Schweizer Revue 2/2021

Schweizer Revue / April 2021 / Nr.2 17 Literaturserie So bleibt einem imGedicht «Pitschna indiana» / «Kleine In­ dianerin» das Bild des Indiomädchens, das vor der Well­ blechhütte von einemLastwagen überfahrenwird, so dass das rote Band, das es im Haar trug, neben seine braune Hand zu liegen kommt, wie eine stumme Anklage im Ge­ dächtnis haften. «Pitschna indiana / cul bindè cotschen / Dasper teis man brün» («Kleine Indianerin / mit dem roten Band / neben deiner braunenHaut») endet das Gedicht, und es ist erstaunlich, wie da die Spra­ che des Engadiner Dorfs Ramosch, genau so wie auch in den Versen der Dichterin über die Engadiner Landschaft, mühelos ein weltlite­ rarisches Niveau erreicht. Früh schon hatte Luisa Famos auch den Tod in ihre Bilderwelt mit einbezogen, und am ergrei­ fendsten geschah dies im Gedicht «L’Ala de la mort» / «Der Flügel des Todes», das sie 1972 nach der Rück­ kehr in die Schweiz schrieb und das mit dem Vers endet: «Davo ais gnüda la not / Sainza gnir s-chür / Stailas han cumanzà lur gir / E Tü oDieu / Amd’eirast stendastrusch» («Dann kam die Nacht / ohne An­ kündigung / Sterne traten auf ihre Bahn / Und Du o Gott / warst mir sehr nah.»). Verse, mit denen sich eine Dichterin von ihrer Leser­ schaft verabschiedete, die der Nachwelt für immer als schöne junge Frau in Erinnerung bleiben wird, denn bevor sie im Band «In­ scunters» (Begegnungen) erschie­ nen, war Luisa Famos am 28. Juni 1974 mit 43 Jahren einem heimtü­ ckischen Krebsleiden erlegen. BIBL IOGRAF IE: Rätoromanisch mit deutscher Übersetzung sind Luisa Famos‘ Gedichte im Band «Unterwegs/Viadi» im Limmat-Verlag, Zürich, greifbar. CHARLES L INSMAYER IST L I TERATURWISSEN- SCHAFTLER UND JOURNAL IST IN ZÜRICH CHARLES L INSMAYER «Trais randulinas / Battan lur alas / Vi dal tschêl d’instà // Minchatant tremblan / Trais sumbrivas / Sülla fatschad’ alba / Da ma chà.» Das ist ein rätoromanisches Gedicht, heisst «Lügl a Ramosch» («Juli in Ramosch») und lautet auf Deutsch: «Drei Schwalben / schlagen ihre Flügel / gegen den Sommerhimmel // Drei Schatten / zitternmanchmal / über die weisse Wand / meines Hauses.» In eben diesem Ramosch, einem Dorf zuhinterst im Engadin, wurde Luisa Famos, die Verfasserin der Verse, 1930 geboren. Und obwohl sie den für Mädchen damals attraktivsten Berufsweg wählte und nach demDiplom am Seminar Chur Lehrerin in Sertig bei Davos und in Guarda bei Scuol wurde, hatten sich die Bilder, die sie als Kind in Ramosch empfangen hatte, unauslöschlich in ihre Seele geprägt. Als sie 1959, als Literaturstudentin in Paris, zu schreiben begann, erkannte sie schon bald, dass sie die Felder, die Tannen, die Blumen und die Schwalben des Engadins nur in ihrer eigenen Sprache, dem Ladin, zu evo­ zieren vermochte. Getragen von einer natürlichen Frömmigkeit, sehn­ süchtig nach Liebe und Zärtlichkeit, wusste sie, ohne je rührselig zuwerden, mit ihremgenuinen Sprachtalent dem Bild einer Wolke, dem Läuten der Kirchenglocken, dem Blick zu den Sternen eine leuchtende, lange nachwirkende Intensität abzugewinnen. 1960, sie war inzwischen in die Schweiz heimgekehrt und unterrichtete an einer Schule im Kanton Zürich, erschien, nach ersten Veröffentlichungen im «Chalender Ladin», im Selbstverlag ihr Gedichtband «Mumaints» («Momente») und fand weit herum Zustim­ mung. Eine Bündner Heimatdichterin aber wollte sie nicht sein, ja sie liess sich 1962 sogar beim damals modernsten Medium, dem Fernsehen, engagieren und moderierte die erste rätoromanische TV-Sendung «Il balcun tort». 1969 aber zog sie, inzwischen mit dem Ingenieur Jürg Pünter verheiratet und zweifache Mutter, mit Ehemann und Kindern nach Honduras und 1971 weiter nach Vene­ zuela. Während den drei Jahren in Lateinamerika zeigte sich, dass sich die Möglichkeiten dieser Dichterin keines­ wegs mit dem Schauplatz Graubünden erschöpften, son­ dern dass sich ihr Rätoromanisch durchaus auch eignete, die Landschaftund dieMenschen Südamerikas zu spiegeln, ja dass es ihr sogarmöglichwar, aus der exklusivenDomäne der kolonialenweissenOberschicht auszubrechen und auf bewegende Weise die Not der Indios darzustellen. Honduras und Venezuela auf Rätoromanisch Luisa Famos fand nicht nur für ihre Engadiner Heimat, sondern auch für die Menschen Südamerikas Worte und Bilder von berührender Beseeltheit. D’ingionder ch’eu vegn Woher ich komme Ingio ch’eu giarà wohin ich gehe Chi’m sa dir wer kann es mir sagen Sch’eu sun Ob ich bin Sch’eu sun stat ob ich war Sch’eu sarà ob ich sein werde Chi’m sa dir wer kann es mir sagen Porta’m vent Trage mich Wind Sün ti’ ala auf deinem Flügel Bütta’m flüm wirf mich Fluss A la riva auf das Ufer Deutsche Übersetzung Anna Kurth und Jürg Amann

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