Schweizer Revue 5/2023

MARC LETTAU UND THEODORA PETER An den Wahlen von 2019 verblüffte die Fünfte Schweiz viele: Sie wählte sehr markant grün. Die Grüne Partei verbuchte im Inland grosse Zugewinne. In der Fünften Schweiz legten die Grünen aber gleich doppelt so stark zu. Doch Wahlen und die vielen nationalen Volksabstimmungen gehorchen unterschiedlichen Gesetzmässigkeiten. Daher die Fragen: Wie also stimmten die Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer bei den Volksabstimmungen der letzten vier Jahre ab? Welchen Einfluss hatten sie jeweils auf das nationale Abstimmungsresultat? Und lassen sich in ihrem Abstimmungsverhalten eingängige, einprägsame Muster erkennen? Auf der Suche nach einem «Big Picture» hat die «Schweizer Revue» die detaillierten Datensätze der letzten 36 Volksabstimmungen genauer unter die Lupe genommen. Bei gut einem Drittel aller Volksabstimmungen – 14 von 36 – ergeben die Stimmen aus dem Inland und jene aus dem Ausland ein sehr ähnliches Bild. Die Abweichungen liegen bei wenigen Prozentpunkten. Diese wenig signifikanten Abweichungen erlauben als simple erste Aussage: Oft stimmt die Fünfte Schweiz einfach gleich wie die Schweiz als Ganzes. Einer vertieften Betrachtung unterzogen wurden in der Folge Abstimmungsresultate mit Abweichungen von 5 und mehr Prozentpunkten. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse: Die Verstärkerrolle Die Fünfte Schweiz spielt gerne die Verstärkerrolle. Sie verstärkte bei 14 von 36 Vorlagen den im Inland gereiften Konsens, quittierte also beispielsweise ein Inland-Ja mit einem weit markanteren Ja aus der Ferne. Insbesondere in wertebasierten, gesellschaftspolitischen Fragen wirkte die Fünfte Schweiz in diesem Sinne akzentuierend. So sagte die Fünfte Schweiz überdurchschnittlich stark Ja zur Einführung eines Vaterschaftsurlaubs (Abweichung +18,2 Prozentpunkte), zum Paradigmenwechsel bei der Organspende (+16,2), zur Erhöhung des AHV-Alters für Frauen (+7,5) sowie zur Ehe für alle (+7,1). Ein Nein verstärkten die Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer bei der Initiative zur Begrenzung der Zuwanderung. Ihre Ablehnung lag um gut 15 Prozentpunkte höher als das Nein der Inlandschweiz. Sie war in all diesen Themenfeldern alles andere als eine Gegenkraft. Der Kontrapunkt Bei einem Viertel aller Abstimmungen – bei 9 von 36 – hatten die Abstimmenden im Inland und jene im Ausland das Heu gar nicht auf der gleichen Bühne: Hier stehen klaren Nein-Resultaten im Inland ebenso klare Ja-Resultate in der Fünften Schweiz gegenüber – oder umgekehrt. Hier zeigt sich die Verbindung zum grünen Wahlergebnis von 2019: Die Rolle als Kontrapunkt, als Korrektiv, spielte die Fünfte Schweiz primär bei grünen, ökologischen Fragestellungen. Sie sagte – im Gegensatz zur Schweiz als Ganzes – Ja zur Trinkwasser-Initiative, Ja zum CO₂-Gesetz und Ja zur Initiative gegen Massentierhaltung. Den mit Abstand stärksten Kontrapunkt setzte die Fünfte Schweiz beim CO₂-Gesetz, das 2021 an der Urne scheiterte: Die Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer nahmen das Gesetz mit 72,2 Prozent wuchtig an – eine Differenz von fast 23 Prozentpunkten zum Gesamtresultat. Erstes Fazit: Ein Dreiklang Die Auswertung der 36 Abstimmungen der zu Ende gehenden Legislatur zeigt als grobes Bild: Die Fünfte Schweiz stimmt erkennbar eigenständig ab, ist aber in keiner Weise ein unberechenbares, exotisches und oppositionelles Elektorat, das es zu fürchten gilt. Ihr Profil ist geprägt von einem Dreiklang aus Bestätigen, Verstärken und Gegensteuer geben. Verstärkend bei wertebasierten, gesellschaftspolitischen Fragen; Gegensteuer gebend bei ökologischen Themen, die im Inland einen schweren Stand haben. Zweites Fazit: Keine Vetomacht Und: Die Fünfte Schweiz ist keine Vetomacht. Sie spielte bei keiner der 36 Abstimmungen der zu Ende gehenden Legislatur das entscheidende Zünglein an der Waage. Ihr Gewicht ist zu gering. Die registrierten Stimmberechtigen der Fünften Schweiz machen nur rund vier Prozent des gesamten Stimmkörpers aus. Das reicht aus, um mit einem sehr klaren Votum das Gesamtergebnis geringfügig – um rund +/- 0,5 Prozentpunkte – zu beeinflussen. Meistens führen die Stimmen aus dem Ausland aber zu weit kleineren Verschiebungen. Im Schnitt aller Abstimmungen lag der Effekt bei bloss 0,2 Prozentpunkten. Drittes Fazit: Politisches Gewicht wächst So klein der Einfluss der Fünften Schweiz auch sein mag: Ihr politisches Gewicht wächst. Die Zahl der Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer, die sich ins Stimmregister eintragen lassen, steigt stetig. Und sie steigt relativ betrachtet dreimal stärker als die Gesamtheit der Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer. Gemäss Bundesamt für Statistik waren es per 31. Dezember 2022 gut 227000 Eingetragene. Punkto politisches Gewicht ist die Fünfte Schweiz somit im Begriff, den Kanton Tessin zu überflügeln. Mehr zur Methodik und zur Datengrundlage unter revue.link/abstimmen Die Fünfte Schweiz verstärkt Trends oder setzt Kontrapunkte – aber sie ist nie die Vetomacht Wie haben die Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer in den letzten vier Jahren an der Urne abgestimmt? Die «Schweizer Revue» analysierte die Datensätze der letzten 36 nationalen Volksabstimmungen. Es zeigt sich ein differenziertes Bild. Schweizer Revue / Oktober 2023 / Nr.5 22 Politik

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