Schweizer Revue 4/2023

AUGUST 2023 Die Zeitschrift für Auslandschweizer:innen Was ausser einer legendären Wollmütze hinterlässt uns die gescheiterte Credit Suisse? Wohin steuert die Schweiz? Die grosse Umfrage zu den Wahlen 2023 Der absolut sonnigste Flecken der Schweiz? Cardada-Cimetta, ein Ort nicht ganz ohne Schattseiten

Freiheit. Solidarität. Verantwortung. Überall. Am 22. Oktober 2023 wird gewählt. Entscheiden Sie mit! Sie finden unsere grosse Wahlumfrage ab Seite 17. Und in noch ausführlicherer Form unter www.revue.ch FÜR DIE PROGRESSIVEN, SOLIDARISCHEN AUSLAND- SCHWEIZER:INNEN IM NATIONALRAT. Wir ergreifen Partei LISTE SP MÄNNER KANTON BERN Pascal Cuttat, Humanitärer Arbeiter, Nairobi (Kenya)

Vor fast 50 Jahren sorgte die Schweizer Grossbank SKA mit einem spektakulären Coup dafür, dass die Nation nicht fror. Die Bank, aus der später die Credit Suisse hervorging, verloste 800 000 Mützen. Sie waren eher auffällig als schön. Ein blau-rot-weisses Strickerzeugnis aus Acryl, etwas zu eng geschnitten; ein Werbeartikel mit Kultcharakter. Alle wollten eine kriegen und tragen – und gaben so der Bank ein Gesicht. Für das Gratisteil von damals müssen Sie heute bei Online-Auktionen bis zu 200 Franken hinblättern. Und im März erreichte die Mütze den 280-fachen Wert einer Credit-Suisse-Aktie. Inzwischen ist der Niedergang der Bank endgültig – und die Mütze definitiv eine Reliquie: Die Schweizer Regierung dirigierte die Grossbank UBS in grosser Hektik dazu, die marode Konkurrentin Credit Suisse zu übernehmen. Staat und Nationalbank sicherten den Deal mit Garantien in Milliardenhöhe ab. Passé ist damit der Niedergang der Credit Suisse noch längst nicht. Die Nachbeben halten an. Zudem lernte die Schweiz über die Jahre: Nach der Bankenkrise ist vor der Bankenkrise. Wirtschaftshistoriker Tobias Straumann sagt es im Interview mit der «Schweizer Revue» ganz nüchtern: Auch die UBS, die nunmehr einzige Schweizer Grossbank, wird wahrscheinlich früher oder später Hilfe vom Staat benötigen – also Hilfe von der Allgemeinheit (Seite 4). Für einen grossen Teil dieser «Allgemeinheit» ist «die Bank» übrigens schon längst nicht mehr die Sparkasse um die Ecke, die Kindern das erste Sparschwein schenkt, einem beim Geschäften und beim Träumen zur Seite steht und im Alter finanzielle Sicherheit garantiert. Was gegenüber internationalisierten Grossbanken dominiert, ist das Gefühl von Entfremdung und Distanz, ein Unverständnis für die Exzesse, wie sie sich auch die Credit-Suisse-Spitze leistete: Sich selbst Boni in Millionenhöhe gönnen, selbst in Jahren des Verlustes. Viel Mitgefühl erfuhr die Credit Suisse auf ihrer Talfahrt ins Verderben deshalb nicht. Am 22. Oktober wählt die Schweiz ein neues Parlament. Vielleicht wird es eine strengere Bankenregulierung einfordern? Auf jeden Fall sind diese Wahlen in vielen Themenfeldern richtungsweisend. Für die rund 220 000 Schweizerinnen und Schweizer in der Fünften Schweiz, die bereits im Wahlregister eingetragen sind, haben wir die sechs grössten Parteien unter die Lupe genommen und befragt. Eine Auswahl ihrer Antworten finden Sie in diesem Heft – und in vollem Umfang auf www.revue.ch. MARC LETTAU, CHEFREDAKTOR 6 Schwerpunkt Das krachende Ende der Credit Suisse: Der Wirtschaftshistoriker ordnet ein 8 Nachrichten Bundesrat Alain Berset nimmt den Hut: Er verzichtet auf eine neue Amtszeit Hauptprobe bestanden: Die neusten E-Voting-Tests verliefen problemlos 10 Politik Das Volk sagt Ja zum schrittweisen Abschied von fossilen Energieträgern 20 Kultur Wie wird ein Museum seine Objekte los? Langnau liefert eine besondere Antwort 14 Reportage Cardada-Cimetta, der sonnigste Ort der Schweiz, hat auch seine Schattenseite 17 Wahlen 2023 Die Umfrage der «Schweizer Revue» bei den sechs grössten Parteien der Schweiz 20 Schweizer Zahlen 26 Politik Phänomen Pierre Maudet: Skandalen zum Trotz wird er in Genf wiedergewählt 30 Literatur Erinnerungen an Anne-Lise Grobéty 31 Aus dem Bundeshaus Die Zahl der Auslandschweizer:innen kletterte auf über 800 000 hoch 34 SwissCommunity-News Cyberkriminalität: Hacker stehlen Adressmaterial der «Schweizer Revue» 38 Diskurs Warm anziehen Cover: Die legendäre SKA-Skimütze aus den 1970er-Jahren. Foto Silas Zindel Herausgeberin der «Schweizer Revue», des Informationsmagazins für die Fünfte Schweiz, ist die Auslandschweizer-Organisation. Schweizer Revue / August 2023 / Nr.4 3 Editorial Inhalt

4 Schwerpunkt INTERVIEW: SUSANNE WENGER «Schweizer Revue»: Herr Straumann, ist das Ende der geschichtsträchtigen Credit Suisse ein Bruch oder Wendepunkt für die Schweiz? Tobias Straumann: Es ist zumindest ein Ereignis. Die Credit Suisse war die älteste noch existierende Schweizer Grossbank. Ein bedeutender Wendepunkt ist ihr Untergang aber nicht. Schon in den 1990er-Jahren verschwan- «Der Staat wird wohl auch die neue Grossbank stabilisieren müssen» Die Traditionsbank Credit Suisse ging nach 167 Jahren unter: Der Staat zwang die UBS, die angeschlagene Konkurrentin zu übernehmen. Wirtschaftshistoriker Tobias Straumann über die Schweiz und die Grossbanken, Illusionen der Politik – und die Frage, ob das kleine Land wirklich noch eine internationale Grossbank braucht. 1856 1934 1977 Bank für die Eisenbahn Der liberale Politiker und Unternehmer Alfred Escher (Bild) gründet mit Gleichgesinnten in Zürich die Schweizerische Kreditanstalt. Die Vorgängerin der Credit Suisse steigt rasch zur grössten Handelsbank auf und finanziert den Ausbau des Schweizer Eisenbahnnetzes mit. Skimützen fürs Volk Um volksnah zu wirken, verlost die Schweizerische Kreditanstalt 800 000 Gratismützen. Bis weit in die 1990erJahre sind diese auf Skipisten zu sehen, später werden sie zum Kultobjekt. Beim Untergang der Credit Suisse sind sie deutlich mehr wert als die Bank-Aktie. Bankgeheimnis verankert Das Parlament verankert das Bankgeheimnis für Bankkunden in der Schweiz gesetzlich. Obwohl im In- und Ausland umstritten, wird es lange standhaft verteidigt. Als der internationale Druck vor allem wegen der Steuerflucht wächst, gibt die Schweiz das Bankgeheimnis für ausländische Kundschaft ab 2009 schrittweise auf. den Grossbanken. Vor gut dreissig Jahren hatte die Schweiz fünf Grossbanken, jetzt bleibt noch eine übrig. Die globale Finanzkrise 2008 mit der Rettung der grössten Schweizer Bank UBS durch den Staat und später der Wegfall des Bankgeheimnisses für ausländische Kunden waren viel heftigere Brüche. Die UBS retten, die CS zwangsfusionieren: Gleich zweimal musste der Staat in den letzten fünfzehn Jahren strauchelnden Grossbanken zu Hilfe eilen. Dabei ist die Schweiz ein Land, das die freie Marktwirtschaft hochhält. Wie passt das zusammen? Die Schweiz ist gar nicht so marktwirtschaftlich. Wir haben viele Staatsbetriebe oder Pseudostaatsbetriebe. Im Bankensektor gibt es die Kantonalbanken, das sind auch Staatsbetriebe. Ausserdem sind Staatsinterventionen für Grossbanken aus meiner Sicht kein Foto ETH-Bibliothek, Bildarchiv 4 Schwerpunkt

führt. Aber auch die Behörden müssen sich Fragen gefallen lassen. Seit Oktober 2022 wusste man, dass die Bank in einer schwierigen Situation war. Trotzdem dauerte es diesen März nochmals lange, bis ein Rettungsplan stand. Das Ganze wirkte improvisiert, anders als damals bei der UBS. Das hat mich überrascht. Noch wissen wir nicht genug, um das Behördenverhalten zu beurteilen. Die Parlamentarische Untersuchungskommission wird Erkenntnisse bringen. Die Bank selber sollte jedoch auch etwas beitragen, und zwar von sich aus: mit einem umfassenden Bericht, was bei der CS schiefgelaufen ist. Das ist sie der Schweiz schuldig. Als Historiker bin ich weniger überrascht, dass das nicht geklappt hat. In einer Krise braucht man sehr einfache Pläne. Die «Too-big-to-fail»-Regelung war zu kompliziert, nicht erprobt und etwas weltfremd. In so einem Fall sind immer auch ausländische Behörden involviert, die ihrerseits politisch Rücksicht nehmen müssen. Bis sie zustimmen, kann es dauern. Was vermag Bundesbern in globalisierten Finanzmärkten überhaupt noch zu bewirken? Einiges. Der Staat kann und muss sehr viel machen, wenn es darum geht, Banken zu stabilisieren. Im Falle der UBS hat er es gut gemacht. Die Bank wurde temporär teilverstaatlicht, am Schluss verdiente der Bund gar noch etwas daran. Und die UBS passte ihre Risikokultur an. Bei der Credit Suisse hielten die Behörden nun eine Fusion für sicherer. Ob es die richtige Lösung war, wird sich erst noch zeigen. Wer oder was ist hauptverantwortlich für den CS-Kollaps? Das Management und der Verwaltungsrat. Die CS war seit Jahren schlecht ge1991 1997 2008 Regionalbank kollabiert Die Spar- und Leihkasse Thun im Berner Oberland übernimmt sich mit der Finanzierung von Immobilien und geht konkurs. Die Bilder vom Bankencrash in der reichen, soliden Schweiz gehen um die Welt. Über 220 Millionen Franken Privat- und Geschäftsvermögen werden vernichtet. Bankenhochzeit zur UBS Die zwei Schweizer Traditionsbanken Schweizerische Bankgesellschaft und Schweizerischer Bankverein fusionieren zur UBS. Ziel der neu grössten Bank der Schweiz ist es, stärker ins internationale Finanzgeschäft zu expandieren und dort zur Weltspitze zu gehören. Staat rettet UBS Nach dem Zusammenbruch der US-Bank Lehman Brothers gerät die UBS in den Strudel der Finanzkrise. Bund und Nationalbank werfen 60 Milliarden Franken auf, um den Konkurs der Grossbank zu verhindern. Der Plan geht am Schluss ohne Schaden für die Steuerzahler auf. Tabubruch mehr. Seit den 1990er-Jahren sehen wir international, wie verletzlich das stark globalisierte und liberalisierte Bankensystem geworden ist. Dass Staaten immer wieder eingreifen mussten, ist völlig normal geworden. Es geht gar nicht anders, weil es sonst jedesmal eine grosse internationale Finanzkrise gäbe. Auch das Ausland erwartet von der Schweiz, dass von ihr nicht Ereignisse ausgehen, die das ganze Bankensystem anstecken. Das Parlament wollte aber nach der UBS-Rettung mit dem «Too-big-tofail»-Gesetz verhindern, dass Staat und Steuerzahler nochmals so grosse finanzielle Risiken eingehen müssen. Ein böses Erwachen für die Politik? Zur Person: Tobias Straumann (57) ist Professor für Geschichte der Neuzeit und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Zürich. Er forscht unter anderem zur Finanz- und Währungsgeschichte. Besonders interessiert ihn das Zusammenspiel von Wirtschaftskrisen, Institutionen und Politik. «Die ökonomische Bedeutung des Finanzplatzes wird überschätzt.» Fotos Keystone Schweizer Revue / August 2023 / Nr.4

Investmentbanker haben eine völlig andere Mentalität, die mit der schweizerischen Geschäftskultur schlecht vereinbar ist. Zudem arbeiteten oft zweitklassige Banker für die Schweizer Grossbanken in London und New York, die sich wie Söldner verhielten und nur kurzfristig maximalen Profit für sich herausschlagen wollten. Die UBS hat die CS im Juni übernommen. Kommt das gut mit dieser Riesenbank? Die neue Grossbank ist kleiner als die UBS vor der Finanzkrise und wird wohl noch ein wenig schrumpfen. Dies nur so zum Vergleich. Aber klar, sie ist immer noch sehr gross, von der Bilanzsumme her doppelt so gross wie das Schweizer Bruttoinlandsprodukt. Ob es gut kommt, weiss ich nicht. Die Wahrscheinlichkeit, dass auch diese Grossbank einmal ein Problem haben wird und der Staat eingreifen muss, ist jedoch sehr hoch. Eine stärkere Regulierung wird da nicht ausreichen. Das kann man jetzt schon sagen. Jetzt liegen aber politische Forderungen auf dem Tisch, systemrelevante Banken stärker zu regulieren. Noch etwas mehr Puffer zu verlangen, also einen höheren Anteil Eigenkapital, fände ich sinnvoll. Aber selbst Trotz Verlusten und Skandalen wurden bei der CS überhöhte Vergütungen und Boni ausbezahlt. Gewisse Banker scheint nur noch Geldgier anzutreiben, für die sie jedes Risiko eingehen. Wo ist die Unternehmerbank von einst geblieben, die das Land voranbrachte? Den unternehmerischen Teil gab es bei der CS bis zuletzt. Im Firmenkreditgeschäft machte sie einen sehr guten Job. Es stimmt, die Bankengründer um Alfred Escher im 19. Jahrhundert investierten in die Infrastruktur. Doch das Eisenbahngeschäft war auch schon riskant. Die Kreditanstalt hatte eine stürmische Entstehungszeit, die Börsenkurse der Eisenbahngesellschaften gingen rauf und runter. Wenn es gut lief, verdienten auch die Banker gut. Lief es schlecht, bezogen sie allerdings keine Boni. Das ist der Unterschied zu heute. Die Fehler bei der CS geschahen schon auch aus Gier, aber vor allem wegen der Inkompetenz des Verwaltungsrats und des Managements. Worin lag die Inkompetenz? Was ab den 1990er-Jahren neu dazukam, war die starke Internationalisierung der Schweizer Grossbanken. Auf den Finanzplätzen London und New York ist es jedoch für ein schweizerisches Management extrem schwierig zu bestehen. Die angelsächsischen 2010 2011 2021 Bonus-Exzesse bei der CS CS-Konzernchef Brady Dougan (Bild) bezieht zusätzlich zum Jahreslohn von rund 19 Millionen Franken einen Bonus von fast 71 Millionen. Das ist neuer Bonus-Rekord. Die exzessive Bonuskultur der CS stösst in der Schweiz auch in den Folgejahren immer wieder auf Kritik, doch die Aktionäre der Grossbank winken sie durch. CS mit Milliardenpleiten Risikoreiche Investitionen in die Finanzfirma Greensill und den Hedgefonds Archegos führen zu Milliardenverlusten bei der Credit Suisse. Die Schweizer Finanzmarktaufsicht eröffnet wegen Greensill ein Verfahren und ordnet Massnahmen bei der CS an. «Too big to fail»-Gesetz Das Parlament folgt Finanzministerin Eveline WidmerSchlumpf (Bild) und reguliert jene Banken stärker, deren Ausfall der Volkswirtschaft schaden würde, darunter UBS und CS. Sie sind «too big to fail»: zu gross, um unterzugehen. Finanzielle Anforderungen werden erhöht, der Insolvenz-Fall wird geregelt. 6 Schwerpunkt

dann ist die UBS nicht sicher, das muss man einfach wissen. Das globale Finanzsystem ist sehr anfällig. Die CS war angeschlagen, aber so schlecht dran auch wieder nicht. Alle Kennzahlen der Finanzmarktaufsicht waren eingehalten. Dann passiert irgendwo etwas, und die Ansteckung nimmt ihren Lauf. Staaten können eine Finanzkrise weder voraussehen noch verhindern, nur rechtzeitig eindämmen, um katastrophale Folgen zu verhindern. Festzulegen, wann der richtige Zeitpunkt zum Eingreifen ist, ist jedoch schwierig. Kann sich die kleine Schweiz angesichts solcher Risiken noch eine global tätige Grossbank leisten? Es hat Vorteile, am eigenen Finanzplatz eine Grossbank zu haben, die alle Leistungen anbietet. Müsste die UBS nun politisch gewollt die problematischen internationalen Geschäfte abspalten oder würde sie ihren Sitz verlegen, gin­ «Eine stärkere Regulierung wird nicht ausreichen. Das kann man jetzt schon sagen.» Wie wichtig war es für den Wohlstand der Schweiz, ein internationaler Finanzplatz zu sein? Die ökonomische Bedeutung wird überschätzt. Die Schweiz wurde mit dem Ersten Weltkrieg zum internationalen Finanzplatz, war aber schon 1914, gerade vor dem Krieg, das reichste Land auf dem europäischen Kontinent, gemessen am Bruttoinlandsprodukt pro Kopf. Dafür war vor allem die Industrie verantwortlich. Diese war sehr dynamisch und machte den Wohlstand der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert bis heute aus. Der Finanzplatz kam erst infolge der Industrialisierung und gewann mit der Vermögensverwaltung eine ganz neue, reichlich sprudelnde Einnahmenquelle. Volkswirtschaftlich hatte dies immer Vor- und Nachteile. Was waren die Nachteile? Die hohen Löhne im Bankensektor zogen viele gut ausgebildete Leute an, die dann in anderen, innovativeren Bereichen fehlten. Nun gibt es ohne die grosse Sogwirkung des Bankensektors wieder mehr Raum für andere Branchen und Innovationen. Zürich ist ausserdem als Versicherungsstandort sehr erfolgreich. Dieses Geschäft ist berechenbarer und stabiler. Ich finde, es passt viel besser zur Schweizer Mentalität. März 2023 April 2023 Juni 2023 Notübernahme durch UBS Die Krise bei der CS spitzt sich zu, Kunden ziehen Gelder ab. Am Sonntagabend, 19. März, gibt Finanzministerin Karin Keller-Sutter im Beisein der Banken-­ Chefs die Übernahme der CS durch die UBS bekannt. Der Bund leistet für den Notverkauf Garantien im Umfang von 109 Milliarden Franken. Neuer UBS-Chef wird ein Schweizer: Sergio Ermotti. Kritik im Parlament In einer Sondersession lehnt der Nationalrat die Notkredite für die CS-Übernahme ab, was aber folgenlos bleibt. Der Ständerat segnet sie ab. Erneut geht die Diskussion los, ob die Politik die Banken stärker zähmen soll. Im Nationalrat finden Vorstösse für ein Bonusverbot und mehr Eigenkapital eine Mehrheit. CS-Ende wird untersucht National- und Ständerat setzen ihr mächtigstes Kontrollinstrument ein: eine Parlamentarische Untersuchungskommission (PUK). Die PUK macht sich diesen Herbst unter der Leitung von Mitte-Ständerätin Isabelle Chassot (Bild) an die Arbeit. Sie beleuchtet das Handeln von Bundesrat, Nationalbank und Finanzmarktaufsicht vor und während der Bankenkrise. gen diese Vorteile verloren. Dafür wäre mehr Stabilität gewonnen. Für gewisse Geschäfte gäbe es ausländische Filialen, ähnlich wie bei der Fluggesellschaft Swiss, die zur deutschen Lufthansa gehört. Es würde gehen. Auch der Wegfall des Bankgeheimnisses hat uns ja überhaupt nicht geschadet. Zürich ist nicht verarmt. Im Gegenteil. Fotos Keystone 7

Selenski spricht vor Schweizer Parlament Die Schweiz hat dem ukrainischen Staatspräsidenten Wolodimir Selenski die Möglichkeit gewährt, sich per Video-Schaltung direkt ans Schweizer Parlament zu wenden. Selenski bat in seiner kurzen Rede vom 15. Juni 2023 unter anderem um eine Friedenskonferenz in der Schweiz. In den Tagen vor Selenskis Auftritt häuften sich massive Cyberangriffe prorussischer Hacker auf die IT-Infrastruktur der Schweiz. Die Webdienste von Bundesverwaltung und Parlament sowie zahlreiche offizielle Webseiten von Schweizer Städten wurden lahmgelegt. Kurz zuvor wurden bei Hacking-Angriffen Informationen des Bundesamtes für Polizei, des Bundesamts für Zoll und Grenzsicherheit, von Kantonspolizeien und des staatlich beherrschten Rüstungskonzerns Ruag gestohlen. (MUL) Die Schweizer EU-Unterhändlerin tritt zurück Livia Leu, die Schweizer Chefunterhändlerin mit der Europäischen Union (EU), tritt auf eigenen Wunsch zurück. Sie wird im Herbst Botschafterin in Berlin. Der Abgang von Leu nach weniger als drei Jahren im Amt kommt für die Schweiz zu einem heiklen Zeitpunkt: Die Sondierungsgespräche zwischen der Schweiz und der EU über ein neues Abkommen befinden sich in einer wichtigen Phase. Leu hat den Ruf, eine dossierfeste und hartnäckige Diplomatin zu sein. Gleichzeitig galt ihr Verhältnis zu Aussenminister Ignazio Cassis zuletzt als angespannt. Der diplomatische Top-Job ist von vielen Wechseln geprägt: In den letzten zehn Jahren hatten vor Leu schon Roberto Balzaretti, Pascale Baeriswyl, Jacques de Watteville und Yves Rossier den Posten des Chefunterhändlers respektive der Chefunterhändlerin mit der EU inne. (MUL) Thomas Zurbuchen beglückt die ETH Zürich Der ehemalige Forschungschef der US-Raumfahrtsbehörde Nasa, der Schweizer Thomas Zurbuchen (55), kehrt zurück in die Schweiz und stellt sich in den Dienst der ETH Zürich. Dort wird er ab August 2023 als Professor für Weltraumwissenschaft und -technologie die Initiative «ETH Zürich Space» leiten. Zurbuchen gilt als einer der einflussreichsten Forscher der Welt und er prägte bei der Nasa die Weltraumwissenschaft entscheidend mit. Laut ETH-Präsident Joël Mesot hat sich Zurbuchen «trotz zahlreicher Angebote von Top-Universitäten aus der ganzen Welt für die ETH Zürich entschieden.» (MUL) 100 Millionen aus Russland für Unicef Schweiz Unicef Schweiz hat eine Spende von 100 Millionen Franken erhalten – und zwar vom dissidenten russischen Journalisten und Nobelpreisträger Dmitri Muratow. Muratow erhielt 2021 den Friedensnobelpreis. Seine unabhängige russische Zeitung «Nowaja Gaseta» musste er auf behördlichen Druck einstellen. Muratow entschied sich dann, seine goldene Nobelpreismedaille in New York zu versteigern. Den gesamten Erlös spendete er an Unicef Schweiz und Liechtenstein. Die Organisation leistet auch in der Ukraine Nothilfe. (MUL) Alain Berset Bundesrat Alain Berset sitzt im blauen Anzug in New York auf einem Randstein und studiert seine Notizen. Locker wie ein Gymnasiast, lässig wie ein Künstler, weltläufig wie ein Diplomat. Das Bild, 2018 während der Uno-Vollversammlung entstanden, verdeutlicht das Selbst- und Sendungsbewusstsein, mit dem sich der Freiburger Sozialdemokrat als unkonventionelles Mitglied der Landesregierung stilisiert. Berset, erst 51-jährig, hat überraschend angekündigt, sich nach den eidgenössischen Wahlen im Herbst aus dem Bundesrat zurückzuziehen. In seinen zwölf Jahren als Innenminister rang er mit vertrackten Dossiers wie den steigenden Gesundheitskosten oder der Altersvorsorge, wo er wenig Fortschritte erzielte. In den Covid-Krisenjahren erreichte der bekennende Bonvivant als führungsbereiter Landesvater grosse Popularität. Mitunter verhielt er sich weniger staatsmännisch. Als Hobby-Flugzeugpilot drang Berset unerlaubterweise in den französischen Luftraum ein. Er leistete sich eine aussereheliche Eskapade, die in einen Erpressungsversuch gegen ihn mündete. Diese Affären steckte er nonchalant weg, ohne dass sie seine Beliebtheit in Frage stellten. Schwerer wog, dass während der Covid-Krise zwischen Bersets Sprecher und dem Vorsitzenden des Medienverlags Ringier vertrauliche Informationen geflossen sein sollen. Berset setzte damit das Vertrauen im Bundesrat aufs Spiel. Mit seiner Abtrittsankündigung setzt er die Schweizer Politik noch einmal unter Strom. Wenn sich bei den Parlamentswahlen im Oktober Verschiebungen bei den Parteistärken ergeben, könnte die Neubesetzung von Bersets Sitz im Dezember zur Veränderung der Zauberformel im Bundesrat (2 SVP, 2 FDP, 2 SP, 1 Mitte) führen. JÜRG STEINER Schweizer Revue / August 2023 / Nr.4 8 Herausgepickt Nachrichten

9 EVELINE RUTZ Die Fünfte Schweiz möchte online abstimmen. Das belegt der erste Anwendungstest des neuen E-VotingSystems. In drei Kantonen hatten Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer am 18. Juni 2023 die Möglichkeit, ihre Stimmen digital abzugeben. Nach einem Stillstand von fast vier Jahren machten sie davon rege Gebrauch. «Sie schätzen es sehr, dass der digitale Stimmkanal nun wieder angeboten wird», sagt Barbara Schüpbach-Guggenbühl, Staatsschreiberin des Kantons Basel-Stadt. In ihrem Kanton haben rund 53 Prozent der im Ausland lebenden Stimmberechtigten, die sich an den Abstimmungen beteiligten, die elektronische Urne gewählt. In St. Gallen waren es 54 Prozent, im Thurgau 56 Prozent. Eine erste Bilanz fällt positiv aus Alle Beteiligten äussern sich zufrieden. Die Stimmberechtigten seien mit dem System gut zurechtgekommen, sagt Benedikt van Spyk, Staatssekretär im Kanton St. Gallen: «Es gab kaum Supportanfragen.» Von Auslandschweizerinnen und Auslandschweizern seien positive Rückmeldungen eingegangen. Der Kanton Thurgau hat ebenfalls gute Erfahrungen gemacht. «Wir sind mit dem Betrieb des E-Votings sehr zufrieden», sagt Staatsschreiber Paul Roth. Die Post, die das neue System entwickelt hat, die drei Kantone und die Bundeskanzlei werden den Versuchsbetrieb noch detailliert analysieren und allenfalls Anpassungen vornehmen. Wie van Spyk antönt, soll etwa das Anmeldeverfahren vereinfacht werden: «Es stellt eine relativ grosse Hürde dar.» Keine Angriffe, keine Manipulationsversuche Die Post spricht von einer «gelungenen Premiere». Sie hat die Testläufe überwacht und die kantonalen Verantwortlichen vor Ort unterstützt. Es seien keine Unregelmässigkeiten registriert worden, sagt Michael Egger, Die neuen E-Voting-Tests verlaufen positiv Die Kantone Basel-Stadt, St. Gallen und Thurgau haben am 18. Juni 2023 ein neues E-Voting-System eingesetzt. Sie sind mit den Testläufen zufrieden. Vor allem Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer haben die digitale Stimmabgabe genutzt. Leiter E-Voting bei der Post. «Alle elektronisch abgegebenen Stimmen waren gültig, das Stimmgeheimnis war jederzeit gewahrt und das Ergebnis ist korrekt ausgezählt.» Von Hackerangriffen, wie sie seit Anfang Juni mehrere Schweizer Unternehmen, die Bundeskanzlei sowie andere Behörden erlebt hatten, war das System nicht betroffen. «IT-Sicherheit ist kein Zustand, das ist ein fortlaufender Prozess», betont Egger zugleich. Nach dem «geglückten Start» geht er «fest» davon aus, dass E-Voting auch bei den eidgenössischen Wahlen im Herbst zum Einsatz kommen wird. Der Entscheid liegt bei den Kantonen. Basel-Stadt, St. Gallen und Thurgau wollen E-Voting weiter anbieten. Sie haben vom Bundesrat eine Grundbewilligung bis im Mai 2025 erhalten. Für die Nationalratswahlen vom 22. Oktober 2023 haben sie eine separate Zulassung beantragt; die Bewilligungsverfahren laufen. Weitere Kantone werden bis im Oktober nicht hinzukommen. Laut der Bundeskanzlei ist es dafür – unter anderem aus logistischen Gründen – zu spät. Als «vollen Erfolg» wertet die Auslandschweizer-Organisation (ASO) die Tests vom 18. Juni. Sie zeigten, dass E-Voting einem Bedürfnis der Fünften Schweiz entspreche. In den drei Kantonen konnten 25494 Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer elektronisch abstimmen. 3616 taten dies. Aus der Diaspora kamen 85,3 Prozent aller online abgegebenen Stimmen. Das Fazit von ASODirektorin Ariane Rustichelli: «Das neue E-Voting-System hat die Bewährungsprobe bestanden.» Demoversion des E-Voting-Systems: demo.evoting.ch Mehr zum Thema siehe Seite 35 Die baselstädtische Staatsschreiberin Barbara SchüpbachGuggenbühl, hier an einer Medienkonferenz im Vorfeld des Tests, zieht eine positive Bilanz. Foto Keystone Schweizer Revue / August 2023 / Nr.4 Nachrichten

THEODORA PETER «Die Bevölkerung hat ein ambitioniertes Ziel gesetzt», erklärte Bundesrat Albert Rösti (SVP) nach dem Urnengang. Der Energie- und Umweltminister – erst seit Januar Mitglied der Landesregierung – vertrat das vom Parlament beschlossene Klimaschutz-Gesetz gegen den Willen seiner Partei. Die SVP sah bei einer Abkehr von Öl und Gas die sichere Energieversorgung der Schweiz in Gefahr und bekämpfte das «Stromfresser-Gesetz» per Referendum. Die Mehrheit des Stimmvolks folgte aber der Ja-Parole aller anderen Parteien: 59,1 Prozent bekannten sich zum Erreichen der Klimaneutralität bis ins Jahr 2050. Die Auslandschweizerinnen und -schweizer stellten sich gar zu 76,8 Prozent hinter dieses Ziel. Schub für erneuerbare Energien Das Klimaschutz-Gesetz schreibt vor, dass Industrie, Verkehr und Privathaushalte den Ausstoss umweltschädlicher Treibhausgase in den nächsten drei Jahrzehnten stark reduzieren müssen. Nötig sind im Gegenzug massive Investitionen in CO₂-freie Technologien. Das Parlament stellt dafür Fördergelder in der Höhe von insgesamt 3,2 Milliarden Franken zur Verfügung. Dadurch sollen etwa Hausbesitzende motiviert werden, ihre klimaschädliche Die Schweiz will bis 2050 klimaneutral werden Mit fast 60 Prozent Zustimmung stellten sich die Schweizer Stimmberechtigten am 18. Juni 2023 klar hinter das Klimaschutz-Gesetz. Es verankert den schrittweisen Ausstieg aus fossilen Energieträgern wie Erdöl und Gas. Doch um die C02-freien Alternativen zeichnen sich neue Konflikte ab. Öl- oder Gasheizung durch eine Wärmepumpe zu ersetzen. Auf den Strassen werden zunehmend Elektrofahrzeuge die heutigen Benzin- und Dieselkarrossen ablösen. Industrie und Gewerbe müssen auf eine klimaschonende Produktion umstellen. Für Umwelt- und Energieminister Rösti ist das sogenannte Netto-null-Ziel jedoch nur dann zu erreichen, wenn die Schweiz mehr einheimischen Strom produziert. «Wir können uns nicht einfach auf Importe verlassen.» Rösti hofft darauf, dass das Parlament das neue Gesetz über eine sichere Stromversorgung noch im September verabschiedet. Mit der Vorlage sollen Wasserkraft, Sonnen- und Windenergie mehr Schub erhalten. In der politischen Debatte ist jedoch umstritten, wie weit neue Staumauern, Windräder oder Solarkraftwerke Natur und Landschaft beeinträchtigen dürfen. Je nach Ausgang der Parlamentsberatung könnte es auch bei diesem Gesetz zu einem Referendum kommen – und in der Folge zu einer weiteren Volksabstimmung. Forderung nach neuen AKW Bürgerliche Parteien und Wirtschaftsverbände zweifeln, ob die erneuerbaren Energien den Strombedarf der Schweiz künftig decken werden. Noch am AbstimmungsDas neue Klimaschutzgesetz verleiht auch neuen, grossen Solar- und Windprojekten mächtig Schub. Kontrovers debattiert wird deren Einfluss auf Natur und Landschaft. Im Bild: Europas höchstgelegener Windpark, am Griessee (VS) unweit des Nufenenpasses. Foto Keystone Schweizer Revue / August 2023 / Nr.4 10 Politik

0 5 1015202530354045 50 55 60 65 70 75 80 85 90 95 100 76.9% sonntag kamen deshalb Forderungen nach neuen Atomkraftwerken aufs Tapet. Auf die «klimaschonende» Energie aus der Kernspaltung dürfe man nicht leichtfertig verzichten, so der Tenor bei FDP und SVP. Nur: Der Bau neuer Kernkraftwerke ist in der Schweiz seit 2017 gesetzlich verboten. Damals hiess das Stimmvolk die Energiestrategie 2050 gut – inklusive Ausstieg aus der Atomkraft. Doch die Dringlichkeit des Klimawandels sowie die Sorgen um genügend Strom könnten für ein Umdenken sorgen – und den geplanten Atom-Ausstieg zumindest verzögern. So plädiert auch SVP-Bundesrat Rösti dafür, die bestehenden Schweizer AKWs noch möglichst lange laufen zu lassen, «solange die Sicherheit gewährleistet ist». Dazu wären aber teils kostspielige Nachrüstungen nötig. Offen ist, ob die AKW-Betreiber dieses Geld überhaupt investieren wollen. 2019 nahm der Energiekonzern BKW das Atomkraftwerk Mühleberg vom Netz, weil sich dessen Weiterbetrieb wirtschaftlich schlicht nicht mehr lohnte. Auch mit der Atomfrage dürfte sich das Stimmvolk in ein paar Jahren erneut beschäftigen. Ein bürgerliches Komitee sammelt unter dem Titel «Blackout stoppen» Unterschriften für eine Volksinitiative, die das geltende AKW-Verbot rückgängig machen will. So sollen in der Verfassung «alle klimaschonenden Arten» der Stromerzeugung als zulässig erklärt werden. Auf linker Seite hat man für die «ideologische Verklärung» der Atomkraft nur ein Kopfschütteln übrig. Wenn man die erneuerbaren Energien wie vorgesehen ausbaue, komme es auch im Winter zu keiner Stromlücke, betont Energiepolitiker und SP-Nationalrat Roger Nordmann. Bei den linksgrünen Parteien sieht man nebst Wasser- und Windkraft ein grosses, bislang ungenutztes Potenzial bei Solaranlagen auf Gebäuden. Klima-Allianz will mehr Tempo Gewinnerin des Abstimmungssonntags ist die überparteiliche Klima-Allianz. Beflügelt vom Volks-Ja erwartet sie nun von der Schweiz, «ihre Ambitionen zu erhöhen». Mehr Elan fordern die Klimaschützer insbesondere bei der anstehenden Revision des CO₂-Gesetzes. Die Vorlage, die derzeit vom Parlament beraten wird, reiche nicht aus, um die Klimaschutz-Ziele rechtzeitig zu erreichen. In der Verantwortung sieht die Klima-Allianz auch den Finanzplatz. Schweizer Banken sollen «klimazerstörerische Grosskonzerne» zum Umdenken und Handeln bringen. Ihren Forderungen Nachdruck verleihen will die Bewegung am 30. September mit einer Klimademo auf dem Bundesplatz in Bern – drei Wochen vor den eidgenössischen Wahlen. Am Urnengang vom 18. Juni – dem letzten im Wahljahr 2023 – kamen zwei weitere Vorlagen zur Abstimmung (siehe Grafik rechts). Auch dabei folgten die Stimmberechtigten der Empfehlung von Regierung und Parlament. Sie sagten sowohl Ja zur Einführung einer globalen Mindeststeuer für Grosskonzerne wie auch zu einer vorsorglichen Verlängerung des Covid-Gesetzes bis Ende 2024. Ja zum Klimaschutz-Gesetz Die Stimmberechtigten sagten zu 59,1 Prozent Ja zum Bundesgesetz über die Ziele im Klimaschutz, die Innovation und die Stärkung der Energiesicherheit. Dadurch soll die Schweiz bis 2050 klimaneutral werden. Ja zur globalen Mindeststeuer Mit 78,5 Prozent stellte sich eine Mehrheit hinter die Einführung einer Mindestbesteuerung für grosse international tätige Unternehmensgruppen. Mit der Reform beteiligt sich die Schweiz an einem Projekt von OECD und G20. Ja zur Verlängerung Covid-19-Gesetz 61,9 Prozent stimmten einer vorsorglichen Verlängerung des Covid-19-Gesetzes bis Ende 2024 zu. Dadurch könnten im Bedarfsfall die Covid-Zertifikate reaktiviert werden – zum Beispiel für Einreisen in andere Länder. Auslandschweizer:innen Ja-Stimmen in Prozent zum Klimaschutzgesetz 0 5 1015202530354045 50 55 60 65 70 75 80 85 90 95 100 85.9% Auslandschweizer:innen Ja-Stimmen in Prozent zur Besteuerung grosser Unternehmensgruppen 0 5 1015202530354045 50 55 60 65 70 75 80 85 90 95 100 68.7% Auslandschweizer:innen Ja-Stimmen in Prozent zum Covid-19-Gesetz Schweizer Revue / August 2023 / Nr.4 11

Sie trägt den für Museen herausfordernden Prozess des «Entsammelns» in die Öffentlichkeit – mit Plakaten, Informationsveranstaltungen und demokratisch abgestützter Mitwirkung: Carmen Simon, Leiterin des Regionalmuseums in Langnau (BE). Fotos Andreas Reber Schweizer Revue / August 2023 / Nr.4 12 Gesellschaft

EVA HIRSCHI «Das ist ein Tabuthema», sagt Carmen Simon, Leiterin des Regionalmuseums Chüechlihus in Langnau im Emmental (BE). «Aber dass ein Museum Objekte aus der Sammlung entlassen muss, ist nicht neu.» Eigentlich ist es nicht überraschend – kein Museum kann grenzenlos sammeln. Gerade in einem Regionalmuseum, in welchem die grosse Mehrheit der Objekte aus Schenkungen stammt, sind einige Gegenstände vielleicht mehrfach vorhanden, andere womöglich beschädigt. Und eines Tages sind die Lager voll. «Zu einer sorgfältigen Sammlungspflege gehört deshalb nicht nur das Sammeln, sondern auch das Entsammeln», sagt die 37-jährige Carmen Simon, die die Museumsdirektion 2021 übernommen hat. Museen müssen regelmässig ihr Inventar überprüfen und sich gegebenenfalls von Einzelstücken trennen. «Deakzession» heisst dieser Prozess. Pioniergeist im Emmental Das Chüechlihus in Langnau, eines der grössten Regionalmuseen der Schweiz, geht dabei innovative Wege: In einem europaweit, wenn nicht sogar weltweit einzigartigen Projekt lässt es die Bevölkerung entscheiden, was das Museum weggibt und was mit den Objekten geschieht. «Wir finden, die Emmentalerinnen und Emmentaler sollen mitbestimmen, was mit ihrem Kulturerbe geschieht», sagt Carmen Simon. Der Gemeinderat gab grünes Licht: «Die Erklärungen leuchteten ein: Ein Museum braucht nicht 20 Gehstöcke und 12 Spinnräder», sagt der Kulturverantwortliche Martin Lehmann. Zylinder und Nachthemden, Schürzen und Hemdkragen, Ein Museum «entsammelt» Von Hüten über Hemdkragen bis zu Hosenträgern: Im Emmental entscheidet die Bevölkerung in einem Pionierprojekt, welche Objekte ihr Regionalmuseum aussondert und was damit geschieht. Es demokratisiert damit ein Vorgehen, das jedes Museum kennt: die Deakzession, also den Abbau der eigenen Sammlung. Trachten und Foulards: Über 2000 Textilien hat die Museumsleitung zusammen mit dem sogenannten Objektrat in einem ersten Schritt ausgesondert. Neben der Vertretung aus Museum, Verwaltung und Politik sitzen auch fünf zufällig ausgeloste Bürgerinnen und Bürger aus Langnau in diesem Gremium. Darunter die 36-jährige Jacqueline Maurer: «Ich sagte sofort zu – ich finde es spannend, an diesem Prozess teilzuhaben.» In einer Sitzung haben sie die Auswahl diskutiert, gleichzeitig konnten sich auch die Bevölkerung und die Heimatberechtigten mittels OnlineAbstimmung auf www.entsammeln.ch beteiligen. Dafür wurden alle Objekte fotografiert und auf der Website publiziert. Zudem sind sie für alle zugänglich im Dachstock des Museums ausgestellt – mittels QR-Codes gelangt man zur Beschreibung jedes einzelnen Kleids, Huts, Mantels. «Die Idee ist, dass die Bevölkerung sich aktiv damit auseinandersetzt. Dass man hier – anders als in anderen Museen – die Objekte sogar anfassen kann, soll die Beziehung weiter stärken», sagt Simon. Auch kritische Stimmen Der demokratisierte Entscheidungsweg stiess auch auf Kritik. «Gerade in der Museumsszene waren anfangs viele skeptisch», so Simon. Der Skepsis hielt sie Transparenz entgegen: Auf der Homepage ist der ganze Prozess klar dokumentiert. Zwar verlangen die Richtlinien des internationalen Museumsrats unter anderem, dass ein ausgesondertes Objekt zuerst einem anderen Museum angeboten werden soll. Simon jedoch ist der Meinung, dass ein Objekt nicht nur in einem Museum öffentlich erhalten Trennt sich das Museum von Sammelgut, entsteht in Langnau etwas Flohmarktstimmung: Antike Möbel, historische Textilien und Geschirr mit Geschichte aus dem Museumsfundus. Fotos Andreas Reber (links) und Eva Hirschi (rechts) Schweizer Revue / August 2023 / Nr.4 13

GERHARD LOB Das Tessin gilt als Sonnenstube der Schweiz. Tatsächlich scheint die Sonne im Südkanton besonders häufig. Allerdings gibt es mit dem Wallis einen erbitterten Kampf um die Spitzenposition als sonnenreichster Kanton. Mal liegt nämlich ein Walliser Ort vorne, mal ein Tessiner. Im langjährigen Mittel obsiegt aber das Tessin, wie eine Langzeitstatistik von Meteo Schweiz für die Jahre 1990 bis 2020 aufzeigt. In den Top-Ten-Destinationen für Sonnenschein liegen deren fünf im Tessin. Auf Platz eins kommt Cardada-Cimetta, der Hausberg Locarnos, mit einer mittleren Sonnenscheindauer von 2256 Stunden pro Jahr. Die Walliser Hauptstadt Sitten folgt mit 2192 Stunden. Cimetta auf 1670 Metern Höhe ist daher nicht zufällig ein beliebter Ausflugsberg, der von Einheimischen und Touristen besucht wird. Er lässt sich bequem auf dem Luftweg erreichen. Von Orselina (395 m) schwebt die Kabine einer Seilbahn zuerst nach Cardada (1340 m), einer Bergsiedlung bleibt. «Wir legen die Richtlinien grosszügig aus», sagt sie. Und fügt schnell hinzu: «Professionelle Bewerbungen von Museen werden aber bevorzugt behandelt.» Auch für Jacqueline Maurer ist das Projekt keineswegs problematisch. «Das Museumsteam hat ja nur Dinge ausgesondert, die schon in der Sammlung vertreten sind. Die Aktion hilft zudem, dass man sich das Museum wieder in Erinnerung ruft.» Dies scheint zu funktionieren: Die öffentliche Konsultation hat auch dazu geführt, dass neue Informationen an das Museum herangetragen wurden. So wurden einzelne Kulturgüter schlussendlich doch nicht ausgesondert. Bewerbung. Museen, Organisationen oder Einzelpersonen – auch ausserhalb der Region, sogar aus dem Ausland – können sich für ein bestimmtes Objekt bewerben. Ob UpcyclingProjekt, Kunstaktion oder Wohnungsdekoration: Bedingungen gibt es keine. Wer was erhält, wird wiederum gemeinsam entschieden; in Kürze – Mitte August – gibt es eine Abstimmung im Objektrat, in welchem die Stimmen der Bevölkerung von einer weiteren Online-Abstimmung miteinfliessen. Der ganze Prozess ist aufwändig, über ein halbes Jahr dauert die Entrümpelungsaktion. Doch Simon sieht das als gerechtfertigt, denn: «Diese Objekte sind uns anvertraut worden. Eine Sorgfaltspflicht gehört zu meiner Berufsethik.» Die anfängliche Skepsis in der Bevölkerung scheint verflogen, auch in der Museumsszene wächst das Interesse. Es kommen sogar schon Anfragen aus dem Ausland, die wissen wollen, wie das Projekt organisiert ist. Die Museumschefin ist sehr zufrieden. Dies ist bereits die zweite Runde, eine erste Entsammlungsrunde hat das Museum letztes Jahr durchgeführt, wenn auch mit nur gut hundert Gegenständen. Und für 2024 ist wieder eine Entsammlungsrunde geplant. Gemäss einer Umfrage, die das Museum bei den Abstimmenden gemacht hat, fühlen sich viele nun stärker mit dem Museum verbunden. «Genau das ist die Idee: Das Museum soll nicht in den eigenen vier Wänden bleiben. Wichtig ist, dass eine Beziehung hergestellt wird. Es geht nicht um die Objekte, sondern um die Menschen», sagt Simon. Die Langnauerin Jacqueline Maurer stimmt zu: «Ich hatte vergessen, dass wir in dieser Region so viel Spannendes haben und wir stolz sein können, Emmentalerinnen und Emmentaler zu sein.» Denn das Ziel dieser Aktion ist nicht einfach, Platz im Keller zu schaffen – sondern viel eher Platz in den Herzen der Bevölkerung. Carmen Simons Ansatz beim Entsammeln: «Die Emmentalerinnen und Emmentaler sollen mitbestimmen, was mit ihrem Kulturerbe geschieht.» Foto Eva Hirschi «Wir haben zwar die fachliche Expertise und wissen, welche Funktion ein gewisses Objekt hatte. Aber teilweise wissen wir nicht, wem es gehört hatte und wer der Besitzer war», sagt Carmen Simon. Ein ausgesonderter Arbeitsmantel etwa wurde wieder in die Sammlung zurückgenommen. «Für uns war das einfach ein zerrissener Kittel. Jetzt haben wir aber erfahren, dass er einem bekannten Radioreparateur gehört hatte, den jeder im Dorf kannte», sagt Simon. Der Objektrat wollte den Mantel behalten. Mehr als ein Museum Über den Sommer lief schliesslich die Vergabungsphase, in welcher die Zukunft der Objekte ausgehandelt wird. Doch nicht etwa durch eine Auktion oder gar Online-Shopping – es fliesst kein Geld – , sondern als aufwändige Schweizer Revue / August 2023 / Nr.4 14 Gesellschaft Reportage

mitsamt Kirchlein und zwei Gastrobetrieben, wo viele Locarnesi eine Zweitresidenz besitzen. Im Jahr 2000 wurde die Seilbahn vom Stararchitekten Mario Botta renoviert – er verpasste der Tal- und Bergstation ein neues Design. Die Türen zur Kabine öffnen und schliessen sich seither automatisch. Wer in Cardada aussteigt, atmet förmlich eine andere Luft. Gerade jetzt, im Sommer, wenn es in Locarno stickig-heiss ist, wirkt die Frische von Cardada wie eine Befreiung. Die gut 300 Höhenmeter zwischen Cardada und Cimetta lassen sich schliesslich in einem Sessellift zurücklegen, dem letzten Quersessellift der Schweiz, einer Art IndustrieDenkmal aus den 1950er-Jahren. Das Panorama ist fantastisch. Von der Bergstation gilt es nun einige wenige Höhenmeter zu Fuss zurückzulegen, um die Aussichtsplattform Cimetta zu erreichen. Von hier eröffnet sich ein unglaublicher Rundblick über den Lago Maggiore bis hin zur Dufourspitze in den Walliser Alpen und damit vom tiefsten bis zum Der Sonnenberg An keinem Ort der Schweiz scheint die Sonne mehr Stunden als in Cardada-Cimetta ob Locarno. Dies lockt auch Sonnenforscher und Sonnenforscherinnen an. Eine Erkundung. höchsten Punkt der Schweiz. Quer über die Aussichtsplattform verläuft die sogenannte «insubrische Linie», welche die Zentralalpen von den Südalpen trennt. Etwas überspitzt gesagt: Hier liegt die Grenze zwischen Nord- und Südtessin, zwischen den Kontinentalplatten Europas und Afrikas. Diese Linie ist dank einer roten Markierung auf der Plattform sichtbar. Höher, weiter, schneller, schöner? Auf der Suche nach den etwas anderen Schweizer Rekorden. Heute: Der sonnigste Flecken der Schweiz – samt seiner Schattenseite Direkt unterhalb dieses Aussichtspunkts stehen unübersehbar einige Messinstrumente von Meteo Schweiz. Genau dort wird die Sonnenscheindauer gemessen, wie der Meteorologe Nicola Gobbi erklärt. Er arbeitet für die «Wetterstation Locarno», wie die Aussenstelle von Meteo Schweiz in Locarno-Monti lange im Volksmund genannt wurde. Auf dem Dach der Meteorologischen Anstalt zeigt er das moderne Messgerät SPN-1, das zur Messung der Sonnenscheindauer heute verwendet wird, aber auch das ältere Messgerät Solar 111 B der Firma Hänni, das in Cimetta noch eingesetzt wird. Durch schnell rotierende Flügel werden bei diesem Gerät die Solarzellen nacheinander in kurzen Abständen abgeschattet. Als Sonnenschein werden alle Zeitpunkte gemessen, bei welchen eine minimale Differenz zwischen der ungestörten Einstrahlung und dem Wert bei Abschattung überschritten wird. In der ganzen Schweiz gibt es rund 260 solcher automatischer Messstationen, die zusammen das BodenmessDie Sonnenterrasse der Extreme: Hier, auf dem Hausberg von Locarno, scheint die Sonne im Schnitt 2256 Stunden pro Jahr. Die Terrasse liegt da, wo die Kontinentalplatten Europas und Afrikas aufeinandertreffen. Foto Gerhard Lob © Swisstopo Schweizer Revue / August 2023 / Nr.4 15

netz SwissMetNet bilden. Mit Meteo Schweiz erhält der Sonnenschein am Hausberg Locarnos ein wissenschaftliches Gesicht. Denn hier werden Statistiken erstellt und Wetterdaten ausgewertet. Aber nicht nur: Im Garten des meteorologischen Instituts befindet sich die Specola Solare Ticinese, ein Sonnenobservatorium. Es wurde 1957 gegründet, im Internationalen Geophysikalischen Jahr. Es erhebt die Sonnenflecken-Relativzahl («Wolfsche Relativzahl») und war bis 1980 Teil der Eidgenössischen Sternwarte an der ETH Zürich. Seither wird es von einem privaten Verein betrieben und liefert die Daten an die nun für die Verbreitung der Sonnenflecken-Relativzahl zuständige Königliche Sternwarte von Belgien. Ein Kuriosum: Die Karten mit den Sonnenflecken werden noch von Hand gezeichnet. Etwas weiter bergwärts befindet sich etwas versteckt im Grünen ein weiteres Sonnenforschungsinstitut, das «Istituto Ricerche Solari Locarno» (IRSOL), das auf Sonnenphysik spezialisiert ist. Gegründet wurde das IRSOL im Jahr 1960 von der deutschen Universität Göttingen und von ihr auch bis 1984 betrieben. Verschiedene Standorte in Europa waren geprüft worden, am Ende schien Locarno wegen seiner Position und den vielen Sonnenstunden am geeignetsten. In den 1990er-Jahren gab es Partnerschaften mit verschiedenen Universitäten, insbesondere mit der ETH Zürich. Heute ist das IRSOL mit der Universität der italienischen Schweiz (USI) assoziiert. «Dank des Spezialgeräts Zimpol gelingt es, die Polarisierung des Sonnenlichts mit einer sehr hohen Präzision zu messen», sagt Michele Bianda, langjähriger, aber mittlerweile pensionierter IRSOL-Direktor, bei der Führung durch das Institut an dem sonnenbeschiedenen Hang. Ein Sonnenfleck für die Wissenschaft Locarno-Cardada-Cimetta ist also nicht nur touristisch ein Sonnenfleck, sondern auch für die Wissenschaft. Die lange Sonnenscheindauer in Verbindung mit den steigenden Temperaturen hat aber auch ihre Schattenseiten. Lange war Cardada-Cimetta nämlich eine Winterdestination. Das Skifahren auf dem Berg mit dem darunter liegenden Lago Maggiore war ein einmaliges Erlebnis. Und ein erster Skilift wurde noch vor der LuftseilMichele Bianda vom Solarforschungsinstitut IRSOL klettert am Spektografen hoch. Foto Gerhard Lob bahn gebaut. Doch Schneefall ist in diesen mittleren Höhen immer seltener. 2019 kam der Entscheid, den Winterbetrieb einzustellen. Inzwischen sind fast alle Skilifte abgebaut, auch weil der Unterhalt bei seltenem Betrieb zu teuer ist. Cimetta ist zu einer Sommerdestination geworden. Im Winter kommen Spaziergänger, Schneeschuhläufer oder Tourenskifahrer individuell auf den Sonnenberg, wenn es dann doch mal schneit. Sonnenschein ist gut für Seele und Körper. In der Vermarktung von Cardada-Cimetta spielt der Sonnenschein aber erstaunlicherweise keine so grosse Rolle, auch wenn die Sonne im grafischen Logo der Destination erscheint. Gepusht wird der Berg als Erlebnisraum und Wanderparadies für die ganze Familie. In den Pionierzeiten des Tessiner Tourismus Ende des 19. Jahrhunderts, als die Gotthardbahn eröffnete, war dies noch anders. Damals waren auf einigen offiziellen Werbeplakaten noch die Sonnenstunden für Locarno und Lugano verzeichnet, und daneben solche für London und Hamburg. Inzwischen gilt das Klischee des Tessins von der «Sonnenstube der Schweiz» als etwas abgegriffen. Die Winterdestination wird mehr und mehr zur Wanderdestination. Fast alle Skilifte auf dem «Sonnenberg» sind abgebaut worden. Foto ascona-locarno.com Schweizer Revue / August 2023 / Nr.4 16 Reportage

Wohin soll die Schweiz in den nächsten vier Jahren steuern? Die grosse Umfrage zu den Wahlen 2023 THEODORA PETER UND MARC LETTAU In rund zwei Monaten, am 22. Oktober 2023, wählen die Schweizerinnen und Schweizer ein neues Parlament. Die 246 vom Volk gewählten Mitglieder von National- und Ständerat prägen in den nächsten vier Jahren den politischen Kurs des Landes. Und sie wählen im Dezember die sieben Mitglieder der Landesregierung für eine neue Amtsperiode. Gemäss einem ungeschriebenen Gesetz – der sogenannten «Zauberformel» haben die drei wählerstärksten Parteien Anspruch auf je zwei Sitze, die viertstärkste Partei auf einen Sitz im Bundesrat. Je nach Abschneiden der bisherigen Regierungsparteien SVP, SP, FDP und Mitte bei den Parlamentswahlen könnten diese Karten neu gemischt werden. Für Spannung sorgt auch, dass mit dem angekündigten Rücktritt von Alain Berset (SP) ein Regierungssitz vakant wird (siehe dazu auch Seite 8). Die sechs bisherigen Bundesrätinnen und Bundesräte stellen sich erneut zur Wahl. Schlüsselrolle des Parlamentes Bundesrat und Parlament beschliessen Gesetze, und sie stellen die Weichen für Entscheide, die den Alltag der Bevölkerung und die Perspektiven künftiger Generationen prägen. In der direkten Demokratie können die Stimmberechtigten zwar durch Referenden und Initiativen Einfluss auf den politischen Kurs nehmen. Dennoch spielt die Zusammensetzung des Parlaments eine Schlüsselrolle zur Frage, wohin die Reise gehen soll. In den nächsten Jahren steht die Schweiz sowohl innen- wie aussenpolitisch vor grossen Herausforderungen: Wie positioniert sich das Land in Europa? Muss die Neutralität angesichts des Angriffskriegs Russlands neu definiert werden? Wie lassen sich die Ziele beim Klimaschutz erreichen? Aus welchen Quellen deckt die Schweiz künftig ihren Energiebedarf? Wie lässt sich die Altersvorsorge langfristig finanziell sichern? Sechs Parteien auf dem Prüfstand Im Hinblick auf die Wahlen hat die «Schweizer Revue» den sechs grössten Parteien auf den Zahn gefühlt. Wir wollten wissen, wie sich SVP, SP, FDP, Mitte, Grüne und Grünliberale zu zentralen Fragen in den Bereichen Umwelt und Energie, Neutralität und Aussenpolitik, Gesellschaft und Innenpolitik positionieren. Einen zusätzlichen Fokus legten wir bei der Umfrage auf die Anliegen der Fünften Schweiz: Wie stellen sich die Parteien zur Ausübung der politischen Rechte der Auslandschweizerinnen und -schweizer? Soll das elektronische Abstimmen – das E-Voting – vorangetrieben werden? Und schliesslich die Gretchenfrage: Warum sollen im Ausland lebende Bürgerinnen und Bürger die jeweilige Partei wählen? Die Antworten auf die teils kniffligen Fragen lesen Sie auf den folgenden Seiten 18 bis 23. Zusätzliche Fragestellungen und Antworten finden sich online – samt dem umfangreichen «Revue»-Dossier mit allen bisher erschienenen Artikeln zu den Wahlen 2023. Auf Seite 24 folgen schliesslich die Namen der in der Fünften Schweiz lebenden Kandidaten und Kandidatinnen, die sich für einen Sitz im Nationalrat bewerben – samt der Erklärung, warum für sie die Hürde auf dem Weg ins Parlament besonders hoch ist. Vertiefung Der Blick der grossen Parteien auf die Fünfte Schweiz: revue.link/parteien Wen wählen? Und wie? – Wahlhilfen im Überblick: revue.link/wahlhilfen Das Wahldossier der AuslandschweizerOrganisation: www.elections-2023.ch 17 Schweizer Revue / August 2023 / Nr.4 Politik

RkJQdWJsaXNoZXIy MjYwNzMx