Schweizer Revue 5/2023

5 und Regierungsspitzen in die versteckten Felsbunker in den Alpentälern zurückgezogen und von dort aus das Land verteidigt. Die Stilisierung der ewigen Berge zum Hort der Sicherheit und Schönheit funktioniert allerdings nur, solange man sie unter Kontrolle hat. Solange es gelingt, Menschen, Häuser und Verkehrswege dauerhaft vor alpinen Gefahren zu schützen. Plötzlich wird – wie in Brienz – offensichtlich, dass sich Berge bewegen, und zwar eher heftiger als früher. Bringt die unberechenbarer gewordene Geologie den BergMythos zum Bröckeln? «In der Summe eine Dynamisierung» Was geologische Sturzereignisse angeht, empfiehlt Flavio Anselmetti, Professor für Geologie an der Universität Bern, zwei Prozesse auseinanderzuhalten, die oft ineinandergreifen: «Bergstürze, Steinschlag oder Hangrutsche gehören in einem Gebirge wie den Alpen, das sich noch immer hebt, bewegt und gleichzeitig abgetragen wird, zum normalen Geschehen», sagt er der «Schweizer Revue» auf Anfrage. Was nun dazukomme, sei eine Veränderung der Rahmenbedingungen durch die Klimaerwärmung. In der Erdgeschichte habe es solche Veränderungen in den diversen Wärme- und Kältephasen natürlicherweise immer gegeben. Aktuell aussergewöhnlich sei aber die – für die Zeitrechnung von Geologen – sehr rasche Erwärmung. Die Natur reagiere auf äussere Veränderungen, indem sie ein neues Gleichgewicht anstrebe, sagt Anselmetti. Die aktuelle, rapide Erwärmung Wir sehen die Alpen gerne als felsenfestes Bollwerk und Inbegriff dauerhafter Naturschönheit. Nun aber bröckeln sie häufiger – in Form von Bergstürzen, Erdrutschen, Schuttlawinen. Hat die Schweiz die Berge noch im Griff? JÜRG STEINER Im Frühsommer 2023 machte das kleine Dorf Brienz (GR), das über der Albula-Passstrasse in Graubünden liegt, wochenlang Schlagzeilen. Die rund 80 Einwohnerinnen und Einwohner mussten ihre Häuser auf behördliche Anweisung verlassen, weil ein mächtiges Geröllpaket vom Piz Linard auf das darunterliegende Dorf abzurutschen drohte. Schweizer Medien rapportierten jede Bewegung des Bergs minutiös, die Boulevard-Zeitung «Blick» stellte eine Fixkamera auf, über die man online zuschauen konnte, ob der Berg ob Brienz jetzt wirklich kommt. «A Swiss village is warned to flee its shifting mountainside», titelte die «New York Times» dramatisch. Mit dem abrutschenden Geröll sei es wie mit einem Tornado, zitiert der Reporter der New Yorker Zeitung einen Einwohner von Brienz: Die Steine würden dorthin gehen, wo sie wollten, ob ihnen jemand oder etwas im Weg stehe oder nicht. Das Bergland Schweiz, so klang es, gerät in Bedrängnis durch seine Berge. Der Ausnahmezustand von Brienz endete glimpflich. In der Nacht auf den 16. Juni 2023 ging ein Teil des Bergs – eine mächtige Gesteinsmasse, die etwa 300 000 Lastwagen gefüllt hätte – als Schuttstrom ab, drang jedoch knapp nicht bis zu den evakuierten Häusern vor. Verletzt wurde niemand. Wenige Wochen nach dem Niedergang konnten die Menschen wieder in ihr Dorf zurückkehren. Gesteigerte Aufmerksamkeit Trotzdem bleibt es in Brienz unruhig. Denn da ist nicht nur der Berg, der kommt. Sondern auch der Boden, der geht: Das Plateau, auf dem das Dorf steht, gleitet mit einer Geschwindigkeit von rund einem Meter pro Jahr langsam, aber kontinuierlich ab. Seit Jahrzehnten. Hauswände und Strassen reissen auf, Leitungen brechen. Das Erstaunlichste daran: Die Behörden denken trotz Mehrfachbedrohung nicht daran, Brienz aufzugeben. Sie tun alles dafür, dass das Bergdorf dauerhaft bewohnbar bleibt. Ein 40 Millionen Franken teures Labyrinth von Entwässerungsstollen und -bohrungen soll das bewegte Gelände unter dem Piz Linard beruhigen. Bund und Kanton finanzieren kräftig mit, damit die 80 Einwohnerinnen und Einwohner hoffen dürfen, in Brienz eine langfristige Zukunft zu haben. Hort der Sicherheit und Schönheit Dass der bedrohlich rutschende Berg im abgelegenen Albulatal zum grossen Aufreger wurde, ist ein Muster, das Bergsturz-Ereignisse in der Schweiz fast immer begleitet – in den letzten Jahren noch intensiver, weil die Klimaerwärmung der Stabilität im Berggebiet zusätzlich zusetzt. Und damit auch die Medienaufmerksamkeit befeuert. Es geht nicht nur um die objektive Naturgefahr. Sondern meist schwingt unausgesprochen mit, dass bröckelnde Berge auch das schweizerische Selbstverständnis herausfordern. Die RéduitStrategie im Zweiten Weltkrieg hat den Mythos des Alpenriegels als verlässliche, uneinnehmbare Festung des schweizerischen Widerstandsgeists verankert. Im Falle einer Invasion von Hitlers Truppen hätten sich Armee- Schweizer Revue / Oktober 2023 / Nr.5

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