setzten nun mit Verve Strassenbauprogramme auf. Plötzlich fuhr Graubünden im Auto an der Spitze mit. Bereits 1929 stieg im Oberengadin eine internationale Automobilwoche, die 10 000 Interessierte anzog. Ab 1934 räumte der Kanton im Winter die Julierpassstrasse, machte sie zur ersten Winter-Alpenpassage und die Autofahrt durch die Schneeschluchten zum ikonischen touristischen Erlebnis. Als sich nach dem Zweiten Weltkrieg der Massentourismus entwickelte und die Menschen im eigenen Auto in die Skiferien fahren wollten, war das einst autoskeptische Graubünden bereit. Land der Umfahrungen 1958 entstand im Rheintal zwischen Trimmis und Landquart das zweite Autobahn-Teilstück der Schweiz überhaupt, und am 1. Dezember 1967 wurde zwischen Hinterrhein und San Bernardino der erste alpenquerende Strassentunnel eingeweiht – 13 Jahre vor dem Gotthard. Die Forschungsarbeit von Simon Bundi zeigt, dass Pionierleistungen der Strasseninfrastruktur sogar auf Postkarten zelebriert wurden und das Bild von Graubünden als initiativen Ort der Automobilität prägten. Die fulminante wirtschaftliche Entwicklung zur Tourismusdestination wäre in Graubünden ohne die Zuwendung zum Auto nicht denkbar gewesen. Allerdings traf mit dem Anschwellen der Verkehrsströme bis zu einem gewissen Grad ein, was die Autoverbots-Befürworter Anfang des 20. Jahrhunderts befürchtet hatten: Die Durchfahrtsorte in den Tälern litten unter Staus, Abgas, Lärmimmissionen und Unfallgefahr. Der Kanton reagierte und reagiert darauf, indem er zusätzliche Strassen plant und baut, mit denen die Dorfkerne umfahren werden. «Graubünden ist das Land der Umfahrungen», sagt Simon Bundi, «in keinem anderen Kanton gibt es so viele, oft teure Umfahrungen, die dem Zweck dienen, die Menschen schneller in die Tourismusorte zu bringen.» Was im Vergleich zur Epoche des Autoverbots gleich geblieben ist: Ein Grossteil des nach wie vor wachsenden Verkehrs in Graubünden kommt von ausserhalb. In den urbanen Gebieten der Schweiz steht das Auto unter Druck, in Städten wie Bern oder Zürich besitzen noch höchstens die Hälfte der Haushalte ein eigenes Auto. Für die Reise in die Berge ist das Auto nach wie vor der Favorit. An schönen Wintersonntagen ist der Stau auf der Autobahn bei Landquart in den letzten Jahren zum Standard geworden. Links: Die Tonalität im Kampf gegen das Automobil war zuweilen sehr klassenkämpferisch. Foto ZVG Rechts: Luftbild während dem Bau der Umfahrung von Küblis. Es illustriert: Graubünden ist auch als Land der Umfahrungen bekannt. Foto ZVG Balts Nill: GR! 2025, Lokwort-Verlag, Bern, 24 Seiten. Über «Stinkkarren» und «Modespielzeuge». Ein Lehrstück zur Schweizer Demokratie. Simon Bundi, Isabelle Fehlmann, Flurina Graf, Christoph Maria Merki, Kurt Möser: Das Jahrhundert des Automobils. Graubünden 1925 bis 2025. Institut für Kulturforschung Graubünden. 2025, AS-Verlag, Zürich. Schweizer Revue / Oktober 2025 / Nr.4 18 Reportage
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