Schweizer Revue 4/2025

OKTOBER 2025 Die Zeitschrift für Auslandschweizer:innen Taut der Permafrost und bröckeln die Berge, erschüttert dies das Bild vom Leben in den Alpen Wo komme ich her, wo liegen meine Wurzeln? Ahnenforschung als emotionale Spurensuche In Graubünden blieben Autos bis 1925 verboten, doch heute ist dort die Autodichte auffällig hoch

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Der Herbst in der Schweiz von seiner schönsten Seite? Da lässt sich vieles aufzählen. Faulenzen in der Oktobersonne am Waldrand; Boule-Spielen mit guten Freunden und Freundinnen im Stadtpark; Wandern in den Voralpen; Blättern im neuen Theater- und Konzertprogramm; die letzten Tomaten ernten; die ersten Kastanien rösten. – Immer noch nachhallend ist allerdings auch das, was diesen Sommer die Schweiz erschüttert hat. Am 1. August 2025 etwa ging der grösste Knall nicht vom landauf, landab gezündeten Feuerwerk aus, sondern von US-Präsident Donald Trump. Er beschenkte die Schweiz an ihrem Nationalfeiertag mit Warenzöllen von 39 Prozent. In Europa der herausragende Rekordwert. Seither fragt sich die Schweiz, die selber keinerlei Zölle auf US-Waren erhebt, wofür genau sie da bestraft wird. Die Folgen sind noch unabsehbar. Teile der Schweizer Industrie leiden bereits spürbar. Erste Firmen können ihre Mitarbeitenden nicht mehr wie bisher weiterbeschäftigen. Den 1. August hätten viele lieber genutzt, um eine andere, gewaltige Erschütterung gemeinsam zu verarbeiten: den Bergsturz von Blatten, der am 28. Mai 2025 nicht nur ein ganzes Dorf begrub, sondern seither bisherige Gewissheiten erschüttert. Was heisst es fürs Leben in den Bergen, wenn der Permafrost schmilzt und im Extremfall Berggipfel zu Tal stürzen? Was heisst es, wenn solches öfters geschieht? Und was geschieht mit dem Zusammenhalt im Lande, wenn die Menschen von Blatten jetzt vom Wiederaufbau ihres Dorfes reden – und Städterinnen und Städter davon, dass das doch sinnlos sei? Den erschütterten Gewissheiten im Bergtal und dem erschütterten Verhältnis Schweiz–USA gehen wir in dieser «Revue» nach. Ein drittes Thema kommt dazu, das Gewissheiten schaffen oder erschüttern kann: die Ahnenforschung. Die Zahl der Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer, die nach ihren Schweizer Wurzeln suchen, ist hoch. Tendenz steigend. Machen sich die Suchenden dabei auch noch gleich auf den Weg in die Schweiz, sind die bewegenden Momente unausweichlich, sagt Ahnenforscher Kurt Münger in unserer Reportage: «Für die Nachfahren ist es eine emotionale Reise zu den eigenen Wurzeln.» MARC LETTAU, CHEFREDAKTOR Eine weitere «Erschütterung» beschäftigt uns: Der Bund hat angekündigt, Subventionen zu kürzen – auch bei der ASO. Unsere Möglichkeiten, die gedruckte «Schweizer Revue» weiterhin kostenlos zu versenden, werden eng. Spenden aus der Leserschaft sind deshalb wichtiger denn je. Setzen Sie ein Zeichen und zeigen Sie Solidarität mit der «Schweizer Revue»! Mehr dazu auf Seite 33. 4 Schwerpunkt Der Bergsturz von Blatten erschüttert Gewissheiten zum Leben in den Bergen 9 Nachrichten Trumps Zölle von 39 Prozent wirken wie eine Strafe: aber eine Strafe wofür? 10 Gesellschaft Wer nach Ahnen in der Schweiz forscht, begibt sich auf eine emotionale Reise Der Bundesrat will Schweizer Eltern die Adoption ausländischer Kinder verbieten 16 Reportage Bis 1925 blieb in Graubünden das Auto- fahren verboten – mit kuriosen Folgen Nachrichten aus Ihrer Region 20 Politik Eine Erbschaftssteuer für Superreiche? Darüber entscheidet bald das Volk Der Preis steigt und steigt: Der Kauf neuer Kampfjets ist ein Kostendebakel 24 Tourismus Weil Airbnb die Mieter aus dem Quartier verdrängt, geben Städte Gegensteuer 28 Aus dem Bundeshaus Sie steht fürs humanitäre Wirken in der Fünften Schweiz: Elisabeth Eidenbenz 31 SwissCommunity Ein Meinungsbeitrag zur aktuellen Spardebatte: Swissinfo unter Druck Die SwissCommunity Days 2025 waren ein neues Format des Austausches 1/800 000: Susanne Mueller aus den USA legt ein weiteres Puzzle-Teilchen Erschütterungen Titelbild: Steinschlag-Warnschild in den Schweizer Alpen. Foto Keystone (Val dal Botsch), Bildmontage Joseph Haas Herausgeberin der «Schweizer Revue», des Informationsmagazins für die Fünfte Schweiz, ist die Auslandschweizer-Organisation. Flugblatt der Autogegner in Graubünden, 1925 Schweizer Revue / Oktober 2025 / Nr.4 3 Editorial Inhalt Hier spenden

4 Schwerpunkt Taut der Untergrund, wanken die Berge Der verheerende Bergsturz von Blatten (VS) hat die Schweiz erschüttert. Die Katastrophe wirft die Frage auf, wie sicher das Leben in exponierten Alpentälern ist. Forschende warnen davor, dass mit der Klimaerwärmung das Risiko für Bergstürze und Schlammlawinen weiter steigt. Schweizer Revue / Oktober 2025 / Nr.4

5 THEODORA PETER Das Dorf Blatten existiert nicht mehr. Am 26. Mai 2025 verschütteten gegen zehn Millionen Kubikmeter Geröll und Eis die Gemeinde im Walliser Lötschental. Die Bewohnerinnen und Bewohner waren zwei Wochen zuvor in die Nachbardörfer evakuiert worden. Von dort mussten sie fassungslos zuschauen, wie der Birchgletscher um 15.30 Uhr mit einem lauten Knall zerbarst, ins Tal stürzte und das Dorf unter sich begrub. Die Katastrophe war die Folge einer fatalen Kettenreaktion: In den Tagen und Wochen vorher waren vom Kleinen Nesthorn grössere Felsmassen auf den darunter liegenden Gletscher abgebrochen. Dieser hielt dem enormen Druck der Schuttmasse letztlich nicht stand. Gemäss den Forschenden der ETH Zürich, die den Gletscher und das Kleine Nesthorn seit den 1990er-Jahren beobachten, ist es wahrscheinlich, dass der Klimawandel das Auftauen des Untergrunds und die Zunahme von Felsstürzen begünstigt hat. Sie sehen Parallelen zum Bergsturz von Bondo in Graubünden vom August 2017: Damals brachen vom Pizzo Cengalo rund drei Millionen Kubikmeter Fels auf einen kleinen Gletscher ab, rissen diesen teilweise mit und lösten einen Murgang aus. Acht Touristen, die auf Wanderwegen unterwegs waren, starben. Die Bevölkerung in Bondo kam mit dem Schrecken davon, doch verursachte der Murgang schwere Schäden an Häusern und Strassen. Um das Dorf gegen künftige Gefahren zu sichern, investierten die Behörden über 50 Millionen Franken in Schutzbauten, darunter einen Damm gegen Hochwasser. Pläne für raschen Wiederaufbau In Blatten haben die 300 Einwohnerinnen und Einwohner ihr gesamtes Hab und Gut verloren. Ein Mann, der zum Zeitpunkt des Bergsturzes zu seinen Schafen unterwegs gewesen war, wenn man im Exil freundschaftlich empfangen werde: «Das vertraute Zuhause fehlt.» Man spüre, dass viele Menschen unbedingt in «ihr Blatten» zurückkehren möchten. «Wir arbeiten mit vollem Elan daran, dass dies eine Realität wird.» Zunächst wird der Zugang zu den nicht zerstörten Weilern oberhalb des Dorfs erschlossen, bevor ab 2026 der verschüttete Dorfkern freigelegt werden soll. Ab 2029 soll das neue Blatten entstehen, so der Plan. Die Privatversicherer haben rund 300 Millionen Franken für Neubauten in Aussicht gestellt. Hinzu kommen Investitionen der öffentlichen Hand in Der Permafrost, der die Berge wie ein Kitt zusammenhält, taut immer stärker auf. Die Folge: Geröll gerät ins Rutschen, Schmelzwasser dringt in tiefe Schichten und begünstigt die Erosion. wurde später tot aufgefunden. Noch am Tag der Katastrophe rief Gemeindepräsident Matthias Bellwald zum Wiederaufbau des Dorfes auf und sagte dabei den vielzitierten Satz: «Wir haben das Dorf verloren, aber nicht das Herz.» Bereits zwei Wochen später präsentierte der Gemeinderat die Vision einer Rückkehr innerhalb der nächsten fünf Jahre. Es sei wichtig gewesen, eine Perspektive zu vermitteln «und aufzuzeigen, dass der Wiederaufbau machbar ist», erzählt Bellwald, als ihn die «Schweizer Revue» im Juli in Wiler besucht. Vom Nachbarort aus leitet der Gemeindepräsident die Geschicke der Dorfgemeinschaft. 80 Prozent der Blattnerinnen und Blattner sind im Lötschental geblieben, wo sie in Nachbargemeinden Unterschlupf fanden. Der befürchtete Exodus weg vom Tal blieb aus. Das hat auch damit zu tun, dass die Kinder aus Blatten seit jeher in Wiler und Kippel zur Schule gehen. «Für die Schulkinder ist sehr wichtig, dass sie in ihrem gewohnten Umfeld bleiben können», sagt Bellwald. Für die Erwachsenen geht es darum, sich nach einer Phase von Schock und Trauer in einer neuen Normalität zurechtzufinden. «Das ist nicht immer einfach», erklärt der Gemeindepräsident. Auch Strassen, Strom- und Wasserversorgung. Bund und Kanton Wallis haben ihre Unterstützung zugesichert. Solidarisch zeigen sich auch viele Schweizer Gemeinden und Privatpersonen, die für den Wiederaufbau Geld spenden. Nebst der grossen Unterstützung gibt es auch kritische Stimmen, die sich fragen, ob die Natur gewisse Gebiete unbewohnbar macht. Für den Gemeindepräsidenten ist es unvorstellbar, Blatten aufzugeben: «Das ist unsere Heimat und unser Boden.» Das Dorf gehöre den Menschen, die es verloren haben, «und wir haben das Recht, auf unser Land zurückzukehren». Ein «Jahrtausendereignis» wie in Blatten könne letztlich überall passieren. Der Blick auf das verschüttete Dorf Blatten. Der Eis- und Schuttkegel ist zwei Kilometer lang und bis zu 100 Meter tief. Von links donnerte die Schuttlawine ins Tal – und auf der rechten Talseite brandete die Lawine bis zum Weiler Weissenried hoch. Foto Keystone Schweizer Revue / Oktober 2025 / Nr.4 Der Blattner Gemeindepräsident Matthias Bellwald will sein Dorf nicht aufgeben: «Das ist unsere Heimat und unser Boden.» Foto Keystone

«Die Heimat ist ein heikles Thema, wenn jemand sie von aussen zur Disposition stellt» Der Historiker, Ethnologe und Gebirgsforscher Jon Mathieu über die gesellschaftlichen Folgen von Naturkatastrophen und die Identität der Schweiz als Alpenland. rere Jahrhunderte zurückverfolgen. Im konfessionellen Zeitalter verteilte man seine «Liebesgaben» in Form von Geld und Naturalien in erster Linie an Glaubensbrüder, mit der Nationenbildung dann an die Miteidgenossen beiderlei Geschlechts. Der bekannte Auftakt für diese Phase bildete der Bergsturz von Goldau 1806. Der historisch neue «Landammann der Schweiz» erliess einen entsprechenden Aufruf, und die Leute begannen zu ahnen, dass sich seit der «Alten Eidgenossenschaft» etwas geändert hatte. Inwiefern gehört das Bild der AlpenSchweiz zur Identität des Landes? Hat sich dieses Bild im Laufe der Zeit verändert? Erste Ansätze zu einer Alpen-Identität der Eidgenossenschaft gab es im 16. Jahrhundert, als einige Chronisten von einem «Alpenvolk» sprachen, auch um zu betonen, dass sie nicht zu stark INTERVIEW: THEODORA PETER Der Bergsturz von Blatten hat die Menschen im Lötschental zusammengeschweisst. Gilt das auch für die Schweiz? Jon Mathieu: «Zusammenschweissen» ist für die Schweiz wohl zu stark ausgedrückt. Der Bergsturz löste aber eindeutig eine nationale Solidarisierungswelle aus. Besonders berührend waren die Unterstützungsbeiträge, die aus vielen kleinen Gemeinden kamen. Sie wären nicht wirklich verpflichtet gewesen, die Lötschentalerinnen und Lötschentaler zu unterstützen, aber sie haben es getan. Die Präsidentin des Nationalrats nahm dieses Grundgefühl auf und eröffnete die Sommersession mit einer kurzen Ansprache über die Katastrophe unter dem Titel «Gemeinsam für Blatten – ein Land steht zusammen». Weshalb lösen Naturkatastrophen ein solches Wir-Gefühl aus? Empathie und das Gefühl der Zusammengehörigkeit: In schweren Momenten steht man sich bei. Das heisst nicht, dass jetzt alle ein Herz und eine Seele sind, im nächsten Moment kann der Kampf um einen Platz an der Sonne weitergehen. Doch zunächst ist man betroffen, und will etwas tun. Dies lässt sich in der Geschichte mehzum Heiligen römischen Reich deutscher Nation gehören wollten. Wichtig wurde diese Identität aber erst im späten 19. Jahrhundert, etwa mit der Eröffnung der Gotthard-Bahn 1882. Sie war ein Stolz des neu zusammengerückten Bundesstaats und signalisierte der ganzen – westlichen – Welt, dass es hier Berge gibt. Intensiv zelebriert wurde das alpine Selbstbild dann in den Landesausstellungen von 1914 in Bern und 1939 in Zürich. Zufällig öffneten beide Ausstellungen ihre Tore kurz vor den Weltkriegen, die das Land in eine schwierige Situation brachten. Seit den 1960er-Jahren ist diese Identifikation mit den Alpen innenpolitisch rückläufig, international gilt die Schweiz aber weiterhin als Bergland. Darf man beim Schutz vor Naturgefahren die Kosten-Nutzen-Frage stellen – oder gar darüber nachdenken, bisher bewohnte Bergtäler aufzugeben? Man darf alles, läuft aber Gefahr, dass diese Frage auf schlechte Resonanz seitens der Einheimischen stösst. Sie werden antworten, man habe auch nicht darüber diskutiert, ob man Basel aufgeben soll, als es dort ein Erdbeben gab, oder ob man Zürich und Bern evakuieren soll, als es dort zu Überschwemmungen kam. Die Heimat ist ein heikles Thema, wenn jemand sie ungefragt von aussen zur Disposition stellt. Ausserdem sind viele regionale Kosten-Nutzen-Theorien ziemlich laienhaft gemacht und vorurteilsbeladen. Eine wissenschaftliche Analyse dieser komplexen Frage über eine längere Zeit gibt es bisher nicht. Jon Mathieu (*1952) ist emeritierter Professor für Geschichte an der Universität Luzern. 2000 war er Gründungsdirektor des heutigen Laboratoria di Storia delle Alpi an der Università della Svizzera italiana. Foto ZVG Der Bergsturz von Goldau 1806 beförderte den Geist der nationalen Solidarität. Nach der Katastrophe kam es erstmals zu einer landesweiten Spendensammlung. Bild Keystone www.labisalp.usi.ch Schweizer Revue / Oktober 2025 / Nr.4 6 Schwerpunkt

ansteigen. Permafrost, der die Berge wie ein Kitt zusammenhält, findet sich oberhalb von 2500 Metern. Höhere Temperaturen führen dazu, dass Geröll ins Rutschen gerät, Schmelzwasser in tiefe Schichten dringt und die Erosion verstärkt. Auch Starkregen ein wachsendes Risiko Der Klimawandel birgt noch weitere Naturgefahren – nebst zunehmender Trockenheit sind dies häufigere Starkregen: Wärmere Luft kann mehr Wasser aufnehmen. Die grossen Regenmengen in kurzer Zeit haben in Bergtälern aufgrund der Topografie fatale Folgen. Dies zeigte sich im Sommer 2024 im Tessin: Sturzbäche rissen im oberen Maggiatal Häuser, Strassen und Brücken weg. Acht Menschen kamen ums Leben. Die Behörden weiteten danach die Gefahrenzonen aus: Mehrere Häuser in Gewässernähe dürfen nun nicht mehr bewohnt werden. Auch andere Kantone überprüfen ihre Wäre die Gefahrenkarte darauf ausgelegt, «müssten wir die ganze Schweiz umsiedeln». Unsichere Zukunft in Brienz Das Szenario einer Umsiedlung trifft möglicherweise ein anderes Schweizer Bergdorf: Im bündnerischen Brienz ist der Hang oberhalb des Dorfs schon länger in Bewegung geraten («Revue» 5/2023). Im November 2024 mussten die 90 Bewohnerinnen und Bewohner ihre Häuser auf unbestimmte Zeit verlassen. Das von einer Steinlawine bedrohte Dorf darf seither nicht mehr betreten werden. Nach starken Niederschlägen nahmen auch diesen Sommer die Geröllbewegungen wieder zu, bei Redaktionsschluss Mitte August hatte sich die Lage etwas entspannt. Die Behörden beteuern, dass das Dorf nicht aufgegeben werden soll. So soll der Bau eines Entwässerungsstollens für 40 Millionen Franken den Druck auf die Rutschungen reduzieren. Dennoch bereitet man sich in Brienz auf eine mögliche Umsiedlung vor. Den sorgenvollen Blick auf bröckelnde Berge kennt man auch im Berner Oberland, zum Beispiel in Guttannen, das in der Vergangenheit immer wieder Murgänge erlebt hat («Revue» 4/2022). Oder in Kandersteg: Dort wird die instabile Flanke des «Spitze Stei» seit Jahren mit Messinstrumenten und Kameras überwacht. Aufgrund des schmelzenden Permafrostes drohen grosse Felsabbrüche mit Volumen bis zu mehreren Millionen Kubikmetern, die wiederum zu einer Flutwelle führen könnten. Um Kandersteg gegen diese Naturgefahren zu sichern, werden derzeit für 11 Millionen Franken Schutzdämme gebaut. Für die Schweizer Alpen allgemein warnen Forschende davor, dass die Stabilität von Hängen weiter abnehmen könnte. Messungen des Permafrost-Beobachtungsnetzes PERMOS an über 20 Standorten zeigen, dass die Temperaturen im gefrorenen Untergrund in den letzten Jahren deutlich Gefahrenkarten und investieren viel Geld in Dämme gegen Hochwasser und Auffangnetze gegen Steinlawinen. Insgesamt gibt die Schweiz jährlich rund eine Milliarde Franken für den Schutz vor Naturgefahren aus. Dazu gehören auch Frühwarnsysteme, die rechtzeitige Evakuierungen von Siedlungen ermöglichen und dadurch Menschenleben retten. Für die ETH-Klimaforscherin Sonia Seneviratne, Vorstandsmitglied des Weltklimarates, sind diese Schutzmassnahmen wichtig. Doch: «Wenn man die langfristig drohenden Entwicklungen betrachtet, sind das eher Notlösungen», gab Seneviratne in einem Interview mit dem Newsportal «Watson» zu bedenken. Die entscheidende Frage sei eine andere: «Wie sinnvoll ist es, in Gebieten zu wohnen und zu bauen, die immer stärker gefährdet sind?» Die Klimaerwärmung werde in den Alpen das Risiko für Steinschläge, Murgänge und Bergstürze weiter erhöhen. Dies sollte man bei der Entwicklung dieser Regionen unbedingt berücksichtigen, betont die Wissenschaftlerin. «Solange wir die CO₂-Emissionen nicht drastisch senken und die Klimaerwärmung nicht stabilisieren, werden sich solche tragischen Situationen kaum verhindern lassen.» Oben: In Bondo (GR) investierte die Behörde 50 Millionen Franken in Schutzbauten – darunter ein Damm und ein Auffangbecken. 2017 hatte ein Murgang das Dorf verwüstet. Rechts: Starke Niederschläge in der Südschweiz richteten im Sommer 2024 grosse Zerstörungen an – im Bild ein weggeschwemmtes Teilstück der A13 bei Lostallo im Misox. Unten: Im Bündner Dorf Brienz rutscht der Hang weiter. Ob die aus ihren Häusern Evakuierten je zurückkehren können, ist ungewiss. Fotos Keystone Schweizer Revue / Oktober 2025 / Nr.4 7

1800 Seiten dicke Lektüre: Der Bundesrat legt Vertragspaket mit der Europäischen Union vor In den Grundzügen war das Vertragspaket, mit dem die Schweiz und die EU ihre Beziehung auf eine neue Grundlage stellen, seit Monaten bekannt. Am 13. Juni 2025 genehmigte die Landesregierung die Vertragstexte und veröffentlichte sie, mit den dazugehörenden Gesetzen und Erklärungen – der offizielle Startschuss zur öffentlichen Diskussion. Das mehr als 1800 Seiten umfassende Paket enthält zwei Teile: die erneuerten bisherigen Abkommen, darunter jenes zur Personenfreizügigkeit («Stabilisierungsteil»), und die neuen Verträge zu Lebensmitteln, Strom und Gesundheit («Weiterentwicklungsteil»). Das Vertragswerk ermöglicht weiterhin den bilateralen Weg, der der Schweiz den Zugang zum europäischen Binnenmarkt sichert. Im Bereich der Zuwanderung konnte sie eine Schutzklausel aushandeln. Ihr werden aber auch Zugeständnisse abverlangt, unter anderem eine dynamische Übernahme von EU-Recht innerhalb der Abkommen. Diese ist im Inland besonders umstritten. Die Vernehmlassung bei Parteien, Verbänden und anderen Interessierten läuft bis Ende Oktober. (RED) Link zum Vertragspaket: www.revue.link/cheu In Frankreich leben, aber in der Schweiz zur Schule gehen: Diese Genfer Besonderheit ist zu Ende Im Juni gab die Genfer Regierung bekannt, dass rund 2500 Kinder von Grenzgängerinnen und Grenzgängern, die in der Schweiz zur Schule gehen, künftig in Frankreich den Unterricht besuchen müssen. Für den Schulbesuch gilt somit jetzt auch in Genf das Wohnsitzprinzip: Zuständig für die Bildung der Kinder ist das Wohnland. Damit endet eine Schweizer Ausnahme, denn in den anderen Grenzkantonen galt bereits bisher: Wer im Ausland lebt und sein Kind in eine Schweizer Schule schickt, bezahlt den vollen Preis für die Ausbildung. Im Fall Genfs geht der Wandel allerdings alles andere als geräuschlos über die Bühne. Die benachbarten französischen Gemeinden protestieren gegen die Massnahme. Sie sei ohne Absprache beschlossen worden. (SH) Mehr dazu in der Online-«Revue»: www.revue.link/schule «20 Minuten», die auflagestärkste Schweizer Tageszeitung, stellt ihre Druckausgabe ein «20 Minuten», die mit 330000 deutschen und 130 000 französischen Exemplaren auflagestärkste Tageszeitung der Schweiz, stellt Ende Jahr ihre Druckausgabe ein und fokussiert sich ganz auf ihren Online-Auftritt. Der Schritt illustriert die Schwierigkeiten und den rapiden Wandel, den die Schweizer Printmedien erfahren. In den letzten zehn Jahren schrumpfte die Auflage der führenden Tageszeitungstitel von 2,51 Millionen auf 1,34 Millionen Exemplare. (MUL) Angela Koller Sie ist Juristin, 42, gehört der Mitte-Partei an und sitzt seit April in der Regierung von Appenzell Innerrhoden. Auf den ersten Blick tönt das unspektakulär. Doch für den kleinen Ostschweizer Kanton ist Angela Kollers Wahl historisch: Zum ersten Mal wählte die Landsgemeinde – die traditionelle Versammlung der Stimmberechtigten unter freiem Himmel – eine Frau zum Landammann, wie hier das Regierungspräsidium heisst. Koller ist die erste Regierungspräsidentin in dem Kanton, der als letzter in der Schweiz das Frauenstimmrecht einführte. Und das nicht freiwillig: Das Bundesgericht zwang ihn 1990 dazu. 35 Jahre später sagt die frisch Gewählte, sie habe als Kantonsparlamentarierin viele Frauen gehört, «die sich eine stärkere Repräsentation wünschen». Das habe sie motiviert zu kandidieren. Mit ihrem Leistungsausweis setzte sie sich, wie üblich per Handmehr, gegen drei Konkurrenten durch. Koller leitete die Parlamentskommission, die für die Totalrevision der Kantonsverfassung zuständig war, und stand der Appenzeller Arbeitnehmervereinigung vor. In Innerrhoden zählen Verbände oft mehr als Parteien. Politisiert wurde Koller früh: Im Wirtshaus ihrer Eltern im ländlichen Gonten hörte sie die Debatten am Stammtisch. Seit ihrer Schulzeit liest sie «fürs Leben gern» und gibt heute Literaturtipps auf Instagram. In der Regierung führt sie zunächst das Erziehungsdepartement. Die Leitung der Exekutive übernimmt sie turnusgemäss in zwei Jahren – in Innerrhoden wechseln sich zwei Landammänner ab. Die Frauen des Kantons hatten lange kein Stimmrecht, aber wirtschaftliche Macht: Ihre Handstickerei war eine wichtige Einkommensquelle. Nun stehen sie auch politisch an der Spitze. SUSANNE WENGER Schweizer Revue / Oktober 2025 / Nr.4 8 Herausgepickt Nachrichten

9 CHRISTOF FORSTER Es war eine Erschütterung, welche die Schweiz bis ins Mark getroffen hat. Ausgerechnet am Schweizer Nationalfeiertag belegte US-Präsident Donald Trump das Land mit einem exorbitant hohen Zoll von 39 Prozent. Nur wenige Länder weltweit haben höhere Strafzölle zu verkraften. Zu spüren bekommen werden den hohen Importzoll vor allem die Maschinenbauer, die Uhrmacher und die Hersteller von Luxusgütern (dazu gehören auch die Nespresso-Kapseln). Die Pharmaindustrie ist ausgenommen. sequenzen seiner Zollpolitik aufzuzeigen. So schrieb jedenfalls die «Washington Post» über das Telefonat. Dies sollte sich indessen als Trugschluss herausstellen, dem wohl auch Keller-Sutter erlegen war. Trump habe viele Fragen gestellt, meinte sie: «Ich habe offensichtlich den Zugang zu ihm gefunden.» In der Folge einigten sich hochrangige Delegationen der beiden Länder auf einen Zoll-Deal. Es fehlte nur noch die Unterschrift von Trump. Doch diese liess auf sich warten. In Bundesbern stiegen die Zweifel. Kurz vor Ablauf des Ultimatums bat Keller-Sutter um ein zweites Telefonat mit dem US-Präsidenten. Wie dieses genau abgelaufen ist, darüber kursieren verschiedene Versionen. Auf jeden Fall brachte es nicht das erwünschte Resultat. Im Gegenteil: Statt den ursprünglich angedrohten 31 Prozent werden nun Schweizer Unternehmen mit einem Zoll von 39 Prozent bestraft. Einmal mehr sieht sich getäuscht, wer an eine besondere Beziehung der beiden «Schwesterrepubliken» glaubte. Es erinnert gegenwärtig eher an das Bild der grösseren Schwester, die der kleineren sagt, was sie zu tun hat. An empfindlicher Stelle getroffen Der angekündigte hohe Zoll löste in der Schweiz nochmals hektische Betriebsamkeit aus. Politiker und Wirtschaftsvertreter suchten verzweifelt nach Möglichkeiten, das Verdikt noch abzuwenden. Das Ganze hatte auch etwas Demütigendes: Während der US-Präsident am TV abschätzig über die Bundespräsidentin sprach, sass diese im Flugzeug in Richtung Washington. Doch die Gespräche brachten keinen Erfolg. Die Schweizer Wirtschaft muss – zumindest vorderhand – mit einem Zoll von 39 Prozent leben. Die hohen Zölle treffen die Schweiz an einer empfindlichen Stelle. Exporte sind die wirtschaftliche Lebensader der Schweiz. Sie haben zum Wohlstand des Landes beigetragen. Lange konnte die Schweiz in den Zeiten des offenen Welthandels profitieren von Status des kleinen Staates, der nicht der EU angehört. Doch dies wird zunehmend ungewiss. Die Gliederung der Welt in Machtblöcke, wie sie sich derzeit abzeichnet, könnte dazu führen, dass sich die Schweiz der EU nähert. Ein erster Schritt dazu wäre die Zustimmung zum neuen Vertragspaket mit der EU. Mehr als ein Zollschock Zunächst hatte es danach ausgesehen, dass die Schweiz zu einer ersten Gruppe von Ländern gehört, die mit den USA einen Zolldeal abschliessen kann. Am 1. August dann kam der Schock: Präsident Trump verhängte einen Zoll von 39 Prozent auf Importe aus der Schweiz. Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter an der Bundesfeier auf der geschichtsträchtigen Rütli-Wiese: Alle Fragen drehten sich um den Zollschock, keine um den Nationalfeiertag. Foto Keystone Verwandtes Thema: der Kauf des US-Kampfjets F-35 als grosses Schweizer Debakel, Seite 23 Umgekehrt hat die Schweiz alle Industriezölle per Anfang 2024 abgeschafft. Über 99 Prozent aller Waren aus den USA können zollfrei in die Schweiz importiert werden. Der Bundesrat zeigte sich konsterniert über Trumps Ankündigung. Der FDP-Parteipräsident sprach von einer «Katastrophe». Die SP hingegen kritisierte die «Anbiederungsstrategie» des Bundesrats gegenüber den USA, die «kolossal» gescheitert sei. Bestürzt zeigte sich der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse. Die hohen Zölle seien weder gerechtfertigt noch nachvollziehbar. «Zugang zu Trump gefunden» Lange wähnten sich Bundesrat und Wirtschaft auf der sicheren Seite. Im April hatte Trump die Schweiz zwar mit einem Zoll von 31 Prozent belegt. Kurz darauf liess sich Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter mit Trump verbinden. Offenbar gelang es ihr, dem US-Präsidenten die KonSchweizer Revue / Oktober 2025 / Nr.4 Nachrichten

DÖLF BARBEN Tracey Jones (56) lebt unweit von Philadelphia und arbeitet an einer Schule. Letztes Jahr hat sie zusammen mit ihrem Mann die Schweiz besucht. In St. Gallen fand sie eines der Häuser, in dem ihre Grossmutter als Kind gelebt hatte. Im Gespräch mit der «Revue» sagt sie, das habe bei ihr tiefe Gefühle ausgelöst. Pete Thalmann (80) lebt in Holliston in der Nähe von Boston. Den Sommer verbringt der ehemalige Elektroingenieur auf der Halbinsel Cape Cod. Er will diesen Herbst in die Schweiz reisen. Das Dörfchen Eggetsbühl bei Wängi (TG) ist eines seiner Ziele. Seine Urgrosseltern hatten dort gelebt. Tracey Jones und Pete Thalmann haben einiges gemeinsam: Beide interessieren sich seit ihrer Jugend für Geschichte, besonders für die ihrer Familien. Beide wollten wissen, woher jene kamen, ohne die sie selbst nicht existieren würden. Beide haben recherchiert, Spuren verfolgt und Hindernisse überwunden. Und beide kennen Kurt Münger. Kurt Münger (74) ist der Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Familienforschung (SGFF). Die Gesellschaft registriere immer mehr Anfragen von Leuten aus dem Ausland, die sich für ihre Schweizer Vorfahren interessieren: «Wir versuchen, ihnen so gut es geht zu helfen. Ehrenamtlich.» Münger ist Ostschweizer, lebt in Gossau. Seine Familie stammt aber aus dem Kanton Bern. In der Zeit um 1900 zogen viele Berner Bauern in den Thurgau und bauten sich dort eine neue Existenz auf. Auch in Müngers Familiengeschichte spielt Auswanderung eine grosse Rolle. Bloss in einem kleineren geografischen Rahmen. Er sehe sich als neugierigen Menschen, sagt er. Er wolle nicht nur staunen, sondern verstehen. Er wurde Chemiker, schrieb eine Doktorarbeit über spezielle Moleküle. Menschen, die aufbrechen, auswandern und sich anderswo niederlassen und neu binden – «das erinnert mich an das, was Moleküle tun». Neugier und Durchhaltewille Neugier sei die Triebfeder aller Ahnenforschenden. Münger spricht von einer gesunden Neugier, die er von Sensationsgier abgrenzt: Sie trage einen immer weiter, sofern man über genügend Durchhaltewillen verfüge. «Solche Forschung ist nicht immer leicht.» Tracey Jones hatte zunächst auf Websites recherchiert und sich durch Archive gegoogelt – bis sie auf Kurt Münger stiess. Er vermittelte ihr eine ortskundige Ahnenforscherin, von der sie die entscheidenden Hinweise erhielt. Schliesslich reiste sie in die Schweiz. Ihre Grossmutter habe nie viel erzählt über ihre Kinder- und Jugendjahre, obschon sie sehr stolz auf ihre Herkunft gewesen sei, sagt Jones. «Zu sehen, wo sie aufgewachsen ist und in welchen Häusern sie lebte, hat mich enorm berührt.» Und als sie ihrem Vater, der nie in der Schweiz war, Fotos davon zeigen konnte, sei der überglücklich gewesen. «Diese Erfahrung ist für mich unbezahlbar.» Pete Thalmann verwendet das Wort unbezahlbar ebenfalls. Als unbezahlbares Geschenk aus der Vergangenheit bezeichnet er einen von seinem Grossvater verfassten Bericht, der in einer Zeitung in Baltimore erschienen ist. Nach seiner Lehre als Damenschneider war John Emotionale Spurensuche in der Schweiz Tracey Jones und Pete Thalmann aus den USA haben in der Schweiz ihre familiären Wurzeln gefunden. Sie zählten dabei auf Profis. Was sie fanden, hat sie tief berührt. Und sie beide illustrieren damit, wie wichtig Ahnenforschung für jene sein kann, die fern von der Heimat ihrer Vorfahren leben. J. Thalmann hinausgezogen in die Welt. In Paris traf er die Liebe seines Lebens: Mathilde Bos. Die beiden verschlug es nach Baltimore. Doch sie wurden von harten Schicksalsschlägen heimgesucht: Sechs ihrer Kinder starben. «Diese Stadt war damals ein Höllenloch», sagt Thalmann. Aus Angst, sie würden alle ihre Kinder verlieren, zogen seine Grosseltern für einige Zeit zurück nach St. Gallen; sein Vater war damals zwei Jahre alt. Thalmann hätte gern herausgefunden, wo sein Vater später die Schule besuchte. «Aber da kam ich nicht weiter.» Er interessiert sich umso mehr für den Charakter seiner Vorfahren. «Mein Grossvater und mein Vater hatten sanfte Seelen. Und doch scheuten sie sich nicht, Risiken einzugehen», sagt er. «Ich bin so, wie sie waren.» Er habe ein eigenes Geschäft aufgebaut und sei ein Draufgänger gewesen. «Und wie sie musste auch ich harte Verluste hinnehmen.» Eine seiner Töchter habe er verloren – und seine Frau. Fehler passieren rasch Heute ist es einfacher als früher, Ahnenforschung zu betreiben. Selbst alte Kirchenbücher sind digitalisiert worden und lassen sich bequem am Computer durchforsten. Zudem gibt es Firmen, die einem diese Arbeit für gutes Geld noch so gerne abnehmen. Bei solchen Angeboten sei jedoch Vorsicht geboten, sagt Kurt Münger. Werde auf die Schnelle recherchiert, passierten rasch Fehler. Was ist zum Beispiel, fragt er, wenn zwei Männer, die den gleichen Namen tragen, als Vorfahren in Frage kommen? Entscheide man sich für den falschen, stimmten ganze Zweige des Stammbaums nicht mehr. In Zweifelsfällen Schweizer Revue / Oktober 2025 / Nr.4 10 Gesellschaft

Ahnenforschung! – Max Spring zeichnet exklusiv für die «Schweizer Revue» Schweizer Revue / Oktober 2025 / Nr.4 11

Tipps für die Suche nach den eigenen Wurzeln Bei den Lebenden anfangen, die Toten rennen einem nicht davon: Das ist eine Grundregel, wenn die Suche nach Vorfahren beginnt. Zunächst Verwandte befragen, die mündlich Auskunft geben können – und sich danach auf die Suche nach anderen Quellen machen. Das Rad nicht neu erfinden: Oft haben andere Leute zur gleichen Familie bereits Recherchen betrieben und Stammbäume gezeichnet. Nach solchen Vorarbeiten gilt es zu suchen. Ahnenforschende in der Schweiz kontaktieren: Die Schweizerische Gesellschaft für Familienforschung (SGFF) kann direkt Hinweise geben oder Anfragen an lokale GenealogieVereine weiterreichen. www.sgffweb.ch werde oft als Lebensziel oder einmaliges Erlebnis empfunden. Tracey Jones und Pete Thalmann bestätigen es. Für sie sei es sehr wichtig, das Wissen um ihre Schweizer Wurzeln festzuhalten und an ihre beiden Töchter weiterzugeben, sagt Jones. «Ich weiss nun genau, woher ich komme – und bin sehr stolz darauf.» Nach seinem Besuch in der Schweiz werde er die von ihm geschriebene Familiengeschichte ergänzen, sagt Pete Thalmann. Die Chronik, die bereits einen ansehnlichen Umfang aufweise, richte sich an die nächsten Generationen. «Ich habe sechs Kinder und elf Grosskinder.» Als er erstmals den von seinem Grossvater verfassten Zeitungsbericht gelesen habe, sei ihm eines klar geworden: «Eine Stimme aus der Vergangenheit ist unbezahlbar.» müsse man Belege suchen, sagt er. Dafür benötige man viel Geduld. Oder die Hilfe von Profis – wie Therese Metzger. Die 79-Jährige lebt in Münsingen bei Bern. Sie ist professionelle Ahnenforscherin. Über 30 Aufträge bearbeitet sie pro Jahr. Gut zwei Drittel davon stammen aus dem Ausland. Für rund 1000 Franken kann sie Personenlisten erstellen, die über 200 Jahre zurückreichen. Ein grosser Teil der Kundschaft stamme aus den USA, erzählt sie. «Es gibt Leute, die wollen bloss wissen, wo ihre Vorfahren lebten – das genügt ihnen und sie sind happy.» Manche unternehmen daraufhin eine Reise, um den betreffenden Ort aufzusuchen. «Wenn sie in der Kirche stehen und ihnen bewusst wird, dass hier ein Urahne getauft wurde, ist das für sie sehr berührend.» Andere seien an Details interessiert, sagt Therese Metzger. Ein Kunde habe sich nach einem möglichen Vorfahren aus dem 13. Jahrhundert erkundigt. «Da musste ich kapitulieren.» Ein derart tiefer Blick in die Vergangenheit sei nur in absoluten Ausnahmefällen möglich. Wenn lediglich ein Name bekannt sei, der früher sehr häufig war, werde es ebenfalls schwierig. «Wo soll ich bei einem Jakob Meier anfangen zu suchen», fragt sie. Ein anderes Problem seien Pfarrer, die schludrig geschrieben haben. Deren Einträge in den Kirchenbüchern seien kaum zu entziffern. «Diesen Pfarrern hätte ich das Fegefeuer mit Nachhilfestunden gegönnt», sagt sie und lacht. Einwanderung treibt Ahnenforschung an Therese Metzger hat sich gelegentlich schon gefragt, woher das Interesse der Menschen in Ländern wie den USA an der Ahnenforschung kommt. Eine Antwort fand sie in der vergleichsweise kurzen Geschichte und der grossen Bedeutung der Einwanderung. «Ich stelle mir das vor wie bei adoptierten Kindern», sinniert sie. «Die wollen auch wissen, woher sie kommen.» Kurt Münger sieht es ähnlich. Der Besuch des Herkunftslandes der Vorfahren sei viel mehr als ein touristischer Ausflug, sagt er. «Für die Nachfahren ist es eine emotionale Reise zu den eigenen Wurzeln.» Diese Reise Ahnenforscherin Therese Metzger stellt fest: Wer in einem von Einwanderung geprägten Land mit junger Geschichte lebt, interessiert sich oft besonders stark für die eigene Familiengeschichte. Foto ZVG Ahnenforscher Kurt Münger registriert immer mehr Anfragen von Leuten aus dem Ausland, die sich für ihre Schweizer Vorfahren interessieren. Foto ZVG Pete Thalmann beim Gedichteschreiben im Yellowstone-Nationalpark: Er plant eine Reise nach Eggetsbühl bei Wängi, dem Wohnort seiner Urgrosseltern. Foto ZVG Schweizer Revue / Oktober 2025 / Nr.4 12 Gesellschaft

13 STÉPHANE HERZOG Was kann man gegen eine Diktatur unternehmen? Mit dieser Frage konfrontiert uns eine Gedenktafel, die im Mai in Neuenburg enthüllt wurde. Sie erinnert an Maurice Bavaud, der im Alter von 22 Jahren versucht hatte, Hitler zu töten. «Man würde sich wünschen, dass es mehr Menschen wie ihn auf der Welt gäbe, die versuchen, solche Monster zu töten», erklärt der pensionierte Arzt JeanFrançois Burkhalter (81), einer der Initiatoren des Gedenkanlasses, während der feierlichen Enthüllung. Maurice Bavaud stammte aus einer einfachen katholischen Familie und wollte etwas bewirken. «Der Führer stellte in seinen Augen eine Bedrohung für die Unabhängigkeit der Schweiz, die Menschheit und den Katholizismus dar», heisst es in den Protokollen seines Prozesses im Jahr 1939, an dem kein Schweizer Diplomat anwesend war. Als der junge Mann 1938 von einem Seminar in der Bretagne zurückkehrte, das ihn auf eine Tätigkeit als Missionar vorbereitet hatte, machte er sich im Zug auf nach Deutschland. Die Regierung unseres Nachbarlandes förderte damals den Austausch mit der Schweiz. Besuche von Schweizerinnen und Schweizern im Deutschen Reich waren weitgehend ungehindert möglich, erklärt der Neuenburger Historiker Marc Perrenoud. Maurice Bavaud gelang es, sich Hitler am 9. November während einer Parade in München zu nähern. Doch vor ihm erhoben sich zahlreiche Arme zum Hitlergruss und hinderten ihn daran, auf den Diktator zu schiessen. Da er ohne Billett unterwegs war, wurde er später auf der Rückfahrt mit der Bahn aufgegriffen. Die Schweizer Botschaft in Berlin, die damals unter der Leitung eines gewissen Hans Frölicher stand, wollte aber das «gute Verhältnis Deutschlands zur Schweiz nicht für diesen Mann strapazieren», so Perrenoud. Auf Veranlassung der deutschen Behörden leitete die Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen den jungen Mann ein und schickte den Nazi-Behörden eine Mitteilung, in der er als homosexuell dargestellt wurde. Maurice Bavauds Vater schlug vor, in der Schweiz inhaftierte Deutsche gegen seinen Sohn auszutauschen, um ihn so vor der Todesstrafe zu bewahren. Die Schweizer Behörden wollten diesen Vorschlag jedoch nicht weiterverfolgen. Während des Prozesses wies der Pflichtverteidiger darauf hin, dass der junge Bavaud keinen einzigen Schuss abgegeben hatte. Doch vergebens. Seine Familie erhielt einen letzten Brief aus dem Gefängnis in Plötzensee. «Ich umarme euch ganz fest, denn es ist das letzte Mal.» Am 14. Mai 1941 wurde Maurice Bavaud mit der Guillotine hingerichtet. Eine Grabstätte gab es nicht. In den 1950er Jahren erhielt die Familie Bavaud von der Bundesrepublik Deutschland 40 000 Franken Entschädigung als abschliessende Zahlung. 1979 erklärte der deutsche Schriftsteller Rolf Hochhuth Bavaud zu einem neuen Wilhelm Tell, und 1980 veröffentlichte auch der Journalist Nicolas Meienberg ein Buch zu seinem Gedenken. Hätte die Schweiz Bavaud retten können? Marc Perrenoud erwähnt den Fall eines anderen Neuenburgers, des Pfarrers Roland de Pury, der 1943 in einer Kirche in Lyon verhaftet wurde. Er stand der französischen Widerstandsbewegung nahe und wurde dank eines Austauschs gegen deutsche Spione gerettet. De Pury und seine Familie verfügten über Verbindungen und Kontakte, die der Familie Bavaud fehlten. Die Bundesräte René Felber und Pascal Couchepin räumten 1989 bzw. 2008 ein, dass die Schweizer Diplomatie zu wenig unternommen habe, um Bavaud zu retten. Maurice Bavaud: Der Schweizer, der versuchte, Hitler zu töten Im Mai wurde in Neuenburg eine Gedenktafel enthüllt, die an das Schicksal von Maurice Bavaud erinnern soll. Der junge Schweizer Katholik wurde 1941 wegen der versuchten Ermordung Hitlers in Deutschland mit der Guillotine hingerichtet. Die Schweiz hatte damals nichts unternommen, um ihn zu retten. Maurice Bavaud. Foto Handout Filmkollektiv Zürich Schweizer Revue / Oktober 2025 / Nr.4 Gesellschaft

EVELINE RUTZ Als Chance auf ein besseres Leben: So wurden Adoptionen in der Schweiz ab den 1950er-Jahren verstanden. Sie galten als humanitären Akt. Erst recht, wenn das Kind aus einem armen Land und scheinbar prekären Verhältnissen stammte. Diese durchwegs positive Wahrnehmung habe sich interessanterweise lange gehalten, sagt Andrea Abraham, Professorin an der Berner Fachhochschule (BFH). Berichte über fragwürdige Umstände hätten den öffentlichen Diskurs kaum beeinflusst. Anders als in anderen Staaten sei in der Schweiz selbst die Wissenschaft erst vor wenigen Jahren auf das Thema aufmerksam geworden: «Bei einer für die betroffenen Kinder derart einschneidenden Massnahme ist das doch erstaunlich.» «Der Schmerz wird bleiben» Dass internationale Adoptionen heute kritisch diskutiert werden, ist massgeblich Sarah Ineichen zu verdanken. Sie kam 1981 als Baby aus Sri Lanka in den Kanton Nidwalden. Als sie sich – längst erwachsen – mit ihren Wurzeln beschäftigte, musste sie feststellen, dass die Angaben zu ihrer Herkunft nicht stimmten. Statt ihrer leiblichen Mutter stand sie an ihrem Geburtsort einer Frau gegenüber, die bloss ihren Namen für die benötigten Dokumente gegeben hatte. «Bis heute weiss ich nicht, wer meine biologische Mutter ist», sagt die 44-Jährige. Sie wisse nicht, warum und ob sie freiwillig weggegeben worden sei: «Dieser tiefe Schmerz wird mich bis zu meinem Tod begleiten.» Als eine der Ersten gelangte Ineichen 2017 an die Öffentlichkeit, um irreguläre Umstände anzuprangern. Mit weiteren Betroffenen gründete sie den Verein «Back to the Roots». Neugeborene seien ihren Müttern entrissen und entwurzelt worden, sagt sie. Einigen Frauen sei im Spital gar ein totes Baby untergeschoben worden, um das gesunde Adoptiveltern übergeben zu können: «Es wurden Kinder für Eltern gesucht – und nicht umgekehrt.» Behörden haben zu wenig kontrolliert Dass sich der drängende Kinderwunsch westlicher Paare auf die Abwicklung internationaler Adoptionen Der «Handel mit Babys» überschattet viele Adoptionen Der Bundesrat will Schweizer Eltern verbieten, im Ausland Kinder zu adoptieren. Nur so liessen sich illegale Praktiken verhindern, argumentiert er. Die Idee löst eine emotionale Debatte aus. 2280 Babys adoptiert worden. In beiden Staaten gab es Kinderheime und Frauenhäuser, die im grossen Stil an internationalen Vermittlungen mitwirkten. Sie ermöglichten es werdenden Müttern, ihr Kind heimlich auszutragen und zu gebären. Sie betreuten insbesondere Schwangere, denen gesellschaftliche Ächtung drohte. Sei es, weil sie mittellos waren, keine Aussicht auf eine Heirat hatten oder vergewaltigt worden waren. Die EinrichSarah Ineichen machte irreguläre Adoptionen zum breit debattierten Thema. Sie ist persönlich betroffen: «Bis heute weiss ich nicht, wer meine biologische Mutter ist.» Foto Keystone auswirkte, belegen nicht nur die Untersuchungen von Andrea Abraham, sondern etliche weitere Forschungsprojekte. Sie dokumentieren für den Zeitraum von 1973 bis 2002 gesetzeswidrige Praktiken in elf Herkunftsländern. Sie berichten von Hinweisen auf Kinderhandel, gefälschten Papieren, fehlenden Einverständniserklärungen der leiblichen Mütter und von Schweizer Beamten, die wegschauten, wenn Gesetze systematisch missachtet wurden. Aus Sri Lanka sind in diesen Jahren rund 700, aus Indien rund tungen kümmerten sich häufig auch um die erforderlichen Dokumente und organisierten die Übergabe der Neugeborenen an Adoptiveltern, die meist aus privilegierteren Staaten stammten. Adoptionen verlagerten sich ins Ausland Ab 1973 reisten zunehmend Paare aus der Schweiz an. Aufgrund gesellschaftlicher Entwicklungen und Gesetzesänderungen konnten sich jene, welche ein Kind aufnehmen wollten, diesen Schweizer Revue / Oktober 2025 / Nr.4 14 Gesellschaft

lich», sagt Stefan Müller-Altermatt, Vater eines Buben aus Armenien und Mitte-Nationalrat. Vollständige Dokumente und Transparenz seien heute zwingend. Direktbetroffene wehren sich dagegen, stigmatisiert zu werden. Adoptivkindern werde signalisiert, dass sie eigentlich nicht hier sein sollten. Adoptiveltern werde unterstellt, etwas Verwerfliches getan zu haben. Das sei ungerecht und entspreche nicht der Realität. Ein Verbot werde vor allem Wunsch nun eher im Ausland erfüllen. Hinterfragt wurde dies kaum. So heisst es in einem Expertenbericht: «Ähnlich wie heute beim Thema der Reproduktionsmedizin gab es die gesellschaftlich akzeptierte Haltung, dass Adoptiveltern vom Grundsatz her ein Recht auf ein Kind hatten.» Dieses Eigeninteresse liess sich mit dem bereits erwähnten Wohltätigkeitsgedanken legitimieren. Der Bund und die Kantone stünden nun in der Verantwortung, sagt Sarah Ineichen. «Sie haben den Handel mit Babys über Jahrzehnte toleriert und gar ermöglicht.» Sie hätten die Kinder und deren leibliche Familien zu wenig vor Ausbeutung geschützt. ­ Unter den Folgen habe nun eine ganze Generation adoptierter Menschen zu leiden. «Wir erwarten eine Entschuldigung für das erfahrene Unrecht und eine zielgerichtete Unterstützung bei den Nachforschungen unserer Herkunft.» Um gefälschte Dokumente aufzuklären, seien beispielsweise DNA-Tests in den Herkunftsländern notwendig. Betroffene müssen mit Leerstellen leben Zu den ersten Lebenswochen unsichere, nebulöse oder sich als falsch entpuppende Informationen zu entdecken, sei äusserst belastend, sagt Andrea Abraham. Betroffene müssten mit Lücken in ihrer Biografie leben, was sich auf ihr Verständnis von Identität und Zugehörigkeit auswirke. «In der Schweiz leben Tausende Erwachsene, die bis heute Fragen haben.» Der Bundesrat möchte internationale Adoptionen verbieten. «Anders lassen sich missbräuchliche Praktiken nicht vollständig verhindern», argumentiert Justizminister Beat Jans. Die Vorgänge in den Herkunftsstaaten zu kontrollieren, sei äusserst schwierig und aufwendig. Zwar seien – unter anderem mit dem Haager Adoptionsübereinkommen 2003 – bereits bedeutende Fortschritte erzielt worden. Dennoch stosse das System an Grenzen. Bis Ende 2026 will der Bundesrat seine Pläne konkretisieren. Ein Verbot könnte dann frühestens auf 2030 in Kraft treten. Direktbetroffene widersprechen dem Bundesrat vehement. EVP-Nationalrat Nik Gugger ist als Kleinkind aus Indien adoptiert worden und sagt: «Ohne Auslandsadoption wäre Nik Gugger wehrt sich gegen zu strikte Einschränkungen. In Indien geboren und von Schweizer Eltern adoptiert spricht er von Glück: Er sei dank der Adoption «in einer liebevollen Familie aufgewachsen». Foto Keystone ich wohl nie in einer liebevollen Familie aufgewachsen.» Um ein generelles Verbot zu verhindern, lancierte er eine Petition und trug innerhalb eines Monats über 10 000 Unterschriften zusammen. Mit dem Haager Abkommen seien bereits griffige Schutzvorschriften eingeführt worden, sagt Gugger. Daneben sollten hohe Anforderungen an die Herkunftsländer gestellt und eine kompetente Begleitung in der Schweiz gewährleistet werden. «Die Praktiken von einst sind nicht mehr mögWaisen und ausgesetzte Kinder hart treffen, warnen sie. Für Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer soll sich mit der Reform nichts ändern. «Sie können weiterhin nach dem Recht ihres Wohnsitzes adoptieren», sagt Joëlle Schickel-Küng vom Bundesamt für Justiz. Eine ausländische Adoption werde in der Schweiz grundsätzlich anerkannt, wenn sie im Staat des Wohnsitzes der adoptierenden Person erfolgt sei. Schweizer Revue / Oktober 2025 / Nr.4 15

JÜRG STEINER Moderne «Klimabewegte» könnten vom Bündner Autowiderstand aus den Anfängen des 20. Jahrhunderts noch etwas lernen. Die Gegner argumentierten radikal – waren aber politisch trotzdem mehrheitsfähig. «Willst du, Bündnervolk, auf deinen Strassen Frondienst leisten für die, die dann in hochmütiger Verachtung in ihren Kraftwagen an dir vorbeisausen?» In klassenkämpferischem Ton drückten die Autokritiker auf öffentlichen Plakaten leidenschaftlich aufs Gaspedal. Im Automobil, dessen erstes Exemplar Carl Benz 1886 in Deutschland patentieren liess, sahen sie 20 Jahre später einen «Stinkkarren» und ein «Modespielzeug», vor allem aber ein «Protzfahrzeug». Die Mehrbesseren aus der Stadt würden die hart arbeitende Bauernschaft in den weitläufigen Tälern Graubündens in Staub- und Abgaswolken versinken lassen, wenn man nicht dagegen vorgehe. Diese kritische Sicht hielt sich aussergewöhnlich lange und machte aus Graubünden einen autoskeptischen Sonderfall: Das Fahren mit Automobilen war zwischen 1900 und 1925 im ganzen Kanton grundsätzlich verboten – so lange wie sonst nirgends in ganz Europa. Knatternder Pferdeschreck Den Anlasser für die Verbannung des Autos aus Graubünden betätigte die Bündner Kantonsregierung selber. Sie nahm, angesichts durch das Engadin kurvender Sport- und Luxusautomobile, Sicherheitsbedenken aus der Bevölkerung ernst und erliess 1900 ein Autoverbot. Namentlich Kutscher fürchteten, dass Pferde scheuen und vor Schreck mit Gefährt und Passagieren in den Abgrund stürzen, wenn auf den schmalen Strassen des Bergkantons plötzlich ein knatterndes Ungetüm, am Steuer ein Auswärtiger, um die Ecke rast. Im Rest der Schweiz gewann das Auto rasch an Boden, und auch die Regierung in Chur befürchtete schon bald nach Inkrafttreten des Verbots, dass der Auto-Bann wirtschaftliche Nachteile zeitigen könnte. Doch die stimmberechtigten Bündner Männer – Frauen durften noch nicht abstimmen – verweigerten sich hartnäckig dem Zwang zum Fortschritt. In neun Volksabstimmungen hintereinander scheiterte die Aufhebung des Autoverbots – auch wenn sich auf den Vom Autoverbot zum Allradfieber Bis 1925 sperrte sich Graubünden mit einem Verbot hartnäckig gegen Autos. Heute, 100 Jahre später, erreicht der Bergkanton punkto Autodichte und Strasseninfrastruktur Spitzenwerte. Eine Fahrt durch die Bündner Automobilgeschichte. weil die kritische Bauernschaft auf der Alp weilte und nicht abstimmen konnte, liess sich nicht widerlegen. Mehr Autos als Haushalte Aber schon tags darauf tuckerten Autos weitgehend frei über Bündner Strassen. Ab und zu wurden gegen den rollenden Einfall der Moderne noch Nägel auf die Strassen gestreut. Und die Bündner Polizei befleissigte sich eines unbarmherzigen Regimes bei Überschreitungen des Tempolimits (12 km/h innerorts/40 km/h ausserorts), wie der Berner Autor Balts Nill in einem früher recherchierten Text schreibt, den der LokwortVerlag unter dem Titel «GR!» zum 100-Jahr-Jubiläum der Verbotsaufhebung neu aufgelegt hat. Was man aus heutiger Sicht sagen kann: Der Juni 1925 war der Startpunkt für eine beispiellose Siegesfahrt des Automobils im flächenmässig grössten Kanton der Schweiz mit seinen 150 Tälern. Ende 1925 waren in Graubünden 136 Personenautos immatrikuliert. Heute sind es 126000. Das Bündnerland belegt in zahlreichen Disziplinen der Mobilitätsstatistik Spitzenränge: Der Motorisierungsgrad liegt über dem nationalen Durchschnitt, es gibt in Graubünden deutlich mehr Autos als Haushalte. Aktuelle Auswertungen des Bundesamts für Statistik nach Kantonen zeigen, dass Bündnerinnen und Bündner dazu neigen, eher schwere und teure Autos zu kaufen. Und in keinem Kanton ist der Anteil an allradbetriebenen Neuwagen grösser als in Graubünden. Passfahrten als exotisches Erlebnis Der Bündner Historiker Simon Bundi setzt sich intensiv mit der AutomobilHöher, weiter, schneller, schöner? Auf der Suche nach den etwas anderen Schweizer Rekorden. Heute ein Blick in den Kanton, der sich – auch im weltweiten Vergleich – rekordlange gegen das Automobil auf seinen Strassen gewehrt hatte. Bündner Strassen gelegentlich skurrile Szenen abspielten: Lastwagen, die nach Graubünden liefern wollten, liessen sich ab der Kantonsgrenze von Pferden ziehen, um dem Gesetz Genüge zu tun. Erst am 21. Juni 1925 kam ein knappes Mehr für das motorbetriebene Fahrzeug zustande. Der Verdacht, dass der sommerliche Abstimmungstermin auch darum gewählt wurde, Die Mehrbesseren aus der Stadt würden die hart arbeitende Bauernschaft in den weitläufigen Tälern Graubündens in Staub- und Abgaswolken versinken lassen. Argument der Befürworter eines Autoverbotes Schweizer Revue / Oktober 2025 / Nr.4 16 Reportage

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