Schweizer Revue 4/2020

Schweizer Revue / Juli 2020 / Nr.4 30 Der Mundart-Rap ist längst seinen Kinder- schuhen entwachsen. Dennoch fühlt es sich seltsaman, wenn dieWegbereiter des Genres mittlerweile über vierzigjährige Familien ­ väter sind. So sehr ist diese Musik in unseren Köpfen als «Jugendkultur» eingebrannt. Zu den Rappern reiferen Alters zählen unter anderemdie Männer der Chlyklass. Sie formierten sich einst als grosses Berner Mundart-Konsortium. Die einzelnenMitglie- der hatten bereits einen Namen, als sie 2005 ihr erstes gemeinsames Album «Ke Summer» veröffentlichten. Danach gingen sie getrennte Wege, und es dauerte geschlagene zehn Jahre bis zumNachfolger «Wiso immer mir?». Nun ist die Chlyklass wieder da, bestehend aus den FormationenWurzel 5 und PVP sowie denEinzelfigurenGreis, Serej, Baze undDiens. «Deitinge Nord» heisst das dritte Album, das in erster Linie aufzeigt: Der Mundart-Rap der Berner Grossformation funktioniert auch im fortgeschrittenen Stadium bestens. Die Reime fliessen noch immer, die Rhythmen sind spartanisch, die Treue des Kollektivs zum Oldschool-Rap überzeugt. Hier zeigt das Alter seine Vorzüge. Der Bezug zu den Wurzeln ist in jedem Beat spürbar, und auch die Inhalte zeugen überweite Strecken vonReife. Die nichtmehr ganz jungenMänner rappen über das Älterwerden in ihrer Szene. Sie blicken zurück und ziehenVergleiche. Sie ordnen sich ein und stellen fest: Sie machen noch immer den gleichen «Scheiss» – was durchaus positiv gemeint ist. Authentizität ist eine der wichtigsten Tugenden des Genres. Natürlich nimmt die Chlyklass denMund bisweilen arg voll. Aber das gehört zumDuktus des Hip-Hop. Manchmal reimen sie auch nur über die alltäglichen Dinge des Lebens. In «Nid üses Revier» etwa er- zählen sie von einem Familienvater, der das eigene Freiheitsbedürf- nis in seinen Hund projiziert. Er schickt ihn weg und malt sich aus, wie dieser wie einWolf in der Natur weiterlebt. Alles in allem hat es die elfköpfige Chlyklass geschafft, ihre Er­ zählkunst der realen Erlebniswelt von Familienvätern anzupassen. «Deitinge Nord» ist witzig, direkt, intelligent und zeitlos – und ver- deutlicht, dass dieMundart-Rapper der ersten Stunde durchaus älter werden können, ohne den Bezug zur Gegenwart zu verlieren. Oder anders gesagt: Es gibt ihn, den guten Mundart-Rap von Vierzigjähri- gen für Vierzigjährige. Im besten Fall wirkt er wie frisch aus dem Ei gepellt. MARKO LEHTINEN «Hunkeler nahm einen Schluck aus der Tasse, zufrieden mit sich und der Welt.» Doch diese sommerliche Idylle im Park ist für den pensi- onierten Kommissär Hunkeler von kurzer Dauer. Eine alte Frau hastet nach der Polizei rufend ins Café. Ausser Atem erzählt sie dem türkischen Cafébetreiber, dass an der Park- mauer ein toterMann liege. Hunkeler erkennt den Toten sofort. Es handelt sich um einen pensionierten Journalisten, der als Literatur- und Theaterkritiker mit Inbrunst Verrisse ge- schrieben hatte. Zwei Boulekugeln liegen zwi- schen den Beinen des Toten, die dritte ist verschwunden – vielleicht die Tatwaffe? Hun- kelerwill in keinerWeise inden Fall involviert werden und verreist in sein Haus im Elsass. Doch die Tat lässt ihm keine Ruhe und er beginnt nachzuforschen. Hansjörg Schneider führt uns in seinemKrimi durch dieWelt des ehemaligen Kommissärs Hunkeler. Wobei es viel mehr als ein Krimi ist, denn die simple Krimi-Struktur interessiert den Autor nicht son- derlich. Der Mensch Hunkeler und sein Sinnieren über die Welt ste- hen im Zentrum der Geschichte. Diese führt uns durch die Stadt Ba- sel, inder sichdie Sommerhitze staut, und vor allem insmelancholisch anmutende Elsass mit seiner scheinbar unberührten Natur. Man merkt bald, dass es sich um eine Idylle mit Rissen handelt. Packend beschreibt Schneider die Streifzüge Hunkelers durch die elsässische Landschaft und die Wälder. Ausdrucksstark ist die Szene mit demverwilderten und Furcht einflössendenHund – Sinnbild der unkontrollierbaren Wildnis, die mit der Mordtat in die zivilisierte Stadt schwappt. Der Autor zeichnet seinen Protagonisten als eigen- willigen, widerspenstigen und doch bodenständigen Menschen, der seinen Spürsinn einzusetzen weiss. Die pointierten Dialoge machen die Geschichte lebendig und geben ihr trotzMord und Totschlag eine wohltuende Leichtigkeit. Es ist Hansjörg Schneiders zehnter «Hunkeler»-Krimi. Jeder ist eine in sich abgeschlossene Geschichte und kann problemlos unabhängig von den anderen Krimis gelesen werden. Hansjörg Schneider, geboren 1938 inAarau, studierte in Basel und arbeitete als Lehrer und Journalist. Seine Theaterstücke, rund 25Dra- men, wurden auf vielen Bühnen inszeniert. Einembreiten Publikum wurde der Schriftsteller mit seinen «Hunkeler»-Krimis bekannt, die immer wieder die Schweizer Bestsellerliste anführten. Sechs davon wurdenmit dembekannten Schweizer SchauspielerMathias Gnädin- ger (2015 verstorben) verfilmt. Heute lebt Schneider als freier Schrift- steller in Basel. RUTH VON GUNTEN Nachsitzen in Hip-Hop Hunkeler in der Wildnis Gehört Gelesen HANSJÖRG SCHNEIDER: «Hunkeler in der Wildnis». Diogenes Verlag, Zürich 2019, 224 Seiten; CHF 30.00, € ca. 22.00 CHLYKLASS: «Deitinge Nord». Chlyklass Records, 2020

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