Schweizer Revue 1/2023

«Die Realität des Ukraine-Kriegs hat fast mehr in Bewegung gesetzt als die grüne Welle bei den Wahlen 2019.» Michael Hermann und rechter ausrichtete. Was die SVP sucht, ist ein grosses Thema. Den Rechtskonservativen fehlt ein Aufreger-Thema? Bis zu den Wahlen 2015 hatten der SVP vor allem die Themen Europa und Migration starken Auftrieb gegeben. Damit konnte sie die anderen Parteien über Jahre vor sich hertreiSchweizer Politik lange vorgeherrscht hatte, rechts wie links. Jetzt ist das Parlament offener und progressiver geworden, was gesellschaftliche Entwicklungen spiegelt. Das zeigen etwa Entscheide zur familienexternen Kinderbetreuung. Diese wird heute als Thema ernst genommen, während die Schweiz zuvor lange an konservativen Rollenbildern festhielt. Auch die Ehe für alle kam in dieser Legislatur zustande, ebenfalls ein Zeichen grösserer gesellschaftlicher Offenheit. 2022 öffneten sich wieder Geschlechtergräben. So überstimmten beim Volksentscheid für ein höheres Frauenrentenalter die Männer die Frauen ungewohnt deutlich. Die AHV-Reform betraf die Frauen unmittelbar bei ihrer Altersrente und Arbeitsperspektive. Solche Vorlagen mit derart direkten Folgen allein für ein Geschlecht gibt es selten. Insofern verändert die AHV-Abstimmung das Gesamtbild nicht. Eines machte sie allerdings wieder stärker bewusst: Geschlechterpolitik ist mehr als Lifestyle. Es geht um klassische Sozialpolitik, wirtschaftliche Absicherung. Das war besonders ein Fingerzeig an die SP. Die Sozialdemokratische Partei lehnte die AHV-Reform – eines der wichtigsten Geschäfte der Legislatur – ab und verlor nur unerwartet knapp gegen das geschlossene bürgerliche Lager. Die AHV-Abstimmung zeigte: Themen der sozialen Sicherheit, gerade auch aus Frauensicht, können über das eigentliche SP-Milieu hinaus mobilisieren. Zugleich betonen bestimmte Parteikreise eher kulturkämpferische Themen der Identitätspolitik, was potenzielle Wählerinnen und Wähler abschrecken kann. In Krisenzeiten wie diesen profitieren Parteien von Themen, bei denen sie traditionell als kompetent erachtet werden. Bei der SP ist es die Sozialpolitik, bei der FDP sind es Wirtschaftsthemen. 2019 büssten alle in der Landesregierung vertretenen Parteien mehr oder weniger Wähleranteile und Parlamentssitze ein: SP, FDP, Mitte und – weitaus am deutlichsten – die grosse rechtskonservative SVP. Konnte letztere wieder Boden gutmachen? Nicht wirklich. Sie ist zwar die wählerstärkste Partei der Schweiz geblieben. In der Corona-Zeit positionierte sie sich gegen ergriffene Schutzmassnahmen und fand dadurch Anschluss an coronaskeptische Bewegungen. Das schreckte aber auch Leute ab, genauso wie Putin-freundliche Positionen von SVP-Exponenten im UkraineKrieg. Kommt dazu, dass sich die freisinnige Konkurrenz mit ihrem neuen Parteipräsidenten Thierry Burkart 2021 wieder etwas bürgerlicher Warum ging es nach den letzten Wahlen europapolitisch nicht vorwärts? Wie stabil sind die politischen Kräfteverhältnisse in der Schweiz inmitten von Krisen? Lesen Sie weitere Antworten von Michael Hermann in der Online-Ausgabe: revue.link/hermann Zur Person: Der Berner Michael Hermann ist Inhaber und Leiter des Forschungsinstituts Sotomo in Zürich. Der promovierte Sozialgeograf und Buchautor analysiert die Schweizer Politik und Gesellschaft seit vielen Jahren. Fotos Frank Brüderli ben. Das hat sich geändert. Europapolitisch agierte die Landesregierung so zurückhaltend, dass die SVP gar nichts hat, gegen das sie in Opposition gehe könnte. Migration und Zuwanderung beschäftigten nicht mehr so stark, auch wegen des Fachkräftemangels in der Schweiz. Rückt aber das Ausländerthema in den nächsten Monaten stärker in den Fokus der Öffentlichkeit, wird auch die SVP wieder besser mobilisieren können als 2019. Schweizer Revue / Januar 2023 / Nr.1 19

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