Schweizer Revue 2/2022

Schweizer Revue / April 2022 / Nr.2 15 Literatur pathie dem Katholizismus der Freundin Mariette zu. Schrecklich, was die Juden Jesus angetan haben! Dann aber stösst er auf das ewige Leiden und das Verfolgtsein der Juden, und in einer prophetischen Vision enthüllt sich ihmhinter demkargen jüdischenKult, den ihmder kuriose Rebbe Lobmann nahebringt, der messianische Traumvon einer glücklichen Menschheit. Ein Schicksal von erschütternder Tragik Als in Deutschland, wo er studiert hatte, ein offen antisemitisches Regime dieMacht ergriff, sah Fleg denHolocaust voraus. 1939 hatten sich seine Voraussagen weitgehend erfüllt, und im Krieg Deutschlands gegen Frankreich verlor er kurz hintereinander seine beiden Söhne: Daniel, den jüngeren, der sich in der Seine ertränkte, weil er nicht zum Kampf gegenDeutschland eingezogenwurde, Maurice, den älteren, der imKampf gegen Deutschland fiel. Und als ob es damit nicht genug wäre, verlor er am 6. April 1940 auch noch seinen einzigen Enkel, als er sich, von den Ärzten umRat gefragt, in einer schrecklichen Notsituation für das Überleben seiner Schwiegertochter und gegen derenKind entschied. Entmutigen aber liess Fleg sichnicht: nach der deutschen Besetzung Frankreichs machte er an seinemZufluchtsort in der Provenceweiterhin junge Juden mit ihrer Religion vertraut, und als er am 15. Oktober 1963 starb, galt er als ein Hauptexponent der christlich-jüdischen Versöhnung. Acht Jahre nach seinem Tod aber holte ihn der Antisemitismus doch noch ein. In der Wohnung am Quai-auxFleurs für die Verschickung nach Israel bereitgestellt, wurde sein ganzer literarischer Nachlass mit allen Originalen und den Briefen von Proust, Mauriac, Camus und anderen von Unbekannten geraubt und so sicher verwahrt oder vernichtet, dass niemehr eine Spur davon auftauchte. BIBL IOGRAF IE: «Das Prophetenkind» ist in der deutschen Übersetzung von Giò WaeckerlinInduni und mit einer Fleg-Biografie von Charles Linsmayer als Band 21 der Edition Reprinted by Huber im Verlag Th. Gut, Zürich, greifbar. Auf Französisch ist der Roman in der Collection Blanche des Verlags Gallimard, Paris, lieferbar. CHARLES L INSMAYER IST L I TERATURWISSENSCHAFTLER UND JOURNAL IST IN ZÜRICH CHARLES L INSMAYER «DiesesWerkwird unsterblich sein», meinte Charles Péguy, als er im Oktober 1913 dem Autor Edmond Fleg die druckfrische Nummer der «Cahiers de la Quinzaine» mit dem ersten Teil des Gedichtzyklus «Écoute, Israël!» in dessen Wohnung amQuai-aux-Fleurs 1 auf der Pariser Île de la Cité brachte. Der Titel des Gedichtzyklus lehnte sich an das grundlegende Gebet des Judentums an, dem aus drei Moses-Zitaten zusammengesetzten «Höre Israël, der HERR ist unser GOTT, der HERR ist einer». Und mit dem zuletzt 700-seitigen und erst 1948 vollendeten Versepos war der 1874 geborene Sohn eines Genfer Kaufmanns daran gegangen, seinenZeitgenossen in einer 4000 Jahre umfassenden «Légende des siècles» die Schönheit und Grösse des Judentums vor Augen zu führen. Er tat dies – nach einer Phase völliger Distanzierung von seiner jüdischenHerkunft – aufgeschreckt vom Antisemitismus rund um den DreyfusProzess. Fleg, der als Ehemann von Madeleine Bernheimund Vater zweier Söhne in Paris lebte, freiwillig amErsten Weltkrieg teilgenommen hatte und nach Erfolgen als Dramatiker ab 1928 persönlich-eigenwillige Biografien grosser jüdischer GestaltenwieMoses, Salomon – aber auch Jesus! – publizierte, errang seinen nachhaltigsten Erfolg allerdings nicht mit «Écoute, Israël!», sondern mit dem 1926 erschienenen Jugendbuch «L’enfant prophète», das Tausende junger Juden auf liebenswürdig humorvolle Weise mit ihrer Religion versöhnte. Was es heisst, Jude zu sein «Um Christ zu sein, muss man glauben, dass Jesus inder Hostie ist und dass er Gott ist. Doch was muss man glauben, um Jude zu sein?» Claude Lévy, die Titelfigur des Romans, findet keine Antwort, und so wendet er sich voller SymDer messianische Traum von einer glücklichen Menschheit Der Genfer Edmond Fleg hat im Jahrhundert seiner grössten Bedrohung die Grösse und Schönheit des Judentums gepriesen – am überzeugendsten in einem Jugendbuch. «Warum will Gott, dass Israel ein Volk von Priestern sei? Damit die Welt sich verändert, damit die Welt, wie sie ist, die Welt wird, wie sie sein wird, wenn durch die Ankunft des Messias Gerechtigkeit und Friede herrschen werden auf der Erde. Dieser messianische Traum ist heute der Traum der gesamten Menschheit.» (Edmond Fleg an der Schlusssitzung des Jüdischen Weltkongresses 1958 in Genf)

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