Schweizer Revue 4/2023

Fehlern eine zweite Chance erhalten, «Frauen neigen eher dazu aufzugeben». Der Politologe führt den Fall von Geri Müller an, dem ehemaligen Stadtammann von Baden (AG) und Nationalrat der Grünen, der 2014 wegen einer Affäre um Nacktselfies von seinen Aufgaben entbunden wurde. Er verzichtete auf eine erneute Kandidatur für den Nationalrat und wurde drei Jahre später als Stadtammann abgewählt. In diesem Fall lag aber nur ein moralisches und kein strafrechtliches Fehlverhalten vor. Der Solothurner Regierungsrat Roberto Zanetti wiederum war 2004 in eine Wahlkampf-Spendenaffäre verwickelt und zahlte die Spenden zurück. Als er 2005 abgewählt wurde, zog er sich zunächst aus dem politischen Leben zurück, wurde dann aber 2010 in den Ständerat gewählt. Auch hier keine Spur einer Verurteilung. Pierre Maudet trat zwar als Staatsrat zurück, aber nur, um seine eigene Position zu stärken. Zwischen den beiden Wahlgängen in Genf stellte der Staatsrat der Grünen Antonio Hodgers empört die Frage: «Wenn das Wahlvolk entscheidet, jemanden an die Macht zu bringen, der wegen Korruption verurteilt wurde, der alle Institutionen belogen hat (...), welchen Wert hat Ethik dann noch in der Politik?» Doch Pascal Sciarini liefert einen Erklärungsansatz: «Die Leute wollten sein Fehlverhalten vergessen und sich nur an das Gute erinnern.» Wer wählt, wählt primär einen Menschen Lukas Golder verweist darauf, dass «die Medien sehr schnell ein moralisches Urteil fällen. Wer wähle, schaue hingegen eher «auf den Menschen in der Hoffnung, dass er sich bessert». Während seines letzten Wahlkampfs versuchte Pierre Maudet zum Ausdruck zu bringen, dass ihm die Leute am Herzen liegen. Nenad Stojanović hält Maudet durchaus für empathiefähig. Vor allem aber habe Maudet echte Fans, «eine Seltenheit in der Schweizer Politik». Allerdings: Im Umgang mit Beamten hat Maudet auch ein brutales Gesicht gezeigt. Ein weiterer Schatten auf dem Gesamtbild? Pierre Maudet «ist sich des strafrechtlichen Charakters seiner Handlungen immer noch nicht ansatzweise bewusst und beruft sich auf die Rechtsunsicherheit, um sich jeglichen Sanktionen zu entziehen», urteilte das Genfer Gericht. Nun hat Maudet «keine andere Wahl, als mit seinen Kolleginnen und Kollegen im Genfer Staatsrat effizient zusammenzuarbeiten. Vielleicht kann er in fünf Jahren seine Legitimität ganz wiedererlangen», sagt Lukas Golder. Ylfete Fanaj, eine Luzerner Pionierin Als Ylfete Fanaj Mitte Mai die Wahl in die Luzerner Kantonsregierung schaffte, war das mehrfach bemerkenswert. Mit der 41-jährigen Stadtluzernerin kehrte die Sozialdemokratische Partei nach mehreren Jahren Unterbruch in die bis dahin rein bürgerliche – und rein männliche – Exekutive zurück. Und: Ylfete Fanaj ist schweizweit die erste Regierungsrätin mit kosovarischen Wurzeln. Kosovarinnen und Kosovaren, vor allem albanischsprachige, gehören zu den grössten Einwanderungsgruppen hierzulande. Fanaj, geboren in Prizren, kam Anfang der 1990er-Jahre als neunjähriges Kind und Tochter eines Saisonarbeiters in die Schweiz. Die Familie lebte in der luzernischen Kleinstadt Sursee. Diese sei lange ihre Heimat gewesen und habe sie geprägt, so Fanaj. In Sursee wurde sie mit zwanzig eingebürgert. Eine kaufmännische Lehrstelle hatte die gute Sekundarschülerin erst nach 200 Absagen erhalten – eine Erfahrung, die sie mit anderen vom Balkan stammenden Jugendlichen teilte. Doch die leistungswillige junge Frau absolvierte die Berufsmatur und studierte Soziale Arbeit. Beruflich wurde sie Integrationsbeauftragte des Kantons Nidwalden. Ihre politische Laufbahn in Luzern führte Ylfete Fanaj klassisch-schweizerisch von unten nach oben: Stadtparlament, Kantonsparlament, dort Fraktionschefin, dann Ratspräsidentin. Nun regiert sie den Kanton Luzern mit, der als konservativ gilt. Das stiess auf breite Beachtung, in der Schweiz wie auch in Kosovo. «Wandel ist möglich», stellte Fanaj selber fest. Obwohl Pionierin, wehrte sich die Mutter eines kleinen Sohns aber dagegen, ihre Wahl als Besonderheit zu sehen. Vielmehr sei die Luzerner Kantonsregierung jetzt «ein Abbild der vielfältigen Gesellschaft», betonte sie. SUSANNE WENGER Fotos Keystone Schweizer Revue / August 2023 / Nr.4 27

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