis und bei der Selbstverantwortung spielen jedoch in der Realität, wenn es hart auf hart kommt, keine Rolle. Da setzen die USA ohne Nachsicht auf die Macht des Stärkeren, um ihre Interessen durchzusetzen. Es beginnt gleich nach dem Zweiten Weltkrieg, als Washington die Schweiz drängt, Entschädigungszahlungen zu leisten für ihre Verstrickungen mit NaziDeutschland. In den 1990er-Jahren kommt die Schweiz wegen der nachrichtenlosen Vermögen und dem Raubgold aus der Nazi-Zeit an den Pranger. Unter grossem internationalem Druck willigten UBS und CS ein, Holocaust-Opfer oder deren Nachfahren mit 1,25 Milliarden Dollar zu entschädigen. Auch beim Bankgeheimnis bekam die Schweiz die volle Wucht des US-amerikanischen Einflusses zu spüren. 2008 musste die Schweiz das Bankgeheimnis lockern und die Namen von Tausenden von mutmasslichen Steuerbetrügern an die US-Steuerbehörden liefern. Keller-Sutter telefoniert mit Trump Die Schweiz hat sich jeweils arrangiert mit dem Druck der grossen Schwester aus Übersee. Und so dürfte es auch beim Streit um die Zölle sein. Inzwischen sind die USA das wichtigste Exportland der Schweiz – noch vor Deutschland. Nachdem Bundesbern zunächst nur Zugang zu unteren Chargen in Washington hatte, ist inzwischen die Verbindung ins Weisse Haus gelegt. Bundespräsidentin Keller-Sutter stellte in einem Telefonat mit Trump Angebote zur Entschärfung des Handelsdisputs in Aussicht. Kurz danach gab Trump bekannt, die verhängten Zölle für alle Handelspartner 90 Tage lang auszusetzen. Ein Artikel der «Washington Post» nährte in den Schweizer Medien Spekulationen über die Rolle von Keller-Sutter bei Trumps Entscheid. Sie habe den Präsidenten auf die Konsequenzen seiner Zollpolitik aufmerksam gemacht und zum Einlenken gedrängt, schrieb die «Post». Die Bundespräsidentin widersprach dieser Erzählung freilich nicht, als sie später von einem Journalisten auf ihre Rolle angesprochen wurde. «Das hoffe ich», sagte sie lächelnd, «er sollte auf Frauen hören.» Der Glaube an eine besondere Beziehung zu den USA bleibt stark. Trotz der eindeutigen Kräfteverhältnisse will die Schweiz gegenüber Trump nicht einfach als Bittstellerin auftreten. Er machte sich auch schon lustig über ausländische Politiker, die um einen Deal bettelten. Der Präsident akzeptiert nur Stärke, Schwäche verachtet er. Die Schweiz hat ihre Trümpfe. Schweizer Firmen sind in der industriellen Produktion die viertgrössten ausländischen InvestoWirtschaftsminister Guy Parmelin und Bundespräsdentin Karin Keller-Sutter am Tag nach den Zollankündigungen. Ihr Gesichtsausdruck widerspiegelt die Konsternation in Bundesbern. Foto Keystone Donald Trump nannte den Tag der Zollankündigungen «Liberation Day». Nachdem er die Schweiz zunächst überrascht hart anging, zeigt er inzwischen etwas Gesprächsbereitschaft. Foto Keystone Schweizer Revue / Juli 2025 / Nr.3 15

SUSANNE WENGER Ende Oktober 1892 erreichte die 17-jährige Anna Tumarkin den Bahnhof Bern. Sie stammte aus einer russisch-jüdischen Kaufmannsfamilie im bessarabischen Chișinău, der heutigen Hauptstadt Moldawiens. Die junge Frau unternahm die Reise in die Fremde, um studieren zu können – etwas, das Frauen im russischen Zarenreich verwehrt blieb. In der Schweiz hingegen durften Frauen seit den 1860er-Jahren studieren. Ausgerechnet dieses Land, das später bei der Gleichstellung nur zögerlich vorankam, nahm damals eine Vorreiterrolle in Europa ein. Hunderte jüdische Russinnen wählten Bern als Studienort. Sie flohen nicht nur vor Bildungsbarrieren, sondern auch vor politischer Repression und Antisemitismus. Liberale Dozenten an der Berner Hochschule unterstützten die talentierten, mutigen Frauen. Anna Tumarkin war weniger revolutionär gesinnt als manche ihrer Kommilitoninnen. Sie begann rasch ein Studium der Philosophie, Geschichte und Germanistik – der Start einer einzigartigen akademischen Karriere. «Sensationelles Ereignis» 1898 wurde Tumarkin mit 23 Jahren die erste PhilosophieDozentin Europas und die erste reguläre Privatdozentin der Schweiz. Zeitungen im In- und Ausland berichteten über das «sensationelle Ereignis» ihrer Antrittsvorlesung, doch sie verdiente kaum genug zum Leben. 1909 ernannte die Berner Kantonsregierung sie zur ausserordentlichen Professorin für Philosophie und Ästhetik. Damit war sie die erste Frau weltweit, die an einer Universität mit Männern und Frauen auf gewöhnlichem Weg Professorin mit allen Rechten wurde. Insgesamt lehrte sie 45 Jahre lang in Bern. Heute erinnert ein kurzer Weg nahe der Universität an sie. Doch trotz ihrer bahnbrechenden Leistungen ist Tumarkin in der Schweiz kaum bekannt. Eine Philosophiestudentin bemerkte bei einem Podiumsgespräch im März in Bern, sie habe den Namen vorher nie gehört. Tumarkin gehöre in die Lehrpläne, forderte sie. Der 150. Geburtstag bot immerhin Anlass, die Philosophin ins Gedächtnis zu rufen. Neben Veranstaltungen und einer Ausstellung an der Universität Bern erschien eine umfassende Biografie der Historikerin Franziska Rogger. Das Buch beleuchtet Tumarkins Leben und Wirken detailliert und ordnet es historisch ein. «Weitherzige» Schweiz Rogger beschreibt Tumarkin als unprätentiöse Akademikerin, die «in stiller Wissenschaft aufging» und von ihren Studentinnen und Studenten verehrt wurde. Sie arbeitete hart, steckte Rückschläge, Neid und Spott weg. Mehrmals war sie die einzige Rednerin bei internationalen Philosophie-Kongressen. 1927 lobte der Berner «Bund» ihre «Gedankentiefe». Schwer belastete sie das Schicksal ihrer Familie, die in zwei Weltkriegen, russischen Pogromen und Nazi-Terror ausgelöscht wurde. Sie blieb die einzige Überlebende. 1921 erhielt Tumarkin das Schweizer Bürgerrecht. «Die Freiheit und Weitherzigkeit in der Schweiz haben mir erlaubt, eine zweite Heimat zu finden, die Heimat meiner geistigen Ausbildung und Betätigung», schrieb sie den Behörden. Sie sprach von «mannigfachsten Banden der Anhänglichkeit und Dankbarkeit». Rogger hebt auch Tumarkins Engagement in der Schweizer Frauenbewegung hervor. Gemeinsam mit ihrer Lebensgefährtin, der Medizinerin und ersten Berner Schulärztin Ida Hoff (1880–1952), setzte sie sich – nach anfänglichem Zögern – für das Frauenstimmrecht ein. In ihren späten Jahren veröffentlichte Tumarkin eine vielbeachtete Schrift über das «Wesen und Werden der schweizerischen Philosophie». Darin attestierte sie der Schweiz eine eigenständige Denkkultur, geprägt von Sachlichkeit und Lebensnähe. Im August 1951 starb Anna Tumarkin nach längerer Krankheit im 77. Lebensjahr. Nachrufe würdigten sie als «hochgelehrte, edle Frau» und «überragende, feinsinnige Persönlichkeit». Sie wurde in Bern zur ersten Professorin der Welt Weil sie als Frau nicht studieren durfte, verliess Anna Tumarkin 1892 ihre russische Heimat und kam an die Universität Bern. Dort brachte es die Philosophin zur ersten Professorin weltweit. Zu ihrem 150. Geburtstag wird die wenig bekannte Pionierin geehrt. FRANZISKA ROGGER: «Anna Tumarkin (1875–1951) Das schicksalhafte Leben der ersten Professorin» Stämpfli-Verlag, Bern 2025, 496 Seiten, in deutscher Sprache. 44 Franken. Anna Tumarkin kam sehr jung, mit 17, in die Schweiz und kletterte stetig die akademische Karriereleiter hoch. Foto Keystone Schweizer Revue / Juli 2025 / Nr.3 16 Portrait

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