Schweizer Revue 4/2021

Schweizer Revue / August 2021 / Nr.4 38 Da ist es wieder, dieses schelmische Lächeln, dieser bodenständige Walliser Dialekt, diese offenherzige Art. Stefanie Heinzmann ist am heimischen Fernsehen derzeit omnipräsent. Ob im Realityformat «Das Schweizer Tausch- konzert», in einem Werbespot für ein gift- grünes Getränk oder in Shows, in denen sie ihr neues Album vorstellt. Als ehemaliger Castingstar aus Stefan Raabs «TV total» hat es die Sängerin aus Visp aber nicht leicht. Zwar weiss sie das Fernse- hen seit ihrem ersten Auftritt im Jahr 2007 perfekt für sich zu nutzen. Sie ist ein Promi, das ganze Land kennt sie. Doch genau das ist Fluch und Segen zugleich. Während sie das Interesse des Mainstreampublikums stets auf sicher hat, rümpfen anspruchsvolle Hörerinnen und Hörer chronisch die Nase. Ein Cas- tingstar kann beimbestenWillen keine glaubwürdige Künstlerin sein. Eigene Identität? Gibt es im Realityformat nicht – und auch nicht in der Karriere danach. Dabei wird vergessen, dass Stefanie Heinzmann in Deutschland und der Schweiz durchaus erfolgreichKonzerte bestreitet und in schö- ner Regelmässigkeit Albenmit Songs aus eigener Feder veröffentlicht. Die 32-Jährige führt neben dem Promi-Dasein ein Leben, in dem sie den üblichenWeg einer Künstlerin ohne Abkürzungen geht. Ihr neues Album «Labyrinth» hat deshalb einen möglichst un­ befangenen Hördurchlauf verdient. Und tatsächlich: Heinzmanns sechstes Werk macht sich in den ersten Momenten ganz gut. Das Titelstück klingt nach frischem, zeitgemässem Elektro-Dance-Pop, groovy und funky. Die zweite Nummer «Best Life» gefällt durch einen eingängigenRefrainmit Ohrwurmcharakter. Und auch das dritte Lied «Would You Still LoveMe» beginnt vielversprechend. Doch dann geht demAlbumdie Luft aus. Zu sehr wiederholt sich fortan ein stereotyp durchkonzipiertesMuster zwischen stromlinienförmigemRadiopop und tanzbaremClubsound. Produzent Steffen Graef hat Stefanie Heinzmanns Liedern in Hamburg ein modernes Gewand mit wuchtigen Keyboards, knacki- gen Beats und druckvollemGesamtsound übergestülpt. Stellenweise blitzt ausserdem die Leidenschaft in Heinzmanns Soulstimme auf – wo man sie denn wiedererkennt. Aberwiewar dasmit der Identität? So sympathisch StefanieHeinz- mann auch ist, es bleibt die ebenso schnödewiewenig überraschende Erkenntnis: «Labyrinth» ist Formatmusik von einem Formatstar. Die Nasenrümpfer behalten vorerst recht. MARKO LEHT INEN «Ich glaube, es war 1927, als ich das erste Mal zu ihm nach Ballaigues fuhr, zu meinem Cousin …». Wer ist dieser Cousin des berühm- ten Architekten Le Corbusier? Louis Soutter heisst er, ist zu Lebzeiten als Maler verkannt und wird erst viel später einem breiteren Publikum bekannt. Geboren wurde Louis Soutter 1871 in einer Apothekerfamilie in Morges amGenfersee. Die gefühlskalte Mutter erzieht Louis und seine Geschwister äusserst streng. Louis muss Geige spielen und erhält eine vorzüglichemusikalische Ausbildung. Er heiratet nachAmerika, kehrt aber einige Jahre später verstört und abgebrannt in die Schweiz zurück. Es gelingt ihm nicht, wieder Fuss zu fassen. Er wird gar bevormundet und in ein Arme-Leute-Altersheim in Ballaigues, im schweizerischen Jura, eingewiesen, wo er fast 20 Jahre bis zu seinem Tode 1942 lebt. Abgeschieden von der Welt be- ginnt er umso intensiver zumalen. Als seine arthritischenHände den Pinsel nicht mehr halten können, malt er direkt mit den Fingern. So entsteht ein visionäres Spätwerk mit Tausenden von Blättern voller Figuren. Der Autor Lukas Hartmann nähert sich in seinem Roman dem Maler und Menschen Soutter in 33 Kapiteln. Abwechselnd erzählen – in der Ich-Form – sein Cousin Le Corbusier und seine Mutter, während in der dritten Person die Sicht seiner Schwester und ande- rer Bekannten geschildert wird. Hartmann ist ein eindringliches Porträt dieses schüchternen, hochsensiblen und intelligenten Künstlers gelungen, der verkannt und als lebensuntüchtig abgestempelt worden war. Empathisch hat er sich Soutters Persönlichkeit genähert und dessen Leben in die Zeitgeschichte der Vorkriegsjahre und des Zweiten Weltkrieges eingeordnet. Auch die anderen Figuren sind plastisch fassbar dank dialogischen Szenen, die historisch nicht verbürgt sind. Fakten und Fiktion sind virtuos miteinander verwoben. Vor einigen Jahren hat sich schon ein anderer Schweizer Autor, Michel Layaz, mit einem interessanten Roman der Figur Louis Sout- ter angenähert. «Louis Soutter, probablement» heisst das Buch, das 2016 bei Éditions Zoé erschienen ist. (Deutsche Übersetzung: «Louis Soutter, sehr wahrscheinlich», Verlag die Brotsuppe, 2020). Lukas Hartmann, einer der bekanntesten Schweizer Autoren der Gegenwart, wurde 1944 in Bern geboren, wo er auch heute lebt. Er schreibt Bücher für Erwachsene und Kinder. RUTH VON GUNTEN Formatierte Identität Schattentanz Gehört Gelesen STEFANIE HEINZMANN: «Labyrinth» BMG, 2021. LUKAS HARTMANN: «Schattentanz» Diogenes Verlag AG Zürich, 2021 256 Seiten; CHF 32.00

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