Schweizer Revue 3/2025

SUSANNE WENGER Ende Oktober 1892 erreichte die 17-jährige Anna Tumarkin den Bahnhof Bern. Sie stammte aus einer russisch-jüdischen Kaufmannsfamilie im bessarabischen Chișinău, der heutigen Hauptstadt Moldawiens. Die junge Frau unternahm die Reise in die Fremde, um studieren zu können – etwas, das Frauen im russischen Zarenreich verwehrt blieb. In der Schweiz hingegen durften Frauen seit den 1860er-Jahren studieren. Ausgerechnet dieses Land, das später bei der Gleichstellung nur zögerlich vorankam, nahm damals eine Vorreiterrolle in Europa ein. Hunderte jüdische Russinnen wählten Bern als Studienort. Sie flohen nicht nur vor Bildungsbarrieren, sondern auch vor politischer Repression und Antisemitismus. Liberale Dozenten an der Berner Hochschule unterstützten die talentierten, mutigen Frauen. Anna Tumarkin war weniger revolutionär gesinnt als manche ihrer Kommilitoninnen. Sie begann rasch ein Studium der Philosophie, Geschichte und Germanistik – der Start einer einzigartigen akademischen Karriere. «Sensationelles Ereignis» 1898 wurde Tumarkin mit 23 Jahren die erste PhilosophieDozentin Europas und die erste reguläre Privatdozentin der Schweiz. Zeitungen im In- und Ausland berichteten über das «sensationelle Ereignis» ihrer Antrittsvorlesung, doch sie verdiente kaum genug zum Leben. 1909 ernannte die Berner Kantonsregierung sie zur ausserordentlichen Professorin für Philosophie und Ästhetik. Damit war sie die erste Frau weltweit, die an einer Universität mit Männern und Frauen auf gewöhnlichem Weg Professorin mit allen Rechten wurde. Insgesamt lehrte sie 45 Jahre lang in Bern. Heute erinnert ein kurzer Weg nahe der Universität an sie. Doch trotz ihrer bahnbrechenden Leistungen ist Tumarkin in der Schweiz kaum bekannt. Eine Philosophiestudentin bemerkte bei einem Podiumsgespräch im März in Bern, sie habe den Namen vorher nie gehört. Tumarkin gehöre in die Lehrpläne, forderte sie. Der 150. Geburtstag bot immerhin Anlass, die Philosophin ins Gedächtnis zu rufen. Neben Veranstaltungen und einer Ausstellung an der Universität Bern erschien eine umfassende Biografie der Historikerin Franziska Rogger. Das Buch beleuchtet Tumarkins Leben und Wirken detailliert und ordnet es historisch ein. «Weitherzige» Schweiz Rogger beschreibt Tumarkin als unprätentiöse Akademikerin, die «in stiller Wissenschaft aufging» und von ihren Studentinnen und Studenten verehrt wurde. Sie arbeitete hart, steckte Rückschläge, Neid und Spott weg. Mehrmals war sie die einzige Rednerin bei internationalen Philosophie-Kongressen. 1927 lobte der Berner «Bund» ihre «Gedankentiefe». Schwer belastete sie das Schicksal ihrer Familie, die in zwei Weltkriegen, russischen Pogromen und Nazi-Terror ausgelöscht wurde. Sie blieb die einzige Überlebende. 1921 erhielt Tumarkin das Schweizer Bürgerrecht. «Die Freiheit und Weitherzigkeit in der Schweiz haben mir erlaubt, eine zweite Heimat zu finden, die Heimat meiner geistigen Ausbildung und Betätigung», schrieb sie den Behörden. Sie sprach von «mannigfachsten Banden der Anhänglichkeit und Dankbarkeit». Rogger hebt auch Tumarkins Engagement in der Schweizer Frauenbewegung hervor. Gemeinsam mit ihrer Lebensgefährtin, der Medizinerin und ersten Berner Schulärztin Ida Hoff (1880–1952), setzte sie sich – nach anfänglichem Zögern – für das Frauenstimmrecht ein. In ihren späten Jahren veröffentlichte Tumarkin eine vielbeachtete Schrift über das «Wesen und Werden der schweizerischen Philosophie». Darin attestierte sie der Schweiz eine eigenständige Denkkultur, geprägt von Sachlichkeit und Lebensnähe. Im August 1951 starb Anna Tumarkin nach längerer Krankheit im 77. Lebensjahr. Nachrufe würdigten sie als «hochgelehrte, edle Frau» und «überragende, feinsinnige Persönlichkeit». Sie wurde in Bern zur ersten Professorin der Welt Weil sie als Frau nicht studieren durfte, verliess Anna Tumarkin 1892 ihre russische Heimat und kam an die Universität Bern. Dort brachte es die Philosophin zur ersten Professorin weltweit. Zu ihrem 150. Geburtstag wird die wenig bekannte Pionierin geehrt. FRANZISKA ROGGER: «Anna Tumarkin (1875–1951) Das schicksalhafte Leben der ersten Professorin» Stämpfli-Verlag, Bern 2025, 496 Seiten, in deutscher Sprache. 44 Franken. Anna Tumarkin kam sehr jung, mit 17, in die Schweiz und kletterte stetig die akademische Karriereleiter hoch. Foto Keystone Schweizer Revue / Juli 2025 / Nr.3 16 Portrait

RkJQdWJsaXNoZXIy MjYwNzMx