Schweizer Revue 4/2023

netz SwissMetNet bilden. Mit Meteo Schweiz erhält der Sonnenschein am Hausberg Locarnos ein wissenschaftliches Gesicht. Denn hier werden Statistiken erstellt und Wetterdaten ausgewertet. Aber nicht nur: Im Garten des meteorologischen Instituts befindet sich die Specola Solare Ticinese, ein Sonnenobservatorium. Es wurde 1957 gegründet, im Internationalen Geophysikalischen Jahr. Es erhebt die Sonnenflecken-Relativzahl («Wolfsche Relativzahl») und war bis 1980 Teil der Eidgenössischen Sternwarte an der ETH Zürich. Seither wird es von einem privaten Verein betrieben und liefert die Daten an die nun für die Verbreitung der Sonnenflecken-Relativzahl zuständige Königliche Sternwarte von Belgien. Ein Kuriosum: Die Karten mit den Sonnenflecken werden noch von Hand gezeichnet. Etwas weiter bergwärts befindet sich etwas versteckt im Grünen ein weiteres Sonnenforschungsinstitut, das «Istituto Ricerche Solari Locarno» (IRSOL), das auf Sonnenphysik spezialisiert ist. Gegründet wurde das IRSOL im Jahr 1960 von der deutschen Universität Göttingen und von ihr auch bis 1984 betrieben. Verschiedene Standorte in Europa waren geprüft worden, am Ende schien Locarno wegen seiner Position und den vielen Sonnenstunden am geeignetsten. In den 1990er-Jahren gab es Partnerschaften mit verschiedenen Universitäten, insbesondere mit der ETH Zürich. Heute ist das IRSOL mit der Universität der italienischen Schweiz (USI) assoziiert. «Dank des Spezialgeräts Zimpol gelingt es, die Polarisierung des Sonnenlichts mit einer sehr hohen Präzision zu messen», sagt Michele Bianda, langjähriger, aber mittlerweile pensionierter IRSOL-Direktor, bei der Führung durch das Institut an dem sonnenbeschiedenen Hang. Ein Sonnenfleck für die Wissenschaft Locarno-Cardada-Cimetta ist also nicht nur touristisch ein Sonnenfleck, sondern auch für die Wissenschaft. Die lange Sonnenscheindauer in Verbindung mit den steigenden Temperaturen hat aber auch ihre Schattenseiten. Lange war Cardada-Cimetta nämlich eine Winterdestination. Das Skifahren auf dem Berg mit dem darunter liegenden Lago Maggiore war ein einmaliges Erlebnis. Und ein erster Skilift wurde noch vor der LuftseilMichele Bianda vom Solarforschungsinstitut IRSOL klettert am Spektografen hoch. Foto Gerhard Lob bahn gebaut. Doch Schneefall ist in diesen mittleren Höhen immer seltener. 2019 kam der Entscheid, den Winterbetrieb einzustellen. Inzwischen sind fast alle Skilifte abgebaut, auch weil der Unterhalt bei seltenem Betrieb zu teuer ist. Cimetta ist zu einer Sommerdestination geworden. Im Winter kommen Spaziergänger, Schneeschuhläufer oder Tourenskifahrer individuell auf den Sonnenberg, wenn es dann doch mal schneit. Sonnenschein ist gut für Seele und Körper. In der Vermarktung von Cardada-Cimetta spielt der Sonnenschein aber erstaunlicherweise keine so grosse Rolle, auch wenn die Sonne im grafischen Logo der Destination erscheint. Gepusht wird der Berg als Erlebnisraum und Wanderparadies für die ganze Familie. In den Pionierzeiten des Tessiner Tourismus Ende des 19. Jahrhunderts, als die Gotthardbahn eröffnete, war dies noch anders. Damals waren auf einigen offiziellen Werbeplakaten noch die Sonnenstunden für Locarno und Lugano verzeichnet, und daneben solche für London und Hamburg. Inzwischen gilt das Klischee des Tessins von der «Sonnenstube der Schweiz» als etwas abgegriffen. Die Winterdestination wird mehr und mehr zur Wanderdestination. Fast alle Skilifte auf dem «Sonnenberg» sind abgebaut worden. Foto ascona-locarno.com Schweizer Revue / August 2023 / Nr.4 16 Reportage

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