Schweizer Revue 2/2022

Beziehung Schweiz–China: Es ist recht kompliziert ... Der mächtigste Wohnblock der Schweiz: Unendlich lang – und erstaunlich wohnlich Zwischen Kunst und Kanonen: Zürichs explosive Kulturdebatte SCHWEIZER REVUE Die Zeitschrift für Auslandschweizer April 2022 Herausgeberin der «Schweizer Revue» ist die Auslandschweizer-Organisation (ASO).

© Milo Zanecchia 98. Auslandschweizer-Kongress vom 19.-21. August 2022 in Lugano: Reservieren Sie sich diese Daten! Unsere Partner: Im sonnigen Tessin werden Bundespräsident Ignazio Cassis und weitere hochkarätige Referentinnen und Referenten über die Herausforderungen für unsere Demokratie sprechen. Engagieren Sie sich schon vor Ihrer Anmeldung in der SwissCommunity und diskutieren Sie das Kongressthema: https://members.swisscommunity.org.

Schweizer Revue / April 2022 / Nr.2 3 Die Schweizer Olympiasiegerinnen und -sieger haben wohl ihr in Peking erkämpftes Edelmetall inzwischen sicher versorgt. Sie peilen bereitswieder die Trainings für den nächsten Wettkampfwinter an. Gleichwohl erlaubenwir uns noch den klitzekleinen olympischen Rückblick: Anders als sonst üblich gratulierte in Peking nämlich kein Schweizer Regierungsmitglied den goldbehangenen Olympioniken. Weder Sportministerin Viola Amherd noch Bundespräsident Ignazio Cassis waren vor Ort. Das hat seine Geschichte. Die Landesregierung brütete bekanntlich lange über der delikaten Frage, ob sie eine politische Delegation an die Spiele entsenden soll oder nicht.Wir erinnern uns: Mehrere Staaten – etwa die USA, Grossbritannien, Kanada, Australien und Neuseeland – hatten zuvor beschlossen, keine Regierungsvertreter nach Peking zu schicken. Was also tun? Sich demdiplomatischen Boykott anschliessen, weil ja auch die offizielle Schweiz die chinesische Minderheiten- und Menschenrechtspolitik alles andere als hinnehmbar findet? Oder doch nachChina reisen, um dem drittwichtigsten Handelspartner der Schweiz Respekt zu zollen? Schliesslich liess die Schweizer Regierung an einem frostigen, nebligen Januartag wissen, sie werde nicht ins Land der Mitte reisen. Aber nicht aus Protest. Sondern weil sie angesichts der Pandemielage zuhause gebraucht werde und weil vor Ort eh keine Treffen möglich seien. Das war eher eine kühne Verrenkung als eine wirklich gute Erklärung. Der kleine Blick zurück illustriert, wie delikat das Verhältnis zwischen Bern und Peking zuweilen ist. Zwar gehörte die Schweiz zu den allerersten westlichen Staaten, die – bereits 1950 – auf die Volksrepublik zugingen. Doch die Beziehung mit China blieb kompliziert und sie könnte noch komplizierter werden: Wie wir in unserem Schwerpunkt zeigen, ist der bewusst pragmatische Umgang der Schweiz mit China unter Druck. Sie kann sich immer schlechter hinter ihrer Neutralität verbergen – weil Nachbarn und Freunde der Schweiz gegenüber China immer deutlicher Klartext reden. Die Schweiz wird dadurch gedrängt, selber klarer Position zu beziehen. In dieser Lage allein zu betonen, Pragmatismus und Neutralität seien schliesslich keine Synonyme für Gleichgültigkeit undOpportunismus, genügt auf längere Sicht wohl nicht. Haben wir ob all der Politik vergessen, die Namen der brillantesten Schweizer Olympioniken der vergangenen Spiele zu nennen? Sie finden diese ganz am Ende dieses Heftes – als goldenen Schlusspunkt. MARC LETTAU, CHEFREDAKTOR Editorial 4 Briefkasten 6 Schwerpunkt China und die Schweiz nützen sich – und reizen sich 10 Gesehen Meret Oppenheim 12 Schweiz extrem Zuhause im längsten Wohngebäude der Schweiz 15 Literatur Wie Edmond Fleg die Schönheit des Judentums inWorte fasste 16 Corona Der Winter der hohen Fallzahlen Nachrichten aus Ihrer Region 17 Politik An Schweizer Urnen wird über Europas Grenzschutz abgestimmt 20 Gesellschaft Herzen, Lungen, Nieren: Werden im Prinzip alle zu Organspendern? 22 Kultur Zürich streitet über geraubte Kunst 24 Schweizer Zahlen 25 Swisscommunity-News 27 Aus dem Bundeshaus 30 Gelesen / Gehört 31 Herausgepickt / Nachrichten Inhalt Olympische Spielerei Titelbild: Cartoonist Max Spring zeichnet für die «Schweizer Revue» Herausgeberin der «Schweizer Revue», dem Informationsmagazin für die Fünfte Schweiz, ist die Auslandschweizer-Organisation.

Schweizer Revue / April 2022 / Nr.2 4 Briefkasten Die verlorene Ehre der Wasserkraft Viel zu wenig in Betracht gezogen wird der Stromverbrauch. Stromverschwendung sollte ihren Preis haben. Ineffiziente Maschinen, Apparaturen und Beleuchtungskörper sollten mit einer Strafsteuer belastet werden. Heute verschwendenwir viel Energie, weil sie einfach verfügbar und günstig ist.Wie viele elektrische Apparate haben Sie in IhremHaushalt? ANDRÉ Z IMMERMANN, TOKIO, JAPAN Hier stehen wir nun also am Fuss der Mauer (nicht der Staumauer, sondern des Klimawandels!).Wowir realisieren, dass jede Lösung ihre Schattenseiten und Nachteile hat. Nur der Dialog wird uns zu einvernehmlichen, fundierten Lösungen führen. CL AUDE ROCHAT, CHALON S/S, FRANKREICH Der Klimawandel verursacht nicht einfach eine Änderung der Jahreszeit, in welcher der «Abfluss» geschieht. Und dass Gletscher zu Seen schmelzen. Ob dasWasservorkommen natürlich ist oder künstlich erzeugt wird, ist unwichtig, denn seine Menge ist bedeutend kleiner ... Dies hat nicht nur einen Einfluss auf die Landschaft und auf Arten, die bereits gefährdet sind oder es noch werden könnten (wie wir, zum Beispiel, wegenMangel anTrinkwasser oderWasser für die Landwirtschaft, die unsere Nahrung produziert), sondern auch auf den aussichtslosenWunsch, Strom auf diese Weise zu erzeugen! MARC PET I TPIERRE, USA Denken wir nicht nur an Staumauern in den Bergen. Überall, wo Wasser durchfliesst, kann mit modernen Technologien relativ diskret Energie gewonnenwerden. Frankreich hat eben beschlossen, die kleinen Produzenten – Mühlen, Sägewerke und so weiter – wieder miteinzuschliessen. Einst produzierte der sogenannte «Millionenbach» (Anmerkung der Redaktion: der Aabach im Luzerner Seetal) Energie für eine ganze Industriegegend, bevor er in den Greifensee mündete. JEAN THOMAS WEBER, ST.-GENGOUX-LE-NAT IONAL, FRANCE MeinerMeinung nach kann demKlimawandel nicht begegnet werden, ohne dass persönliche Einsparungsentscheidungen getroffen und für Transporte neue Wege gefunden werden. Der Wasserstoffmotor kann alle Fahrzeuge antreiben. Aber weiterhin steht bei Fahrzeugen der Strom imVordergrundmit demRisiko, dass es an Ersatzbatterienmangelnwird. Ich habe 35 Jahre imWallis gelebt und denke, dass Staumauern unabdingbar sind, aber dass sie besser in den Naturschutz eingebunden werden müssen, mit ausreichender Wassermenge in den Flüssen. L AMPO MARC, L AMPERTHEIM, FRANKREICH Es gibt keinen anderenWeg, umdas Problem zu umgehen, als erneut in die Kernenergie zu investieren, wobei der Schwerpunkt eindeutig auf der erneuten Erforschung undWiederverwendung des hochaktivenAbfalls liegt. Niemandmöchte, dass Windenergie in grossemUmfang gebaut wird, da sie als Immobilienentwertung sowie als Vogel- und Landschaftszerstörer angesehen wird. RICH WALTERS, TODTMOOS, DEUTSCHL AND Wir müssten mehr über das technisch Naheliegende reden – womit wir wieder beimWasser angelangt sind, genauer gesagt beim Wasserstoff: Der Wasserstoff-Verbrennungsmotor ist erwiesenermassen für Grossanlagen mit festem Standort geeignet, aber auch für grosse Lastwagen, Lokomotiven und Schiffe. Der Haken an der Sache? Das dazu benötigte Leitungswasser ist einfach zu billig, was der weltweit aufgeblasenen Energiewirtschaft nicht entgegenkommt. Also sucht man krampfhaftnach teuren, preisgebundenenAlternativenergien. ARYE- ISAAC OPHIR, ISRAEL Wie Julius Maggi die Küchen eroberte Welch fantastischer Artikel! Seit 1970 koche ich für unsere Familie und ohne Maggi-Würze komme ich auf keinen Fall aus. Vor Jahren gab es hier in Brisbane eine Zeit, in der Maggi nicht erhältlich war. Von einem Schweizer Kollegen, ein Koch, wurde mir dann empfohlen, Sojasauce zu nehmen. Aber das ist einfach nicht dasselbe. Ich war richtig froh, als die berühmte Flasche wieder auf den Regalen unserer Supermärkte auftauchte. BI LL BOHLEN, AUSTRAL IEN Hervorragender Artikel, kurz und doch sehr informativ. Wie andere, die Sie regelmässig veröffentlichen, verleiht er denDiskussionsthemen Würze und eine angenehme Abwechslung von Themen, die die Erwähnung unserer Staatsbürgerschaft so oft im Ausland hervorruft: Banken, Reiche, (teure) Uhren usw. ... Danke! ARNAUD CARASSO, MOSKAU, RUSSL AND Wirklich eine Erfolgsgeschichte im kommerziellen Sinn. Schade, dass der Artikel nicht darauf hinweist, dass die schmackhafte Maggie-Würze heutzutage nicht unbedingt gesunde Zutaten enthält. Heute mehr denn je ist es wichtig, dass die Konsumenten darauf aufmerksam gemacht werden, was sie konsumieren. Der anfängliche Skeptizismus der Leute

Schweizer Revue / April 2022 / Nr.2 5 «SCHWEIZER REVUE» – MIT DREI KLICKS ZUR APP! Holen Sie sich die «Schweizer Revue» gratis als App! Es ist ganz einfach: 1. Öffnen Sie auf Ihrem Handy oder Tablet den Appstore 2. Geben Sie den Suchbegriff «Swiss Review» ein 3. Klicken Sie auf Laden und Installieren – fertig! Beziehung Schweiz–China: Es ist recht kompliziert ... Der mächtigste Wohnblock der Schweiz: Unendlich lang – und erstaunlich wohnlich Zwischen Kunst und Kanonen: Zürichs explosive Kulturdebatte SCHWEIZER REVUE Die Zeitschrift für Auslandschweizer April 2022 Herausgeberin der «Schweizer Revue» ist die Auslandschweizer-Organisation (ASO). © www.pexels.com Konsularische Dienstleistungen überall, komfortabel auf Ihren mobilen Geräten www.eda.admin.ch Wien (2022) www.examprep.ch +41 44 720 06 67 // // info@examprep.ch Studieren in der Schweiz? Auch ohne CH-Matur möglich! Vorbereitungskurse für die direkten Aufnahmenprüfungen ETH ECUS Uni Zürich Passerelle Gymi // // // // IMPRESSUM: «Schweizer Revue», die Zeitschrift für die Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer, erscheint im 47. Jahrgang in deutscher, französischer, englischer und spanischer Sprache in 14 regionalen Ausgaben und einer Gesamtauflage von rund 431 000 Exemplaren (davon 253 000 elektronische Exemplare). Regionalnachrichten erscheinen viermal im Jahr. Die Auftraggeber von Inseraten und Werbebeilagen tragen die volle Verantwortung für deren Inhalte. Diese entsprechen nicht zwingend der Meinung der Redaktion oder der Herausgeberin. REDAKTION: Marc Lettau, Chefredaktor (MUL); Stéphane Herzog (SH); Theodora Peter (TP); Susanne Wenger (SWE); Konsularische Direktion, Abteilung Innovation und Partnerschaften, Rubrik «Aus dem Bundeshaus». REDAKTIONSASSISTENZ: Sandra Krebs ÜBERSETZUNG: SwissGlobal Language Services AG; GESTALTUNG: Joseph Haas POSTADRESSE: Herausgeber/Sitz der Redaktion/Inseraten-Administration: Auslandschweizer-Organisation, Alpenstrasse 26, 3006 Bern, Schweiz. Tel. +41 31 356 61 10; Bankverbindung: CH97 0079 0016 1294 4609 8 / KBBECH22 E-MAIL: revue@swisscommunity.org DRUCK & Produktion: Vogt-Schild Druck AG, 4552 Derendingen. Alle bei einer Schweizer Vertretung angemeldeten Auslandschweizerinnen und -schweizer erhalten das Magazin gratis. Nichtauslandschweizer können das Magazin für eine jährliche Gebühr abonnieren (CH: CHF 30.–/Ausland: CHF 50.–). Abonnenten wird das Magazin manuell aus Bern zugestellt. www.revue.ch Redaktionsschluss dieser Ausgabe: 9. Februar 2022 ÄNDERUNGEN in der Zustellung teilen Sie bitte direkt Ihrer Botschaft oder Ihrem Konsulat mit. Die Redaktion hat keinen Zugriff auf Ihre Daten. zeigt meiner Meinung darauf hin, dass die Leute dazumal sahen, dass gesundes Essen nicht aus einer Flasche kommt, welche in einer Fabrik hergestellt wurde. HEDWIG KRASEVAC, WESTERN AUSTRAL IA Ich habe als kleines Kind meine Mutter oft verärgert, weil ich einfach an alles auch noch hektoliterweise Maggi drauftat! Auchheute stehtMaggi immer noch bei meinenGewürzen und kommt regelmässig zum Einsatz – bin ich jetzt deswegen ein schlechter Koch? BENNY MEIER, WALDGIRMES, DEUTSCHL AND Das erinnert mich an das dicke, blaue Kochbuch, welches meineGrossmutter immer brauchte. Und ichwusste nicht, dass in derWürze gar kein «Maggikraut» (Liebstöckel) enthalten ist… RUTH PF ISTER, TRURO, KANADA Ich glaube, ich habe noch keinen Salat, keine Suppe und keinen Eintopf ohne Maggi zubereitet. Auf meinen Reisen hatte ich Maggi stets dabei, ob im feucht-tropischen Regenwald von Papua-Neuguinea oder im australischen Busch. In vielen asiatischen Lebensmittelläden wird Maggi immer noch in grossen Flaschen verkauft. BEAT ODERMATT, ADEL AIDE, AUSTRAL IEN Einwirklich interessanter Artikel und eine «schöne Geschichte der Industrie». Oft ist es doch bemerkenswert festzustellen, dass Konzepte wieMarketing, Influencer und viele weitere im Artikel erwähnte bereits seit Langemexistieren. Geändert hat sich, dass das Marketing im Laufe der Zeit konzeptualisiert wurde und nun beinahe zu einer Wissenschaft geworden ist. Vielen Dank für die Mühe. FRANÇOIS MONTANDON, ORVAULT, FRANCE Es ist notwendig, Julius Maggi für seinen Beitrag zur weltweiten Esskultur zu danken. Beeindruckende Erzählung. ÖNDER ERDOGAN, ÇORUM, TÜRKEI Maggi ist auch bei meinen Kindern und Grosskindern beliebt. Habe eine grosse Flasche im Schrank, damit ich stets ein kleines Fläschli nachfüllen kann. HULDA SHURTLEFF-NYDEGGER, HOWELL MI , USA

Schweizer Revue / April 2022 / Nr.2 6 Schwerpunkt EVEL INE RUTZ China reagierte postwendend. Die Schweiz solle sich nicht in die inneren Angelegenheiten des Landes einmischen, sagte Chinas Botschafter in Bern, Wang Shiting, imMärz 2021. Er sprach von «unbegründeten Anschuldigungen» und «Fake News». Wenige Tage davor hatte Aussenminister Ignazio Cassis die künftige ChinaStrategie des Bundesrats vorgestellt. Dabei hatte er auch die Menschenrechtslage und denUmgang des chinesischen Regimes mit Minderheiten thematisiert. Er hatteungewohnt deutlicheWorte gewählt und etwa «zunehmend autoritäre Tendenzen» festgestellt. Wang Shiting kritisierte da- raufhin öffentlich, dass einige Schweizer ideologische Konfrontation betreibenwürden: «Das ist der Entwicklung der Beziehungen nicht dienlich.» Frühe Annäherung Die Kontakte zwischen der Schweiz und China haben Tradition, sie sind vielschichtig und kompliziert. Als einer der ersten westlichen Staaten hat die Schweiz diemaoistische Volksrepublik 1950 anerkannt. Seit den 1980er-Jahren pflegt sie auf breiter Ebene einen bilateralenAustauschmit Peking. Seit gut 30 Jahren unterstützt sie zudem Projekte, die demWissens- und Technologietransfer dienen. Dazu zählen heute etwa Entwicklungshilfeprojekte, die China helfen sollen, dem Klimawandel etwas entgegenzusetzen. Schliesslich besteht seit 1991 ein sogenannter Menschenrechtsdialog. Dieser sieht vor, dass die Aussenminister beider Länder jährlich über dieMenschenrechtslage inChina sprechen. Weil die offizielle Schweiz die internationale Kritik an der prekären Lage der Uiguren in Xinjiang teilt, ist dieser Dialog seit 2019 allerdings auf Eis gelegt. Eines der wichtigsten Exportländer Besonderes Gewicht haben seit jeher diewirtschaftlichenBeziehungen. Ein Illustrationsbeispiel der frühen wirtschaftlichen Annäherung liefert der Luzerner Lift- und Rolltreppenhersteller Schindler: Schindler ging 1980 als erstes westliches Industrieunternehmen ein Joint Venture mit den Chinesen ein. Inzwischen ist Schindler an sechs Standorten präsent, profitiert vomBauboom inChinasMetropolen und ist an zahlreichen Prestigebauten beteiligt. Gegenwärtig ist China für die Schweiz das drittwichtigste Exportland, hinter dem Nachbarland Deutschland und den USA. Die Schweiz ist das erste Land Kontinentaleuropas, dasmit der asiatischen Grossmacht einen Freihandelsvertrag unterzeichnete. Das 2014 in Kraft getretene Abkommen verschafft ihr Wettbewerbsvorteile. Unternehmen Schweiz–China: Wenn zwei, die voneinander profitieren, sich gegenseitig irritieren Bereits seit 1950 pflegen die Schweiz und China bilaterale Beziehungen. Doch das Verhältnis zwischen dem demokratischen Kleinstaat und der kommunistischen Grossmacht ist bisweilen kompliziert. Und es wird wohl noch komplizierter. Denn: Im Sog der globalen Verhärtung steigt der Druck auf die Schweiz, klarer Position zu beziehen. profitieren von einem erleichterten Marktzugang; sie exportieren zollfrei oder zu reduzierten Tarifen. Wie die Schweiz China nützt Auf das Pionierhafte ihrer bilateralen Kontakte sind beide Seiten stolz. Die offizielle Schweiz sieht ihre Rolle darin, Brücken zu bauen. Sie setzt auf einen «konstruktiv-kritischenDialog» und ist zurückhaltend, was öffentliche Kritik oder Sanktionen betrifft. Siewill Verbesserungen anstossen, indemsiemit China zusammenarbeitet. Für die chinesische Regierung sind die vielfältigen Kooperationen politisch interessant: Sie sieht im neutralen Kleinstaat Schweiz ein Bindeglied – und ein Tor – zu Europa. Die beiden Länder tauschen sich regelmässig auf höchster politischer Ebene aus. Dabei ist es jedoch schon

Schweizer Revue / April 2022 / Nr.2 7 einige Male zu Verstimmungen gekommen. Viele Schweizerinnen und Schweizer erinnern sich an den Besuch von Jiang Zemin im Jahr 1999. Dass damals in der Berner Innenstadt Tibeter demonstrierten – und damit von einem in der Schweiz häufig wahrgenommenen demokratischen Recht Gebrauch machten – erzürnte den chinesischen Staatschef. Er liess die Schweizer Regierung warten und kürzte den offiziellen Empfang dann sichtlich verärgert ab. Als die damalige Bundespräsidentin, RuthDreifuss, später die Menschenrechte thematisierte, spitzte sich die Situationweiter zu. Zemin sagte schliesslich: «Sie haben einen Freund verloren.» Das Regime kontrolliert sein Bild Irritationen sind allerdings nicht nur auf dem politischen Parkett zu beobachten. Firmen- und Immobilienkäufe, aber auch chinesische Investitionen in den Schweizer Fussball lösen hierzulande Unbehagen aus. Wie kaum eine andere Staatsmacht versucht die Kommunistische Partei Chinas (KPC) zu kontrollieren, wie sie im Ausland wahrgenommen wird. Auch in der Schweiz verfolgt sie systematisch und mit grossem Aufwand, wie innerhalb der Diaspora, an Bildungsinstituten, in Wirtschaftskreisen, aber auch in der Kulturszene über die Volksrepublik diskutiert wird. KPC-Vertreter nehmen auch an öffentlichen Veranstaltungen teil. An der Universität Zürich sorgten sie an einem Anlass für Aufsehen, als sie die Kamera zückten, als aus ihrer Sicht unangebrachte Fragen gestellt wurden. Die chinesische Botschaft in Bern intervenierte unter anderem, als Studierende der Zürcher Hochschule Unfreiwillige Symbolik: Chinas Ministerpräsident Li Keqiang «trifft» Bundesrat und Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann in Peking (2013). Foto Keystone der Künste einen Film über die Proteste in Hongkong realisierten. 2021 löste zudem der Fall eines Doktoranden der Universität St. Gallen (HSG) Schlagzeilen aus. Er hatte die chinesische Regierung auf Twitter kritisiert, worauf sich seine Professorin von ihm distanzierte. Er bemühte sich vergeblich darum, dass ihn die HSG nach einem Abstecher an eine chinesische Universität erneut immatrikulierte. Der Konflikt endete schliesslich damit, dass sich der Mann – nach drei Jahren Forschungsarbeit – beruflich umorientierte. Die HSG, die über Austauschprogramme, Ausbildungs- und Forschungsprojekte Kontakt zu Hochschulen in China pflegt, kündigte inzwischen an, sich mit Gefahren wie unkontrolliertem Wissenstransfer oder Selbstzensur auseinanderzusetzen. Selbstzensur im Forschungsbereich Ralph Weber, Professor am Europainstitut der Universität Basel, stellt die Vorkommnisse in einen grösseren Zusammenhang. Er spricht von einem strukturellen Problem, von dem viele Hochschulen in Europa betroffen seien. «Das Thema Selbstzensur stellt sich allen Forschenden, die auf dem Gebiet autoritärer Regimes tätig sind.» DasAuftretenChinas fordereBildungsinstitutionen, aber auch Firmen und die Politik zunehmend heraus. Der Politologe hat untersucht, wie die chinesische Regierung in der Schweiz Einfluss nimmt. «Diese Bemühungen des chinesischen Parteistaats haben System», sagt Weber. Er verfüge über ein schwer durchschaubares Netzwerk von Vereinigungen und Organisationen, die sich mit hiesigen Akteuren verbandelten. «So versucht er, seine

Schweizer Revue / April 2022 / Nr.2 8 Schwerpunkt zivilgesellschaftliche Organisationen lehnen es ab, mit einemRegime zu kooperieren, das «Minderheiten unterdrückt», wie es der Bund offiziell formuliert. Sie prangern das Vorgehen des Einparteienstaats gegen Andersdenkende, Tibeter, Uiguren und die Bewohner Hongkongs seit Jahren an. Die Kritik und der Ruf nach einer härteren Gangart sind zuletzt lauter geworden. In den eidgenössischen Räten haben entsprechende Vorstösse zugenommen. Im Herbst debattierte das Parlament darüber, ob der Freihandelsvertrag um ein Kapitel über Menschen- und Sozialrechte ergänzt werden soll. «Hoffnungen, dass sich im Zuge der wirtschaftlichen Öffnung auch Fortschritte im Bereich der Demokratie Botschaften in unsere Köpfe zu bringen.» Wer in China Geschäfte tätigt, hat mit der Kommunistischen Partei zu tun. Wie weit man ihr entgegenkommen soll, sorgte letztes Jahr für Diskussionen, als die Grossbank Credit Suisse ein Konto des regimekritischen Künstlers Ai Weiwei auflöste. Die Bank begründete den Schritt mit fehlenden Papieren. Kritiker führen hingegen ins Feld: Die Credit Suisse, die ihre Position imasiatischenMarkt stärken möchte, wolle die chinesischen Behörden nicht verärgern. Nicht erfüllte Hoffnungen Der bilaterale Austausch mit dem Reich der Mitte ist seit jeher eine Gratwanderung. Linke Parteien und und der Menschenrechte einstellen werden, haben sich leider nicht erfüllt», sagte der grünliberale Nationalrat Roland Fischer (LU). Der langjährige Menschenrechtsdialog habe wenig Wirkung gezeigt. Bundesrat Guy Parmelin erwiderte, dass es kontraproduktivwäre, verbindliche Klauseln einzufordern. «Wir würden uns in eine Blockadesituation begeben», warnte er. «Und zudem die Türen für den Dialog mit China über all diese wichtigen Themen schliessen.» Pragmatisch – oder opportunistisch? Die Schweiz wolle Brücken bauen, Chancen nutzen und Probleme offen ansprechen, heisst es in der neuen Strategie des Bundesrats. Er will den vielfältigen Beziehungen damit einen nachvollziehbarenRahmen geben. Er setzt weiter auf eine eigenständige China-Politik und betont seine neutrale Haltung. Gleichzeitig will er sich dafür einsetzen, China in die «liberale internationaleOrdnung und in die Bewältigung globaler Herausforderungen» einzubinden. Nur: «Die Strategie ist in diesem Punkt zweideutig», sagt Ralph Weber. Es sei nicht klar, wie man das konkret umsetzenwolle. Diesen Konflikt trage die Schweiz allerdings seit Jahrzehntenmit sichherum: «Seit sie sich – aus durchaus nachvollziehbaren Gründen – dazu entschieden hat, mit einem autoritären Regime zu handeln und trotzdem ihrenWerten treu bleiben zu wollen». Die Schweiz verfolge einen pragmatischenWeg, sagt der Politologe. Dieser könne jedoch auch als Opportunismus verstanden werden. Der Schweizer Weg gerät unter Druck Tatsächlich wird es für die Schweiz zunehmend schwierig, ihre neutrale Haltung zu rechtfertigen. Chinas Ringen um globalen Einfluss löst weltDa war noch alles in Ordnung: Chinas Staatschef Jiang Zemin vor Bundespräsidentin Ruth Dreifuss am 25. März 1999 bei seiner Ankunft auf dem Flughafen Genf. Wenig später die Eskalation: Jiang Zemin konfrontiert Bundespräsidentin Ruth Dreifuss mit der Aussage, sie habe «ihr Volk nicht im Griff»; Dreifuss kontert dezidiert und will über Chinas Menschenrechtslage sprechen. Fotos Keystone, 1999

Schweizer Revue / April 2022 / Nr.2 9 weit Abwehrreaktionen aus. Die USA verschärften ihre Rhetorik unter Donald Trump deutlich und zettelten einen Handelskrieg an. Joe Biden tritt moderater auf, verfolgt aber einen ebenso klaren Kurs. Im November 2021 hat er Chinas Staatschef Xi Jinping vor einer Konfrontation gewarnt. DerwirtschaftlicheWettbewerb dürfe nicht in einenKonflikt ausarten, sagte der US-Präsident an einem virtuellen Treffen. Alle Länder müssten sich an die gleichen Spielregeln halten. Die EU verhängte letztes Jahr Sanktionen gegen chinesische Verantwortliche. Sie protestierte damit gegen die «willkürlichen Inhaftierungen» von Uiguren in Xinjiang. Peking reagierte umgehendmitMassnahmen gegen europäische Parlamentarier und Wissenschaftler. Gegensanktionen ergriff das Regime auch, als Kritik an seinem Pandemie-Management laut wurde. Es schränkte beispielsweise den Handel mit Australien ein, nachdem dieses Forderungen unterstützt hatte, die Ursprünge der Corona-Pandemie zu untersuchen. «Global polarisiert China spätestens seit der Pandemie», stellt der Schweizer Nachrichtendienst in seinem Lagebericht 2020 fest; das internationale Image Chinas habe gelitten. In seiner Analyse geht der Nachrichtendienst auch auf die Gefahr von Cyberangriffen und chinesischer Spionagetätigkeit ein. Letztere stellten «eine bedeutende Bedrohung für die Schweiz» dar, warnt er. Dies zeigt, warum der neutrale Ansatz gegenüber China immer mehr an Grenzen stösst. Diskussion über einen diplomatischen Boykott Die Schweizer Haltung gab vor den OlympischenWinterspielen erneut zu reden, als die USA, Kanada, Grossbritannien und Australien einen diplomatischen Boykott beschlossen und einige europäische Staatennachzogen. Man könne nicht sportliche Wettkämpfe beklatschen, ohne sich über die Situation der Menschen in China Gedanken zu machen, kritisierte der Zürcher Nationalrat Fabian Molina (SP). «Es ist nicht der richtige Zeitpunkt, um ein Land zu feiern, in dem laufendVerbrechen gegen dieMenschlichkeit verübt werden.» Stattdessen müsse der Bund ein starkes Zeichen setzen und auf eine offizielle Delegation verzichten. Christoph Wiedmer, Geschäftsführer der Gesellschaft für bedrohte Völker, sprach sich ebenfalls für einen Boykott aus. Um Verbesserung zu erreichen, brauche es ein entschiedenes Auftreten, sagte er. «Die Menschenrechtsverletzungen im Ti- bet und Ostturkestan haben ein schoDer Luzerner Liftbaukonzern Schindler ging 1980 als erstes westliches Industrieunternehmen ein Joint Venture mit den Chinesen ein – und profitiert heute vom Bauboom in Chinas Metropolen. Foto iStock Einen Schweizer Beitrag zu Chinas Annäherung an den Westen leistete der Journalist und Fotograf Walter Bosshard. Seine zwischen 1930 und 1939 geschaffene Bilderwelt zählt heute zum visuellen Gedächtnis Chinas. 1938 traf Bosshard Mao Zedong. Foto Keystone ckierendes Ausmass angenommen. Schon die Sommerolympiade von 2008 zeigte: Ohne deutlichen internationalen Druck wird die Volksrepublik China nicht aufhören, Minderheiten zu unterdrücken.» Der Bundesrat reagierte auf die Forderungen zögerlich. Schliesslich teilte er mit, dass es «angemessen» wäre, wenn ein Regierungsvertreter die Eröffnungsfeier in Peking besuchenwürde. Er liess sich jedoch einen gewissen Spielraum offen, indem er auf die Pandemie verwies. Sein Sprecher sagte: «Sollte die Corona-Situation in der Schweiz es nötig machen, dass alle Bundesräte in der Schweiz sind, so fällt die Reise aus.» Ende Januar entschied er dann, dem Spektakel ganz fernzubleiben.

Schweizer Revue / April 2022 / Nr.2 10 Gesehen 200Meter vomKunstmuseum in der Stadt Bern entfernt, auf dem Waisenhausplatz, steht seit 1983 der Oppenheim-Brunnen, den die KünstlerinMeret Oppenheim(1913–1985) zwei Jahre vor ihrem Tod schuf. Wasser tropft aus dem Turm und lässt Pflanzen spriessen oder Eisformationen, aber zu Beginn prasselte Kritik auf die Künstlerinwie eiskalterWinterregen: «Ein Pfahl der Schande» sei das, ein «Pissoir» sogar. Bern lebte eine leidenschaftliche öffentliche Kontroverse aus. Wenn es noch einen Beweis gebraucht hätte, dass dieweltweit arrivierteMeret OppenheimErwartungen an sie unbeeindruckt unterlief, dann war es der Berner Brunnen. Fast Ein Schluck aus der Pelztasse 40 Jahre später widmet das KunstmuseumBern der unfassbarenKünstlerin, die lange in der Bundesstadt lebte, mit «Mon exposition» eine Retrospektive, die ihr grenzenlosesWerk für das Publikum in seiner ganzen Breite auffächert. Oppenheim liess in ihremkünstlerischen Schaffen kaum ein Material aus. Klar, frühen Ruhm erwarb sie 1936 mit einer mit Pelz gefütterten Tasse – die sie selber vor allemkomisch fand, die Kunstkritik aber zu ausschweifenden Interpretationen anregte. Meret Oppenheim war als Surrealistin etikettiert. Aber als Besucherin oder Besucher von «Mon exposition» wird man durch das faszi- «Mein Kindermädchen», 1936/1967 Metallplatte, Schuhe, Schnur und Papier; 14 x 33 x 21 cm Moderna Museet, Stockholm Foto Albin Dahlström; 2021,©ProLitteris, Zurich

Schweizer Revue / April 2022 / Nr.2 11 Führung von Moderator Ueli Schmetzer durch die Berner Ausstellung (in Schweizer Mundart): revue.link/oppenheim «Mon exposition» wird nach dem Ende der Ausstellung in Bern gezeigt in «The Menil Connection», Houston, USA (25. März bis 18. September 2022) und im Museum of Modern Art, New York (30. Oktober 2022 bis 4. März 2023) Wird in «Mon exposition» eben gerade nicht gezeigt: Meret Oppenheim, «Déjeuner en fourrure», Paris, 1936. MoMA, Artists Rights Society, New York/©2021 Pro Litteris Zürich «Eichhörnchen», 1960/1969 Bierglas, Schaumstoff und Pelz, 21,5 x 13 x 7,5 cm Kunstmuseum Bern Foto Peter Lauri, Bern; ©2021, ProLitteris, Zurich «Frühlingstag», 1961 Öl auf plastischer Masse und Holz mit Drahtkorb, 50 x 34 cm Privatsammlung ©2021, ProLitteris, Zurich «Sechs Wolken auf einer Brücke», 1975 Bronze; 46,8 x 61 x 15,5 cm Kunstmuseum Bern, Legat Meret Oppenheim Foto Peter Lauri, Bern; ©2021, ProLitteris, Zurich nierende, eigenständige Schaffen einer Künstlerin geführt, die sich um keinen Preis einer Etikettierung ergeben wollte. Die sich durch jahrelange Schaffenskrisen kämpfte, ohne den selbstironischen Blick auf das Leben zu verlieren. «Ma gouvernante» heisst ein Objekt von ihr, das zwei Frauenschuhe zeigt auf einem Silbertablett, mit den Absätzen so drapiert wie ein Poulet. «Die Freiheit wird einemnicht gegeben, man muss sie nehmen», sagte Meret Oppenheim. Sie liess sich nie daran hindern. Das war ihre Kunst. Dass die berühmte Pelztasse in «Mon exposition» gerade nicht gezeigt wird – das hätte ihr wohl gefallen. JÜRG STEINER

Schweizer Revue / April 2022 / Nr.2 kein Gebäude gegenüber versperrte sie. Es war seltsam, man fühlte sich nicht eingeengt wie in einer Stadt», erzählt die ehemalige Buchhalterin aus Pruntrut. Seither ist viel Zeit vergangen, die Kinder sind aus dem Haus, und nun bereiten sichMichèle und ihr Mann auf den Umzug in ein Haus mit sozialmedizinischer Betreuung vor. Sie bleiben in der Nähe von Le Lignon. Der Genfer Bauträger und Architekt Georges Addor (1920–1982) leitete das Projekt, das ursprünglich für bis zu 10000 Bewohnerinnen und Bewohner vorgesehen war. Er hätte sich STEPHANE HERZOG Es war das Jahr 1974. Michèle Finger erinnert sich an ihre Ankunft in Le Lignon. Sie sass mit ihrem zukünftigen Ehemann im Auto. Neben ihr erstreckte sich die Siedlung mit ihren 2780Wohnungen und 84 Alleen über mehr als einenKilometer: «Siewar unvorstellbar, gewaltig. Zuvor hätte ich mir ein Gebäude dieser Grösse nicht vorstellen können.» Sein Inneres beruhigte sie. «Mein Freund wohnte in einer Vierzimmerwohnung. Siewar schön gestaltet und sehr hell. Die Aussicht war grandios, über die Worte von Michèle gefreut. «Das Wohl der Menschen beschäftigt einen Architekten am intensivsten, wenn er eine Siedlung dieser Grösse entwirft», sagte er 1966 vor den Kameras des Westschweizer Fernsehens. «Hat jemand erst einmal akzeptiert, dass er vier Nachbarn um sich haben wird, machen 15 Stockwerke über und unter ihm auch keinen Unterschied mehr», erklärt der Sohn einer grossbürgerlichen Maklerfamilie des Kantons. «Erwar bekennender Linker und fuhrMaserati», fasst Jean-Paul Jaccaud Addors Wesensart zusammen. JacDie grösste Immobilie ist mit 60 immer noch rüstig Das zentrale Gebäude der Satellitenstadt Le Lignon ist über einen Kilometer lang. Insgesamt ist Le Lignon die grösste Wohnüberbauung der Schweiz. Die Lebensqualität im Quartier, das 6500 Bewohnerinnen und Bewohner beherbergt, ist gut. Und doch: Es gibt Spannungen zwischen Alteingesessenen, Neuankömmlingen und jungen Erwachsenen. Höher, weiter, schneller, schöner? Auf der Suche nach den etwas anderen Schweizer Rekorden. Heute: Die grösste und vor allem längste Wohnüberbauung der Schweiz. e trem Schweiz 12 Reportage

Schweizer Revue / April 2022 / Nr.2 Immer dominiert die enorme Länge das Bild. Hier verliert sich der lange Bau im Frühlingsnebel. Foto Stéphane Herzog Wie eine Schlange liegt die in die Länge gezogene Wohnbausiedlung in der Landschaft. Foto Ben Zurbriggen cauds Büro war an der energetischen Sanierung von 1200 Wohnungen beteiligt, einem Bauprojekt, das Ende 2021 durch das Architekturmagazin «Hochparterre» und das Museum für Gestaltung Zürich prämiert wurde. Die Arbeiten erstreckten sich über zehn Jahre und kosteten rund 100Millionen Franken. Eine schnell errichtete, funktionale Konstruktion Die gesamte Geschichte von Le Lignon ist eine der Superlative. Zuallererst die Rekordgeschwindigkeit, in der das Projekt umgesetzt wurde. Es befindet sich fünf Kilometer vomZentrumentfernt. Dort gab es Platz, der als Bauzone ausgeschieden worden war, um den Kanton zu entwickeln, ohne ihn zu zersiedeln. In der ersten Etappe zwischen 1963 und 1967wurden 1846 Wohnungen gebaut. «Die Geschwindigkeit ist heute nicht mehr denkbar, wie übrigens auch die Konzipierung eines Projekts dieser Art», sagt JeanPaul Jaccaud. Das Gebäude ist modernistisch und funktional. Der KantonGenf und die Gemeinde Vernier streben soziale Durchmischung an. Die grosse Häuserschlange von Le Lignon, deren Alleen mit sanftem Gefälle Richtung Rhone absteigen, bietet allen identisch gestaltete Wohnungen, unabhängig davon, ob es sich um Sozialwohnungen oder umStockwerkeigentumhandelt. Alle Wohnungen haben Durchgänge. Die Preise richten sich nach Grösse und Stockwerk. Jean-Paul Jaccaud führt das Beispiel einer 6-Zimmer-Wohnung für 2800 Franken im Monat an. «... wie in einer Gasse aus dem Mittelalter» Man betritt das Quartier durch einen Torbogen. Im Innern der Schlange ist es still, kein Strassenlärm stört. Die Parkplätze liegen verborgen unter grossen Rasenflächen. Im vom Landschaftsarchitekten Walter Brugger entworfenen öffentlichen Raum setzen Brunnen und Plätze Akzente. Das Erdgeschoss ist offen einsehbar. Eine einladende Treppe aus weissem Stein führt sanft hinab zur Rhone, «wie in einer Gasse aus demMittelalter», sagt Jean-Paul Jaccaud. Georges Addor hat in die Höhe und in die Länge gebaut, um auf den 280000 Quadratmetern, die demGesamtprojekt zur Verfügung standen, Platz zu sparen. Ziel war eine Wohnfläche so gross wie die Gesamtfläche. Das Gebäude ist nicht nur lang, sondern auch hoch – teilweise bis zu 50Meter. Bis 1990war der höhere der zwei Türme von Le Lignonder höchste der Schweiz. «Bauwerke dieser Art, die so gut altern, sind selten», kommentiert Jean-Paul Jaccaud. Ruhe, Licht und ein Dienst an der Bevölkerung Im zehnten Stock des kleineren der beiden Türme, welche die edelsten Wohnungen von Le Lignon beherbergen, treten wir in eine Wohnung ein, die kürzlich renoviert worden ist. Die Arbeiten haben die Energieeffizienz um 40 Prozent erhöht. Schon der ursprüngliche Entwurf war nicht schlecht, so der Genfer Architekt. Ein derart langes Gebäude verringert die Anzahl der Wände, die wärmegedämmt werdenmüssen. An diesem Januarmorgendurchflutet die Sonne die Zimmer. Die Aussicht ist grandios, man kann einen Arm der Rhone und dahinter den Jura sehen. Ein weiterer Trick von Addor: Die beiden Türme wurden am tiefsten Punkt errichtet, «damit sie nicht dominant wirken», erklärt Jean-Paul Jaccaud. Die Graffitis machen klar: Le Lignon ist auch der Lebensraum von Jugendlichen. Foto Stéphane Herzog

Schweizer Revue / April 2022 / Nr.2 Alle Welt sagt über Le Lignon, es sei eine ländliche Stadt. Sie ermöglicht ein unabhängiges Leben. ImZentrum von Le Lignon liegt ein kleines, einstöckiges Einkaufszentrum. Es verfügt über alles Nötige: Tea-Room, Restaurant, Brasserie, Schuhmacher, Coiffeur, Post, Metzgerei, Klinik. Aber auch eine protestantische Pfarrei, eine katholische Kirche, einen Sportplatz, eine Ludothek, einen Raum für Jugendliche und zwei Schuleinheiten. Jeden Samstag steht der ehemalige Pfarrer Michel Monod, der seit 1973 hier lebt, zwischen Migros und Coop, um den Passantinnen und Passanten einen schönen Tag zuwünschen. «Aus technischer Sicht ist das Ensemble perfekt», sagt er, bevor er dazu ansetzt, denMangel an Beziehungen zwischen den Bewohnerinnen und Bewohnern in dieser Satellitenstadt zu beklagen, in der über 100 Nationalitäten vertreten sind. «Es herrscht ein Massenindividualismus», so sein Urteil. Junge Erwachsene auf der Suche nach einem Ort zum Leben Michel Monod ist Co-Koordinator des Quartiersvertrags von Le Lignon, der zum Ziel hat, den Ansässigen bei der Umsetzung von Gemeinschaftsprojekten zu helfen. Jeden Tag begibt er sich zu einem Vordach unterhalb des Konzertsaals von Le Lignon. Dort, geschützt vor den Blicken, treffen sich junge Erwachsene des Quartiers und wärmen sich manchmal am Feuer in der Feuerschale. Michèle Finger kennt den Ort. Diese Treffen der Jugendlichen, die rauchen, Bier trinken und Rapmusik hören, lösen bei ihr Unbehagen aus. Sie erkennt sich selbst im Quartier immerwenigerwieder. Zwar ist die Miete der Fingers mit 1200 Franken für eine 5-Zimmer-Wohnung inklusive Nebenkosten und Garagenparkplatz fast lächerlich. Doch die Bewohnerin, die sich in mehreren Quartiersvereinen engagiert, klagt über den Abfall, der sich vor den Sammelstellen anhäuft, die Spucke imLiftund die Tatsache, dass die Jugendlichen in den unteren Gassen rumhängen. «Ich kenne dieMieter nicht, die kürzlich in mein Gebäude eingezogen sind. Die Leute nehmen kaum noch die Quartierszeitung in die Hand», sagt sie und weist damit auf einen Mangel an Interesse vonseiten der «neuen Fremden» hin, die in Le Lignon ankommen. Der 39-jährige Miguel Sanchez, der seit 2012 als Sozialarbeiter in Le Lignon arbeitet, kennt diese Aussagen und versteht die Sorgen. «Mit seinen niedrigen Mieten bietet Le Lignon Migrantinnen undMigranten eine Lösung. Dieser ethische und sozialeMix in einem angespannten wirtschaftlichenKontextmacht es vielleicht komMichèle Fingers Wohnung in Le Lignon, die sie seit Jahrzehnten bewohnt (oben links). Foto Jean-Jacques Finger Michel Monod, der ehemalige Pfarrer, sucht Samstag für Samstag draussen das Gespräch und nimmt die Jugendlichen in Schutz (Mitte). Foto Stéphane Herzog Mächtig, aber weitgehend verkehrsfrei: In der Siedlung liegen die Parkplätze unter dem Rasen (oben rechts). Foto Stéphane Herzog plizierter als früher, Beziehungen aufzubauen», analysiert er. «Le Lignon ist jedoch keine Schlafstadt, wie es sie in Frankreich gibt. Das Quartier ist gut ausgerüstet und wird unterhalten. Ausserdemsind die Jugendlichen stolz darauf, hier zu leben. Es gab nie grosse Probleme mit der Sicherheit oder mit Kriminalität. Man muss eher von Unhöflichkeiten sprechen», beschreibt der Sozialarbeiter die Situation. «Ich sagte ihnen: Das sind eure Kinder.» Tatsächlich schreibt Michel Monod den Jugendlichen unter dem Vordach Qualitäten zu, an denen es den Bewohnerinnen und Bewohnern fehle: «Sie sind äusserst loyal in ihren Freundschaften. Einige Leute haben mir gesagt: Sperrt sie ein! Ich sagte ihnen: Das sind eure Kinder.» Auch ihm erschien Le Lignon überproportioniert, als er hier ankam. «Ich sagtemir: Es ist unmöglich, wie in einem Termitenbau zu leben, und gab mir selbst den Auftrag, die Menschen zu vereinen.» Aber auch er liebt Le Lignon.

Schweizer Revue / April 2022 / Nr.2 15 Literatur pathie dem Katholizismus der Freundin Mariette zu. Schrecklich, was die Juden Jesus angetan haben! Dann aber stösst er auf das ewige Leiden und das Verfolgtsein der Juden, und in einer prophetischen Vision enthüllt sich ihmhinter demkargen jüdischenKult, den ihmder kuriose Rebbe Lobmann nahebringt, der messianische Traumvon einer glücklichen Menschheit. Ein Schicksal von erschütternder Tragik Als in Deutschland, wo er studiert hatte, ein offen antisemitisches Regime dieMacht ergriff, sah Fleg denHolocaust voraus. 1939 hatten sich seine Voraussagen weitgehend erfüllt, und im Krieg Deutschlands gegen Frankreich verlor er kurz hintereinander seine beiden Söhne: Daniel, den jüngeren, der sich in der Seine ertränkte, weil er nicht zum Kampf gegenDeutschland eingezogenwurde, Maurice, den älteren, der imKampf gegen Deutschland fiel. Und als ob es damit nicht genug wäre, verlor er am 6. April 1940 auch noch seinen einzigen Enkel, als er sich, von den Ärzten umRat gefragt, in einer schrecklichen Notsituation für das Überleben seiner Schwiegertochter und gegen derenKind entschied. Entmutigen aber liess Fleg sichnicht: nach der deutschen Besetzung Frankreichs machte er an seinemZufluchtsort in der Provenceweiterhin junge Juden mit ihrer Religion vertraut, und als er am 15. Oktober 1963 starb, galt er als ein Hauptexponent der christlich-jüdischen Versöhnung. Acht Jahre nach seinem Tod aber holte ihn der Antisemitismus doch noch ein. In der Wohnung am Quai-auxFleurs für die Verschickung nach Israel bereitgestellt, wurde sein ganzer literarischer Nachlass mit allen Originalen und den Briefen von Proust, Mauriac, Camus und anderen von Unbekannten geraubt und so sicher verwahrt oder vernichtet, dass niemehr eine Spur davon auftauchte. BIBL IOGRAF IE: «Das Prophetenkind» ist in der deutschen Übersetzung von Giò WaeckerlinInduni und mit einer Fleg-Biografie von Charles Linsmayer als Band 21 der Edition Reprinted by Huber im Verlag Th. Gut, Zürich, greifbar. Auf Französisch ist der Roman in der Collection Blanche des Verlags Gallimard, Paris, lieferbar. CHARLES L INSMAYER IST L I TERATURWISSENSCHAFTLER UND JOURNAL IST IN ZÜRICH CHARLES L INSMAYER «DiesesWerkwird unsterblich sein», meinte Charles Péguy, als er im Oktober 1913 dem Autor Edmond Fleg die druckfrische Nummer der «Cahiers de la Quinzaine» mit dem ersten Teil des Gedichtzyklus «Écoute, Israël!» in dessen Wohnung amQuai-aux-Fleurs 1 auf der Pariser Île de la Cité brachte. Der Titel des Gedichtzyklus lehnte sich an das grundlegende Gebet des Judentums an, dem aus drei Moses-Zitaten zusammengesetzten «Höre Israël, der HERR ist unser GOTT, der HERR ist einer». Und mit dem zuletzt 700-seitigen und erst 1948 vollendeten Versepos war der 1874 geborene Sohn eines Genfer Kaufmanns daran gegangen, seinenZeitgenossen in einer 4000 Jahre umfassenden «Légende des siècles» die Schönheit und Grösse des Judentums vor Augen zu führen. Er tat dies – nach einer Phase völliger Distanzierung von seiner jüdischenHerkunft – aufgeschreckt vom Antisemitismus rund um den DreyfusProzess. Fleg, der als Ehemann von Madeleine Bernheimund Vater zweier Söhne in Paris lebte, freiwillig amErsten Weltkrieg teilgenommen hatte und nach Erfolgen als Dramatiker ab 1928 persönlich-eigenwillige Biografien grosser jüdischer GestaltenwieMoses, Salomon – aber auch Jesus! – publizierte, errang seinen nachhaltigsten Erfolg allerdings nicht mit «Écoute, Israël!», sondern mit dem 1926 erschienenen Jugendbuch «L’enfant prophète», das Tausende junger Juden auf liebenswürdig humorvolle Weise mit ihrer Religion versöhnte. Was es heisst, Jude zu sein «Um Christ zu sein, muss man glauben, dass Jesus inder Hostie ist und dass er Gott ist. Doch was muss man glauben, um Jude zu sein?» Claude Lévy, die Titelfigur des Romans, findet keine Antwort, und so wendet er sich voller SymDer messianische Traum von einer glücklichen Menschheit Der Genfer Edmond Fleg hat im Jahrhundert seiner grössten Bedrohung die Grösse und Schönheit des Judentums gepriesen – am überzeugendsten in einem Jugendbuch. «Warum will Gott, dass Israel ein Volk von Priestern sei? Damit die Welt sich verändert, damit die Welt, wie sie ist, die Welt wird, wie sie sein wird, wenn durch die Ankunft des Messias Gerechtigkeit und Friede herrschen werden auf der Erde. Dieser messianische Traum ist heute der Traum der gesamten Menschheit.» (Edmond Fleg an der Schlusssitzung des Jüdischen Weltkongresses 1958 in Genf)

Schweizer Revue / April 2022 / Nr.2 16 gegen den Befürchtungen war es nicht zu einer Überlastung der Spitäler gekommen, dank inzwischen erhöhter Immunität in der Bevölkerung durch Impfung und Infektion: Allein in den Omikron-Rekordwochen steckten sich 30 bis 40 Prozent der Schweizer Bevölkerung an. Anders als einige Nachbarländer ging die Schweiz also ohne Schliessungen und Impfpflicht durch den zweiten Corona-Winter, trotz eher tiefer Impfquote. Man seimit den Freiheiten «eine Wette eingegangen» und habe diese «gewonnen», sagte Bundespräsident Ignazio Cassis. Kritiker bezweifeln allerdings, dass die Wetten gedeckt sind. So könnten die vielen Infektionen für jede fünfte Person Langzeitfolgen haben, wie Fachleute warnen. Schon bekommen es auch die Sozialwerke zu spüren. Wegen Long Covid meldeten sich allein im letzten Jahr 1700 Personen neu bei der Invalidenversicherung an. (SWE) Covid-19 Während das politische System der Machtteilung in der Schweiz die Pandemiebekämpfung oftbis zur Verzweiflung verlangsamte, zeigte sich zu Beginn des Corona-Winters eine Stärke der direkten Demokratie: die Volksrechte als Ventil in der Krise. Bei der Abstimmung Ende November zum Covid-19-Gesetz stellte sich die Stimmbevölkerung hinter die Pandemiepolitik der Behörden. Eine deutliche Mehrheit brachte zum Ausdruck, dass sie auch das Covid-Zertifikat, die umstrittenste der Schutzvorkehrungen, akzeptierte. Die massnahmen- und impfkritischen Gruppierungen, die wiederholt das Referendum ergriffen hatten und glockenläutend durch Städte und Dörfer gezogen waren, verloren nach der neuerlichen Abstimmungsniederlage an Resonanz. Die gesellschaftlichen Spannungen rund um die Pandemie verschwanden zwar nicht, doch der Urnengang entschärfte sie. Und für den Bundesrat war das Volks-Ja ein Mandat zur Pandemiebekämpfung, wie es kaum eine andere Landesregierung erhalten hatte. Er interpretierte das allerdings nicht als Freipass, sondern blieb auf dem eher zurückhaltenden Kurs, den er seit Beendigung des Shutdowns eingeschlagen hatte. Die Schweiz sei in der Pandemie stets «hart amWind gesegelt», wie es der Genfer Epidemiologe Marcel Salathé ausdrückte. Eine Strategie, für die das Land während der zweiten Welle im Herbst und Winter 2020/2021 einen hohen Preis bezahlte: Es kam zu einer markanten Übersterblichkeit. Frühes Ende der Einschränkungen Ein Jahr später wurde vor Weihnachten die Schraube zunächst nochmals angezogen. So durftennur nochGeimpfte und Genesene ins Restaurant, ins Kino, ins Fitnesscenter. Der Grund dafür war, dass die Belegung der Intensivstationen erneut einen kritischenWert überschritten hatte. Die Delta-Variante machte überwiegend Ungeimpfte schwer krank. Umdie Kräfte auf sie zu konzentrieren, mussten Spitäler Operationen verschieben. Eilends aktualisierte Richtlinien lagen bereit, falls es zusätzlich zu einer harten Triage käme, zu Entscheiden also, wer vorrangig intensivmedizinische Behandlung erhält. Zugleich begann sich die Omikron-Variante auszubreiten, über die man wenig wusste. Die Schweiz, der zweite Pandemiewinter und die Omikron-Wette Trotz Volks-Ja zum Covid-Gesetz und rekordhohen Fallzahlen hielt sich die Schweizer Landesregierung im Pandemiewinter 2021/2022 mit Massnahmen zurück. Es ging glimpflicher aus als im Vorjahr. Doch trotz der unsicheren Ausgangslage verzichtete der Bundesrat auf noch strengere Massnahmen, die er bereits mit den Kantonen vorbesprochen hatte, darunter Restaurantschliessungen. Er blieb auch dabei, als sich im Januar die Omikron-Welle so steil auftürmte, wie die wissenschaftliche Taskforce des Bundes es zuvor errechnet hatte. Und sobald der Höhepunkt überschritten war, fielenMitte Februar – bei immer noch hoher Virusaktivität – sämtliche Covid-Massnahmen, bis auf eine Rest-Maskenpflicht. EntTrotz noch geltender Schutzbestimmungen feierte das Publikum – hier am Weltcup-Slalom in Adelboden – den Skizirkus mehrheitlich ohne Schutzmaske. Foto Keystone, 9. Januar 2022

Schweizer Revue / April 2022 / Nr.2 17 Politik THEODORA PETER «Wenn ich an Frontex denke, dann sehe ich in erster Linie Gewalt», sagt MalekOssi. Der 28-jährige Syrer flüchtete vor sechs Jahren via die Türkei in die Schweiz und gehört zur Bewegung «Migrant Solidarity Network», welche das ReferendumgegendenAusbauder Schweizer Beteiligung an der europäischen Grenz- und Küstenwache (Frontex) ergriffen hat. Dem OnlineMagazin «Republik» erzählteOssi von der Odyssee, die ihn über die sogenannte Balkanroute in die Schweiz führte. «Ichweiss, was es heisst, wenn hinten das türkischeMilitär steht und vorne die griechische Polizei wartet.» Mit Dutzenden anderen Flüchtlingen versteckte er sich eineWoche imWald, bevor er sich über den Grenzfluss Evroswagte, der damals von den griechischen Behörden und von Frontex-Beamten bewacht wurde.WährendOssi es schliesslich nach Europa schaffte, scheitern viele andere beim Versuch, die EU-Aussengrenze überhaupt zu erreichen. Immer wieder erzählenGeflüchtete, dass sie vonGrenzpolizisten zurückgedrängt wurden. So sind Fälle dokumentiert, in denen die griechische Küstenwache in der Ägäis Gummiboote mit Flüchtlingen zurück in türkische Gewässer gestossen hatte. Solche «Pushbacks» verstossen gegen die EuropäischeMenschenrechts- und gegen die Genfer Flüchtlingskonvention. DemnachmüssenFlüchtlinge ein Asylgesuch stellen dürfen und haben Anrecht auf ein rechtsstaatliches Verfahren. Mit anderen Worten: Wer Schutz sucht, soll zumindest angehört werden. Asyl- und Menschenrechtsorganisationen werfen Frontex vor, illegale «Pushbacks» durch nationale Polizeibehörden zu tolerieren oder gar darin verwickelt zu sein. Ein Untersuchungsausschuss des Europaparlamentes forderte deshalb mehr Überwachung und Transparenz. Als Schengen-Staat in der Pflicht Die Rolle der Frontex an den EU-Aussengrenzen gab letzten Herbst auch im eidgenössischen Parlament zu reden. Als Schengen-Mitglied beteiligt sich die Schweiz seit 2011 an der EUGrenzschutzbehörde – und muss folglich auch deren Budget-Ausbau mitfinanzieren. Mit der Aufrüstung soll Frontex bis 2027 über eine Reserve von 10000 Einsatzkräften verfügen. Bislang zahlt die Schweiz pro Jahr Die «Festung Europa» am Pranger Die Schweiz soll sich stärker an der Kontrolle der europäischen Aussengrenzen beteiligen. Doch die Aufrüstung der Grenzschutzbehörde Frontex ist umstritten. Am 15. Mai entscheidet das Stimmvolk an der Urne. Ein Nein könnte in Brüssel für weitere Irritationen sorgen. Die Frontex, hier eine ihrer Patrouillen im Einsatz an der griechisch-türkischen Grenze, will eine Reserve von 10 000 Einsatzkräften aufbauen. Foto Keystone

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