Schweizer Revue 5/2019

Schweizer Revue / September 2019 / Nr.5 30 Der Genfer Rapper Makala scheut sich nicht, die Dinge beimNamen zu nennen. ImGegen- teil: Wörter sind seine Spezialität. Der beste Beweis ist «Radio Suicide», sein im Juni er- schienenes Album. Der junge Mann kongole- sischer Herkunft macht sich darüber lustig, dass sein Rap im Radio gespielt wird. Seine 21 Titel hat ermit grösstmöglicher akustischer und dichterischer Freiheit komponiert. Beim ersten Hören ist seine Musik nicht einfach zu verdauen: Auf den Hörer stürzt eine Flut von musikalischen Ideen ein, die gemeinsammit demProduzenten Varnish La Piscine entstan- den sind. Der Rap von Makala orientiert sich an geschmeidigen Funk- oder sogar Reggae­ Rhythmen, doch die Soundtracks wirken zermalmt, durchgeknetet, unterbrochen durch Flashs, die verhindern, dass man als Fahrer am Steuer einschläft. Die Worte bringen bittersüsse Gefühle zum Aus- druck. Bei jedemneuenHören tritt ein neues Element zu Tage. Makala ist Mitglied und Gründer des Schweizer Kollektivs SuperWak Clique (siehe «Schweizer Revue» vom Januar 2018). Er thematisiert seinen Er- folg und die Auswirkungen auf seine sozialen Beziehungen, soziale Netzwerke und die damit verbundene Eitelkeit. In einer Welt der Grosstuer entblösst er seine Schwächen: «La première fois que j’ai fait l’amour, j’ai fait croire que je l’avais déjà fait» (als ich zum ersten Mal mit jemandem geschlafen habe, habe ich so getan, als wäre ich erfah- ren), skandiert er inGoatier. ZumThema Geld und Erfolg? «J’ai lamain dans le froc (pantalon). Bientôt j’ai lesmains dans le fric» (ich habe die Hand in der Hose, bald habe ich die Hände imGeld), rappt der Genfer auf ICIELAO. Makala ist ein glänzender Wortschmied. Er spielt mit lexikalischen Zusammenstössen und Doppeldeutigkeiten. Makalas Stimme erinnert an den Flowdes US-Rappers SnoopDogg. Sie ist sanft, schmeichelnd, fast geflüstert. Seine Botschaften sind verständlich, doch wegen der Anhäufung von Argot und Verlan, einer Sprache mit umgekehrten Silben, nicht immer leicht zugänglich. Bei der franzö- sischen Fachkritik ist seinAlbumgut angekommen. «Ich könnte sagen, dass es imfranzösischenRap das beste Albumdes Jahrzehnts ist. Doch es handelt sich nicht ausschliesslich um Rap oder, eher gesagt, es ist mehr als nur ein Rap-Album», schreibt Etienne Menu im Rap-Blog Musique journal. Das ist der Beweis, dass die Genfer Rapper und ihr unabhängiges Label Colors Records es wirklich geschafft haben, aus ihrer kleinen Republik auszubrechen. STEPHANE HERZOG «Yann und Gerda liebten Sendungen mit Aus- wanderern oder Hausfrauen. Sie liebten es, Menschen dabei zuzuschauen, wie sie ohne Geld … alles aufgaben, nur weil sie zu sehr träumten.» Das schreibt Simone Meier über die zwei Hauptfiguren ihres neuen Romans. Auch Yann und Gerda hängen gerne ihren Träumen nach. Das Paar ist in den Mitdreissi- gern und soeben in ein ehemaliges Arbeiter- häuschen am Stadtrand gezogen. Gerda hat ihren Job als Grafikerin verloren und inves- tiert nun ihre kreative Energie, um das her- untergekommene Haus in ein wohnliches Nest zu verwandeln. Yann arbeitet bei einem Think-Tank-Institut und sieht sich – nicht nur ungern – in die traditionelle Rolle des Familienernährers gedrängt. Immermehr beginnt Gerda, sich in ihren Fantasien zu verlieren. Ihre imaginäre Liebesgeschichte mit Alex reisst sie nach einem mehr an- gedeuteten als realen Kuss in einen Strudel aus Hirngespinsten bis hin zumWahn. Parallel dazu wird die Geschichte von Valerie erzählt. Die fünf- zigjährige Journalistin lebt vorübergehend im geerbten Nachbars- haus. Die zwei Geschichten verweben sich ineinander und es bahnt sich ein bitterböses Ende an. Der Roman spielt in einer Schweizer Stadt, könnte aber überall in unserer urbanen Welt angesiedelt sein. Er zeichnet das Bild der Ge- neration der Dreissig- bis Vierzigjährigen, die oftnoch in einerWohn- gemeinschaft leben, ohne festes Ziel und dochmit demWunsch nach Familie und Nestbau. Es ist eine Generation im Konflikt zwischen Emanzipation und konservativenWerten. Vintage ist angesagt, Woh- nen imehemaligenArbeiterhaus gilt als trendy und ein gut bezahlter Job ist einMust. Es ist kein gesellschaftskritischer Roman, den Simone Meier hier vorlegt. Doch beobachtet die Autorin klug ihr urbanes Um- feld und verarbeitet ihre Befunde geschickt in ihren Geschichten, in- dem sie die Figuren stark überzeichnet. Sympathisch erscheint die Figur der abgeklärten Valerie, die sich ganz real auf eine neue Liebes- beziehung einlässt. Das Buch liest sich leicht, seine Wirkung ist aber auch verstörend. Der schmale Grat zwischen Imagination und Wirk- lichkeit fordert den Leser. Auch wenn die Fassade bröckelt, wird lie- ber Fernsehen geschaut und fantasiert. Simone Meier, geboren 1970, wuchs im Kanton Aargau auf. Nach dem Studiumder Germanistik, Amerikanistik und Kunstgeschichte arbeitete sie als Kulturredakteurin bei der «WochenZeitungWoZ» und beim«Tages-Anzeiger». Heute schreibt sie für das NewsportalWatson und lebt in Zürich. «Kuss» ist ihr dritter Roman. RUTH VON GUNTEN Rapper Makala: Meister der Doppeldeutigkeit Kuss Gehört Gelesen MAKALA: «Radio Suicide» 2019, Colors Records SIMONE MEIER: «Kuss» Kein & Aber Verlag, Zürich 2019 256 Seiten; CHF 28.00, € ca. 22.00

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