Schweizer Revue 2/2024

MARTINE BROCARD* Aus der Ferne sehen die Dächer der Chalets ganz weich aus, fast wie die sanft hügeligen Graslandschaft, in der sie stehen. Aus der Nähe betrachtet, erklären sich die augenfällige Beschaffenheit und die gerundeten Formen von selbst: Die Dächer sind mit kleinen, dünnen, dicht aneinander aufgereihten Holzbrettchen gedeckt, die sich gegenseitig überlappen. In der Schweiz sind solche «Schindeldächer» typisch für die Freiburger und Waadtländer Voralpen. Anzutreffen sind sie aber auch anderswo. Die Schindelmacherei zählt zu den lebendigen Traditionen der Schweiz. Gleichzeitig beherrschen nur noch wenige diese Handwerkskunst. In der Westschweiz sind rund ein Dutzend Schindelmacher und Schindelmacherinnen am Werk. Die meisten von ihnen waren zunächst Zimmerleute oder Schreiner, bis sie die Leidenschaft in die traditionsreiche Nische führte. Oder die Berufung: Manchmal wollen Meister des Fachs ihr Wissen und Können weitergeben. So war es bei Tristan Ropraz der Fall: Der ausgebildete Zimmermann wurde vor sechs Jahren in die Kunst des Schindelmachens eingeführt. «Wir sind wie Murmeltiere» Wir treffen Tristan Ropraz an einem kühlen Tag in seiner Werkstatt in Sorens (FR) an. Blickt er nach draussen, sieht er den Moléson, einen der Freiburger Hausberge. Blickt der 26-Jährige auf die anstehende Arbeit, sieht er Berge von Holz, das es zu spalten gilt. Mit dem Holzschlägel und dem Spalteisen spaltet er sogenannte Weggen – Schindelklötze – in sechs Millimeter dicke Schindeln. Diese legt er in der Reihenfolge, in der er sie gespalten hat, zusammen und beginnt wieder von vorne. Den ganzen Tag lang. Und die ganze Woche, von Mitte November bis Mitte April. Das ist die Zeit der Herstellung. «Im Winter erholen sich Körper und Geist, man muss nicht mehr überlegen», sagt der traditionsbewusste Mann: «Man spaltet die Weggen, bindet sie zusammen und stapelt sie draussen.» Er sieht in dieser Arbeit nichts Langweiliges oder Mühseliges. Die Handgriffe sind zwar immer gleich, aber jede Schindel ist anders. «Man muss Augen an den Fingern haben, wie mein Lehrmeister sagt.» Die Schwierigkeit besteht darin, das Holz in Laufrichtung der Fasern zu spalten, «Es ist eine Ehre, mit 150 Jahre altem Holz zu arbeiten» Holzgedeckte Dächer – sogenannte Schindeldächer – prägen in den Schweizer Voralpen mancherorts das Bild. Sie sind das Werk einiger weniger leidenschaftlicher Handwerker, die die Tradition der Schindelmacherei lebendig halten. Einer von ihnen ist der Freiburger Tristan Ropraz. um diese nicht zu beschädigen. So bleibt das Holz und damit das zukünftige Dach dicht. Jeder Schlag mit dem Holzschlägel muss sitzen. Die Schindelmacher leben im Rhythmus der Jahreszeiten. «Wir sind wie Murmeltiere. Wenn es kalt wird, ziehen wir uns zurück, und wenn es warm wird, kommen wir wieder heraus», lacht der junge Mann mit dem sonnengebräunten Gesicht. Im Winter werden Schindeln gefertigt, im Frühling und im Herbst geht es auf die Baustellen im Tiefland, im Sommer auf die Baustellen in den Bergen. «In der warmen Jahreszeit nageln wir pausenlos»: Tristan Ropraz am Werk. Seine Kunst besteht darin, das Holz in Laufrichtung der Fasern zu spalten, um es nicht zu beschädigen. So kann es Wasser abhalten. Alle Fotos: Pierre-Yves Massot 14 Reportage

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