Schweizer Revue 3/2021

Schweizer Revue / Juni 2021 / Nr.3 30 Das Wort 22° Halo bezeichnet einen ringför­ migen Lichteffekt, der entsteht, wenn Sonnen­ licht an Eiskristallen in der Atmosphäre ge­ brochenwird. DieMusikzudiesemPhänomen ist nun auf dem Debütalbum der Schweizer Sängerin Lea Maria Fries zu hören. Ihre Formation heisst ebenfalls 22° Halo, und sie weckt tatsächlichAssoziationen zu Stimmun­ gen von Licht und Klarheit. Fries stammt aus Luzern, wo sie 2014 ihre Ausbildung an der Jazzabteilung der Hoch­ schule abgeschlossen hat. Danach lebte sie in Zürich und Berlin, heute wirkt die Sängerin von Paris aus, wo sie neben 22° Halo auch in weiteren Formationen aktiv ist – unter ande­ rem im Trio von Gauthier Toux. «Light At An Angle» wurde vor zwei Jahren in nur zweiein­ halb Tagen live eingespielt, wegen Corona verzögerte sich die Ver­ öffentlichung jedoch bis heute. Das Warten hat sich gelohnt. Das Werk enthält einen feinglied­ rigen Vocal Jazz mit weitgehend akustischer Ästhetik. Die Stimme von Lea Maria Fries steht dabei für Dringlichkeit, Reife und Tiefe, in den hohen Lagen auch für eine kontrollierte Zerbrechlichkeit. Ihr Gesang ist frei von jeglichenManierismen, was besonders gefällt. Der französische Pianist Gauthier Toux und die Schweizer Lukas Traxel am Standbass und Valentin Liechti am Schlagzeug tragen die Front­ frau ihrerseits mit kreativer Zurückhaltung. Leise Töne prägen das Bild. Die zehn Lieder fliessen, sie sind intim und von einer zeitlosen Schönheit. Doch das Album plätschert keineswegs vor sich hin. Zu anspruchsvoll sind die Kompositionen, zu raffiniert die Arrangements, um nicht in jedem Augenblick zu fesseln. Und ab und zu, genau im richtigenMoment, braust die Band auch einmal auf, wie etwa im Lied «T = G», wo der Sound für einen Augenblick an lärmenden Postrock erinnert. An anderer Stelle ist die Musik eher Singer/Songwriter und Pop denn Jazz. Dann geben dezente elektronische Elemente den Nummern eine experimentelle Note. Diese organisch wirkenden Ausbrüche aus dem traditionellen Muster heben 22° Halo von einer durchschnittlichen Jazzcombo ab undmachen sie für ein breiteres, auch jüngeres Publikum interessant. Sie sind ein willkommenes Licht in finsteren Zeiten – und Lea Maria Fries eine Quelle, die den Schweizer Jazz noch lange erhellen dürfte. MARKO LEHT INEN Dieses Jahr wäre er hundertjährig geworden: der Berner Theologe und Schriftsteller Kurt Marti, der 2017 im hohen Alter von 96 Jahren starb. Marti ist in der Schweiz vorab als Lyri­ ker bekannt, obwohl er auch Prosa verfasste. Der langjährige wortgewandte Pfarrer der Nydegg-Kirche in der Berner Altstadt dichtete in deutscher Schriftsprache und Berner Mundart, aber nicht auf behäbige Art. Seine Poesiewar lakonisch, spielerisch, zeitkritisch. Immer wieder erwies er sich als äusserst präziser Beobachter. Mit knappen Worten Sinn erschliessen – nicht viele können das so wie er. Das zeigt sich nochmals im schmalen Band «Hannis Äpfel», der jüngst posthum er­ schienen ist. Er enthält bisher unveröffent­ lichte Gedichte aus Martis Nachlass. Es geht um Altersgebrechen, das Alleinsein, das Warten auf den Tod. Und vor allem um den tief empfundenen Verlust der Ehefrau. Fast sechzig Jahre waren Kurt und Hanni Marti-Morgenthaler verheira­ tet, als Eltern von vier Kindern. Das Buchcover zeigt die beiden in jun­ gen Jahren, er umarmt sie so innig wie selbstbewusst. 2007 starb Hanni, zehn Jahre vor ihm. Er hätte es lieber umgekehrt gehabt, oder noch besser: beide gleichzeitig, wie Philemon und Baucis in der grie­ chischen Mythologie. Witwer Kurt Marti suchte im Schmerz nach dichterischer Form: «Bei dir war ich gerne ich./Jetzt aber und ohne dich?/Wär’ ich am liebsten/auch ohne mich.» Die Verse stammen aus dem Gedicht «Hanni», das sich über mehrere Seiten erstreckt. Es ist berührend zu lesen, eineHommage an die lebenslange Geliebte, voller Erinnerungen, kurze Szenen, die eine ganze Beziehung charakteri­ sieren. Selbstkritisch spart der Autor die eigeneHilflosigkeit nicht aus, denUnmut darüber, dass dieGefährtin pflegebedürftig gewordenwar. Es seien «zärtliche Notate», schreibt die Lyrikerin Nora Gomrin­ ger im Nachwort. Gekonnt und fein lasse Kurt Marti auch die Bio­ grafie der Ehefrau aufscheinen und würdige sie. Schon in einer noch zu Lebzeiten publizierten Schrift hatte der Dichter und Pfarrer die Vergänglichkeit reflektiert, damals schon als Bewohner einer Alters­ institution in der Stadt Bern. Er schrieb schonungslos, mit Anflügen vonResignation, aber immer blitzte der Sprachwitz auf, der nun auch in seinen letztenGedichten zumAusdruck kommt. Diese handeln von sehr persönlichen Erfahrungen, die jedoch in der alternden Gesell­ schaft für viele Gültigkeit erlangen. Gut, dass der Schriftsteller Guy Krneta sie –mit demEinverständnis der Familie – herausgegeben hat. SUSANNE WENGER Musik aus dem Licht Späte Gedichte über Liebe und Tod Gehört Gelesen 22° HALO: «Light At An Angle». Prolog Records, 2021. www.leamariafries.com KURT MART I : «Hannis Äpfel», Gedichte aus dem Nachlass. Wallstein Verlag, Göttingen, 2021, 90 Seiten; CHF 18.00

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