Schweizer Revue 1/2020

Schweizer Revue / Januar 2020 / Nr.1 22 Literaturserie «Jota», dessen Titelfigur, ein eigenwilliges junges Mädchen, in einer Stadt wie Bern auftaucht und wieder verschwin­ det und den einen als Heilsgestalt und den andern als Ärgernis vorkommt. In der Erzählung «Flaschenpost» wie­ derum, die 1977 erschien, überlebt eine Frau mit 300 an­ dern in einem Bunker einen Atomkrieg und hält in ihren Notizen, zentral für ihre Autorin, fest: «Obgleich ich per­ sönliche Hoffnungen aufgab, hoffe ich für meine Wörter. Dass sie strahlensicher seien und das, was vor der Boden­ türe zerstört wird, überdauert.» Im Zeichen des Todes 1977 machte sich bei Gertrud Wilker ein Krebsleiden be­ merkbar, demsie am25. Oktober 1984 nach langemKampf mit sechzig Jahren erlag. Der Krankheit aber rang sie zwei Bücher ab, mit denen sie sich in die Annalen der Frauenbe­ wegung einschrieb: «Blick auf meinesgleichen. 28 Frauen­ geschichten» von 1979, und «Nach­ leben», den Roman, mit dem sie 1980 ihrer verstorbenen Tante auf ergreifendeWeise das imTitel ver­ sprocheneNachleben sicherte. Am Ende aber deuteten zwei Titel be­ reits ihr eigenes Nachleben an: der Lyrikband «Feststellungen für spä­ ter» von 1981 und die Songsamm­ lung «Leute ich lebe» von 1983. «Lieber, dir bring ich / zur Kennt­ nis», heisst es im Gedicht «Brief­ entwurf», «dass es leicht ging, mühelos, / durch die Luft zu fallen / in Vogelgestalt.» CHARLES LINSMAYER IST LITERATURWISSEN- SCHAFTLER UND JOURNALIST IN ZÜRICH CHARLES LINSMAYER «Geboten wird, eingepackt in die hypnotische Gläubigkeit an denReklamesuperlativ, jede Spezies des best, largest. Er­ säuft wirst du in Angeboten, Shampoo, Benzin, Rasier­ klingen, Kunstdünger. Grinsende beineschlenkernde prall­ busige Plakatgirls machen die Strassen zu einem Spiessrutenlaufen zwischen künstlich geschürten, unstill­ baren Gelüsten.» Die USA im Jahre 1962. Ein Staat, «dessen Land von den Städten und Strassen nur geritzt, keineswegs besiegt worden ist». Ein Staat, «der Erzfeind seiner Bevöl­ kerung bleibt, den man nicht heftig, barbarisch und rück­ sichtslos genug bekämpfen kann, für dessen wilde Schön­ heit weder Erbarmen noch Liebe aufkommen dürfte, nur grimmige Entschlossenheit, sie auszunützen». Es gibt auch Bewunderndes über Amerika in Gertrud Wilkers «Collages USA» von 1968. Aber unter den Eindrü­ cken, die die 1924 geborene Berner Gymnasiallehrerin, als sie 1962/63mit ihren zwei Kindern und ihremMann in den USA lebte, festhielt, überwog das Kritisch-Despektierliche, und amEndewusste sie, dass sie inAmerika nicht zuhause war und dass sie nicht da, sondern «in der altenWelt» «eine neue Zukunft antreten» wollte. Deutsch in fremder Umgebung Als Autorin aber brachte Amerika sie einen grossen Schritt weiter, war sie sich doch sicher: «Ich habe die deutsche Sprache hier noch einmal erlernt, bewusst, als ein Spiegel­ bild meines Lebensanteils, als Hort meiner Identität. Sie stelltemirmeinenNamen, ein sprachlich fassbares Ich zur Verfügung, sie enthielt in dieser fremden Welt die Zusam­ menfassung meiner eigenen.» Sowar es letztlich die Erfahrung Amerika, die Gertrud Wilker in die Lage versetzte, zwischen 1970 und 1985 elf Bücher vorzulegen und damit zu einer der angesehensten Schweizer Autorinnen ihrer Generation zu werden. «Strahlensichere Wörter» Wiemeisterlich sie nunmit ihremDeutsch umging, zeigte 1970 schon der Band «Einen Vater aus Wörtern machen», der viele ihrer besten Texte enthielt. Der 1971 publizierte Roman «Altläger bei kleinem Feuer» richtete dann den kri­ tischen Blick auf ein Schweizer Dorf in denZeiten der Hoch­ konjunktur. Ganz anders 1973 der legendenhafte Roman Sie fand in Amerika die eigene deutsche Sprache Kaum je sah eine Schweizerin die USA kritischer als Gertrud Wilker in den Jahren 1962/63. «Zwei Jahre verliess mich das Bewusstsein nicht, dass ich in Amerika nicht zuhause sei, jedes Wort eine Übersetzung, alles steht an Stelle für etwas. Du bist kein Mitglied, kein Anwärter, du figurierst, du läufst nebenher. Gegenüber dem Gefälle nationaler Ärgernisse bleibt man unbetroffen, man lebt in der Vorform einer schreckli­ chen Freiheit, aber mit Genuss.» (Aus «Collages USA», 1968). BIBLIOGRAFIE: Im Buchhandel erhältlich ist: Gertrud Wilker: «Elegie auf die Zukunft. Ein Lesebuch». Zusammengestellt von Beatrice Eichmann­ Leutenegger und Charles Linsmayer. Reprinted by Huber Nr. 6. Verlag Th.Gut, Zürich.

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