Schweizer Revue 1/2022

Schweizer Revue / Februar 2022 / Nr.1 20 nen. Mit demZug erreichtman die Tessiner Stadt in nur 36 Minuten. Was aber ist auf der anderen Seite des Tunnels anders? «Die Mentalität ist lockerer, das Essen ist gut und der Wein auch», sagt die Gemeindepräsidentin. Ihrer Meinung nach sind die Menschen im Tessin auch lebhafter als ihre Landsleute weiter nördlich: «Im Tessin wird gestreikt, hier wartet man.» Dank der Verhandlungen mit den SBB wird sich ihrer Einschätzung nach dennoch einiges ändern. So wurde vertraglich festgelegt, dass das SBB-Gelände wieder in die Hände der Gemeinde übergeht. Ausserdem stehen Garantien über den Erhalt der Arbeitsplätze bei den SBB auf dem Programm. In Bodio blieb der erhoffte Aufschwung aus Am andern Tunnelende, in Bodio, sind die Rollläden im Albergo Stazione heruntergelassen. «Dasmache ich, damit sich keinGraphitstaub absetzt», erklärt die Wirtin Tiziana Guzzi-Batzu, und zeigt auf die nahegelegene Fabrik. Hier ist das ständige Surren der Lastwagen zu hören, die über die Autobahn A2 rasen. Auch in der Leventina hatte der Bau des Alp Transit, wie die Einheimischen den Tunnel nennen, Hoffnungen geweckt. Das Bauwerk, so glaubte man, würde der Wirtschaft der Region wieder auf die Beine helfen, die von der Inbetriebnahme der Gotthard-Autobahn 1980 und der Schliessung des Stahlwerks in Monteforno 1994 schwer getroffenwordenwar. «Der erhoffte Aufschwung hat jedoch nie stattgefunden», sagt Stefano Imelli, der seit 2016 Gemeindepräsident von Bodio ist. Dennoch erinnert er sichmit einer gewissen Rührung an die Einweihung des Tunnels an der Seite von François Hollande und Angela Merkel. Imellis Vorgänger Marco Costi zieht eine ernüchternde Bilanz: «Wir haben nur wenig bekommen. Die Burgergemeinde musste einige Hektar Land an den Bund abtreten. ImGegenzug erhielten wir Smog, Staub und Lärm.» In diesem Zeitraummachten in der Gemeinde zwei Bäckereien zu. Die Zeiten, in denen die Gemeinde die meisten Restaurants pro Kopf im Tessin hatte, sind lange vorbei. Das einzige Positive ist, dass die Luftverschmutzung und der Lärm mittlerweile zurückgegangen sind. Stefano Imelli erinnert sich an den Verkehr auf der Gotthardpassstrasse. Es gab drei Brücken, auf denen die Kinder sie überqueren konnten, um in die Schule zu gelangen. Die Fabriken im oberhalb des Dorfes gelegenen Industriegebiet beschäftigen zahlreiche Arbeitskräfte. Diemeisten kommen aus Norditalien und Sardinien. Ihre Freizeit verbringen sie auf Veranstaltungen, die von katholischen Verbänden, den Pfadfindern oder vomFussballverein organisiert werden. Das Gemeindeleben floriert also. «Hier wird nicht zwischen uns und euch unterschieden», betont der Gemeindepräsident. Bodio hat bereits erfolgreich um die Wiedereröffnung seines Bahnhofs gekämpft. Seit 2018wird er wieder angefahren. Nun fordert die Gemeinde, dass die SBB bestimmte Schnellzüge auch in Biasca halten lassen. «Sobald es einen Bahnhof gibt, passiert auch etwas», sagt Marco Costi. In den Norden zieht es die Einwohner von Bodio kaum – und Stefano Imelli kennt zumBeispiel seine Amtskollegin in Erstfeld gar nicht. Arbeiten im heissen Tunnel Für manche gehört der Tunnel zum Alltag. So auch für Cédric Jacob, der als Zugführer bei den SBB arbeitet und technisches Personal in die beiden Röhren des Basistunnels begleitet. Sein 22Meter langes Schienenfahrzeug ist mit einem klimatisierten Wohnmodul mit Esszimmer, Kaffeemaschine und WC ausgestattet. Die Eingriffe der Ingenieure und Arbeiter im Tunnel finden nachts statt. Je nach Jahreszeit schwanken die Temperaturen im Tunnel zwischen 32 und 44 °C. Ausserdem herrscht eine sehr hohe Luftfeuchtigkeit. Aufgrund der Risiken müssen alle ständig wachsam sein. Und doch spricht Jacob von Routine: «Die Experten von den SBB haben in diesem Tunnel ein weltweit einzigartiges Fachwissen entwickelt.» Der seit 2016 im Tessin lebende Walliser versteht übrigens die Herausforderungen für seineWahlheimat sehr gut: «Die Menschen hier sind Bergbewohner. Sie haben gelernt, in einer Umgebung zu leben, die rau sein kann und in welcher der Platz knapp ist.» Reportage Das Nordportal des 57 Kilometer langen Gotthard- Basistunnels bei Erstfeld. Darüber türmt sich das Alpenmassiv auf. Foto Keystone Alte Gotthard-Eisenbahnstrecke Neuer Basistunnel Bellinzona Biasca Luzern Arth-Goldau Brunnen Altdorf Erstfeld Göschenen Airolo Bodio Locarno

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