Schweizer Revue 3/2020

Schweizer Revue / Juni 2020 / Nr.3 11 bestehen. Dieser Kleinkrieg zwischen einem Major-Label – Universal – und dem seinem Wesen nach unabhän­ gigen Künstler verunmöglichte es Stephan Eicherwährend sechs Jahren, normal zu arbeiten. Wie Eicher der Presse erzählte, reagierte er zunächst mit Wut und nahm für sein Label ein Album mit Titeln auf, die so kurz waren, dass man sich das komplette Album in den Online-Shops gratis herunterladen konnte. Dann besann er sich wieder auf seine Rolle als Künstler. Lieber zu seinem Publikum sprechen als sich zu rächen. Renaissance mit zwei Alben Eichers Renaissance brachte 2019 zwei einander diametral entgegenge- setzte Alben hervor. Auf «Hüh!» greift Stephan Eicher, von der Berner Blas- kapelle Traktorkestar begleitet, Titel aus seinem Repertoire neu auf. Acht Monate später veröffentlichte der europäische Troubadour ein sanftes, intimes Album: «Homeless Songs». In Luzern konnte man einige Lieder von diesenbeidenAlbenentdecken. Eicher vergnügte sich den ganzen Abend über in der Rolle des Dirigenten und überliess Wort und Mikrofon Künst- lerinnen undKünstlern verschiedens- ter Herkunft, Regionen und Alters- gruppen. Der Maestro liess Gäste aus seiner Welt auf der Bühne auftreten. Den Anfang machte Sophie Hunger. Die Schweizer Sängerin, ganz in Strass gekleidet, bot allein am Klavier einen der schönstenBeiträge des Abends dar. Anschliessend war es an Tinu Heini- ger, sein Talent als Geschichtenerzäh- ler unter Beweis zu stellen und auf Berndeutsch die klangvollen Namen von Schweizer Bergen heraufzube- schwören. Weitere Gäste an der Gala waren der Schweizer Schriftsteller Martin Suter und sein französischer Kollege Philippe Djian. Das literarische Duo hat, jeder in seiner Sprache, Texte Stephan Eicher in fünf Songs «Eisbär» (1981): Dieser extrem minimalistische Song mit seinem repetitiven Text und kalten Klangschleifen lässt an einen Studentenstreich denken. Im Jahr 1981 sorgte «Eisbär» jedoch in Deutschland für Furore. Die Band «Grauzone» trennte sich kurz darauf. «Les chansons bleues» (1983/2019): «Le monde entier est toujours là, demain de beau matin je fermerai ma porte, jʼirai par les chemins» [«Die ganze Welt ist immer hier, morgen in aller Frühe schliesse ich meine Tür und mache mich auf den Weg»]. Stephan Eicher brummt eher, als dass er singt, aber die Melodie ist betörend. Im Jahr 2019 griff der Musiker den Song «Hüh!» erneut auf. Eingebettet in den Klang der Blechblasinstrumente gewinnt die zweite Version von «Les chansons bleues» noch einmal an Tiefe. «Tu ne me dois rien» (1991): Zuerst nur eine Solostimme vor dem Hintergrund einer gezupften Gitarre, dann ein Geflecht aus Gitarrenklängen. Das Lied ist wunderschön. Der Song entstammt dem Album «Engelberg», auf dem unter den meisten Texten Philippe Djians Name steht. «Des hauts et des bas» (1993): «La pluie venait du nord, le vent passait sous ma porte». [«Der Regen kommt von Norden, der Wind weht unter meiner Tür hindurch»] So beginnt dieses berühmte Lied, getragen von sanft verzerrten Gitarrenklängen, die dann einem von Eichers hämmernden Refrains und einer Flut von Gitarren- und Schlagzeugklängen Platz macht, dem Markenzeichen des Musikers. «Gang nid eso» (2019): «Wede ga muesch so gang, aber gang nid eso, ds Läbe isch zchurz, für so zga …» [«Wenn du gehen musst, dann geh, aber geh nicht so, das Leben ist zu kurz dafür...»]. Violinen, Klavier, Gitarre. In diesem simplen Gerüst entspinnt sich die Ballade, deren Worte der Feder des Schrift­ stellers Martin Suters entsprangen. verfasst, die Stephan Eicher vertonte. Suter erschien impetrolblauenAnzug und las einen Text aus seiner Feder, der das Publikummit der Darstellung eines etwas zu feuchtfröhlichen Mo- nopolyabendsmit Eicher zumLachen brachte. Und Djian, der seit 1989 mit Stephan arbeitet, erzählte, wie sein Musikerfreund ihnmanchmal mitten in der Nacht anruft, um ihm eine Melodie vorzuspielen. Wie schon für Montaigne ist die Freundschaft ein Thema, das es dem Schweizer Kom­ ponisten angetan hat. Als Kind ent- deckte er die Musik im Keller seines Vaters, an der Seite seiner beiden Brü- der Martin und Erich. Stephan sah in dieser Kunst ein Medium, das Men- schen zusammenbringen kann. Des- halb schlägt er auch den Einwohnern von Aigues-Mortes jeden Sonntag vor, zum gemeinsamen Singen zusam- menzukommen. «In diesen Momen- ten können die Anhänger der Blon- dine (die rechtsextreme Abgeordnete Marine le Pen; Anm. d. Red.) und die- jenigen, die sie verabscheuen, zusam- menfinden», erklärt der europäische Troubadour. In der Dokumentation «Unerhört Jenisch» über jenische Musik, wie sie in Graubünden gespielt wird, lernt man die Herkunft der Familie Eicher kennen. Eine tragischeGeschichte, die vor Stephan und seinen Brüdern ver- borgen worden war. Ihre Urgrossmut- ter wurde wie viele andere jenische Kinder ihrer Familie entrissen und in einemHeimuntergebracht. «Darüber kann man nur singen, das kann man nicht erzählen», fügt Stephan Eicher an. Und eine Jam-Session mit zwei Bündnern jenischer Abstammung in seinemHaus in der Camargue spielen. Stephan Eicher ist selbst so etwas wie ein Fahrender, auchwenn er nicht wie die Jenischen imDokumentarfilmdas Gefühl hat, «diese Musik in sich zu haben.»

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