Schweizer Revue 1/2022

Die Staumauern in den Alpen sorgen für Strom – und für Spannung Maggi, die Würze aus der Schweiz, revolutionierte in den Küchen rund um die Welt den Alltag Das Bergdorf Albinen wirbt mit dem Geldbeutel um neue Einwohnerinnen und Einwohner SCHWEIZER REVUE Die Zeitschrift für Auslandschweizer Februar 2022 Herausgeberin der «Schweizer Revue» ist die Auslandschweizer-Organisation (ASO).

Schweizer Revue / Februar 2022 / Nr.1 Wissen Sie, wie sich der Auslandschweizerrat für die Schweizerinnen und Schweizer imAusland einsetzt? Nehmen Sie per Live-Stream an seiner nächsten Sitzung am Samstag, 12. März 2022, teil, um mehr zu erfahren. Weitere Informationen finden Sie auf der Website der Auslandschweizer-Organisation: www.swisscommunity.org. © Adrian Moser Unsere Partner:

Schweizer Revue / Februar 2022 / Nr.1 3 Die 1932 fertiggestellte Staumauer namens «Spitallamm» verriegelt in den Berner Alpen eine schmale Felsenkluft. Hinter ihr liegt der fünf Kilometer lange Grimselsee. Inzwischen ist die Mauer ein in die Jahre gekommenes, 114Meter hohes Denkmal aus 840000 Tonnen Beton: ein Denkmal aus der Epoche, als die Schweiz ihren erwachenden Energiehunger stillte, indem sie vielerorts Gebirgsflüsse zu Seen staute und derenWasser imTal Turbinen auf Hochtouren bringen und Stromerzeugen liess. Heute steht die Staumauer am Grimselsee nicht so ungestört da, wie dies unser Titelblatt vermuten lässt. Unmittelbar vor der altenwird eine neue, schlankere Bogenmauer hochgezogen. Ist sie – wohl in drei Jahren – fertig gebaut, wird die alte Staumauer einfach überflutet. Dannwird sich das neue Bauwerk gegen denmächtigenDruck des Sees stemmen. Und der Grimselsee bleibt weitere Jahrzehnte verlässlicher Teil der Stromproduktion. Allerdings bleiben in der Schweiz spektakuläreWasserbauprojekte selten so unwidersprochenwie das eben geschilderte. Entstehen auf demReissbrett neue Talsperren oder wird erwogen, weitere frei fliessende Flüsse für die Stromerzeugung zu nutzen, ist heftige Opposition seitens des Natur- und Landschaftsschutzes gewiss. Der Blick auf die Wasserkraftnutzung ist über die Jahre kritischer geworden. Anders als in den Pionierjahren stehen heute auch deren Kehrseiten im Fokus: Wer Dämme baut, greift in grossem Stil in die Natur ein, versenkt ganze Landschaften, entzieht den FlüssenWasser, verändert die hydrologischen Begebenheiten. Unser aktueller Schwerpunkt (ab Seite 6) zeigt: Genau deshalb sind in der Schweiz dem Ausbau der Wasserkraft Grenzen gesetzt. Das ist von Belang, denn die Schweiz will vermehrt auf erneuerbare, CO₂-freie Energie – Wasser, Wind und Sonne – setzen. Der Umbau ist aber geprägt von erheblichen Reibungen. Während die Schweiz viel Routine im Bau grosser Kraftwerke jeder Art hat, verläuft beispielsweise der Ausbau der dezentralen, kleinmassstäblichen Solarenergienutzung schleppend. Der Unterschied zwischenWissen undHandeln ist da besonders gross. So haben zahlreiche Schweizer Gemeinden akkurat errechnet, wie viel Solarenergie auf die bereits bestehendenDächer einstrahlt. Es ist oftmehr Energie, als die Bewohnerinnen und Bewohner dieser Gemeinden brauchen können. Trotzdemdarf man auch in diesen Gemeinden Neubauten hochziehen, ohne dass dabei Solarzellen aufs Dach kommen. Vor demHintergrund solcher Beispiele wird verständlicher, warumder Applaus für neue Staudämme in der Schweiz sehr lau geworden ist. MARC LETTAU, CHEFREDAKTOR Editorial 5 Briefkasten 6 Schwerpunkt Die Nutzung der Wasserkraft erfüllt die Schweiz mit Stolz – und Zweifel 10 Wirtschaft Die Flüssigwürze Maggi ist eine kulinarische Erfolgsgeschichte 12 Gesellschaft Das Bergdorf Albinen lässt sich neue Dorfbewohner etwas kosten 14 Politik Das Ja zur Pflegeinitiative ist für die Betroffenen ein historischer Erfolg 16 Schweizer Zahlen Nachrichten aus Ihrer Region 17 Literatur Iris von Rotens Kampf für die Rechte der Schweizer Frauen 18 Schweiz extrem Erstfeld–Bodio: verbunden durch den längsten Eisenbahntunnel der Welt 21 Gesehen Das Game «Mundaun» bietet: Schweizer Horror, handgemacht 25 Swisscommunity-News 25 Aus dem Bundeshaus 30 Gelesen / Gehört 31 Herausgepickt / Nachrichten Inhalt 840000 Tonnen Beton Titelbild: Die über 90 Jahre alte Staumauer am Grimselsee im Berner Oberland. Foto: 13 Photo AG, Claudio Bader Herausgeberin der «Schweizer Revue», dem Informationsmagazin für die Fünfte Schweiz, ist die Auslandschweizer-Organisation.

Schweizer Revue / Februar 2022 / Nr.1 zkb.ch/auslandschweizer Bedürfnisse sind verschieden – deshalb behandeln wir alle Auslandschweizer wie Unikate. Wir bieten Ihnen eine persönliche und professionelle Betreuung, die höchsten Qualitätsansprüchen genügt. SCHWEIZER REVUE  SCHWEIZER REVUE  «SCHWEIZER REVUE» – MIT DREI KLICKS ZUR APP! Holen Sie sich die «Schweizer Revue» gratis als App! Es ist ganz einfach: 1. Öffnen Sie auf Ihrem Handy oder Tablet den Appstore 2. Geben Sie den Suchbegriff «Swiss Review» ein 3. Klicken Sie auf Laden und Installieren – fertig! Die Staumauern in den Alpen sorgen für Strom – und für Spannung Maggi, die Würze aus der Schweiz, revolutionierte in den Küchen rund um die Welt den Alltag Das Bergdorf Albinen wirbt mit dem Geldbeutel um neue Einwohnerinnen und Einwohner SCHWEIZER REVUE Die Zeitschrift für Auslandschweizer Februar 2022 Herausgeberin der «Schweizer Revue» ist die Auslandschweizer-Organisation (ASO). Die Staumauern in den Alpen sorgen für Strom – und für Spannung Maggi, die Würze aus der Schweiz, revolutionierte in den Küchen rund um die Welt den Alltag Das Bergdorf Albinen wirbt mit dem Geldbeutel um neue Einwohnerinnen und Einwohner SCHWEIZER REVUE Die Zeitschrift für Auslandschweizer Februar 2022 Herausgeberin der «Schweizer Revue» ist die Auslandschweizer-Organisation (ASO).

Schweizer Revue / Februar 2022 / Nr.1 5 Briefkasten Priya Ragu erobert die Musikwelt Vielen Dank für Ihren Artikel über die schweizerisch-tamilische Künstlerin Priya Ragu. Jeder Erfolg von Migrant*innen oder ihrer Kinder in der Schweiz – ob Flüchtlinge oder nicht – ist ein weiterer Schritt hin zur Toleranz in unserer Gesellschaft. Der Fall von Frau Ragu ist für uns besonders interessant. RAOUL IMBACH; SCHWEI ZER BOTSCHAFT, SRI L ANKA Es ist schön, wenn sich jemand für die Musik einsetzt, egal um welche Art von Musik es sich handelt. Du wirst deinen Traum erfüllen und ein Musikfestival in Jaffna gründen. Nur weiter so auf deinemWeg zumGlück! DIDIER MEHENNI , CRANS-MONTANA , SCHWEI Z Eine wunderschöne Reise, auf der sie sich befindet. Die Musik, das positive Voranschreiten und die Inklusivität. Mögen wir alle unsere inneren Werte gegenseitig erkennen und das Gemeinsame in unserer Menschlichkeit sehen, das uns über alle unsere Unterschiede hinweg verbindet. LOUISE GOGEL, VERMONT, USA Die Waffenschmiede Schweiz in der Defensive Die Schweiz sollte mehr sich darum kümmern, wo sie Waffen für ihre eigene Armee kauft – und weniger um die Frage der SchweizerWaffenausfuhr. DieKriegsmaterialexporteder Schweiz sind schlicht zu unbedeutend. Wie Sie schreiben, darf die Schweiz keinMilitärmaterial in Länder ausführen, die Krieg führen, andere Länder besetzen und Menschenrechte missachten. Und was gilt beim Einführen? Wie kann es sein, dass ein angeblichneutrales Landwie die Schweiz israelische Drohnen kauft sowie F-35-Kampfjets der USA? Im Fall der Anschaffung des F-35 ist es zusätzlich so, dass die Flugzeuge eigentlich unter US-Kontrolle bleiben. Die Schweiz bezahlt jedoch den vollen Kaufpreis. WALTER GASSER, USA Der Goldschakal wandert in die Schweiz ein Danke für den tollen Bericht. Ich freue mich jedes Mal, wenn eine neue Tierart in der Schweiz auftaucht. Das zeigt immer wieder, wie flexibel gewisse Tierarten sind. Mit so viel bewirtschaftetemLand und der weiträumigenÜberbauung haben die Kleinen leider keine Chance. Unnatürliche Lebensräume bei Neuüberbauungen nehmen ihnen den Lebensraumweg. URSUL A DOUGHT Y, USA Die paradoxe Schweizer Liebe zum Bargeld Auch bei diesem Thema werden die Bedürfnisse der Auslandschweizerinnen und -schweizer völlig ausgeblendet. Es wäre hilfreich, wenn unsere Nationalbank mit Bankinstituten anderer Staaten einAbkommen zur Übernahme der aus demVerkehr gezogenenNoten getroffen hätte. Viele Auslandschweizer haben zumTeil nicht unerhebliche Beträge im eigenen Tresor gehortet, da ihnen bekannterweise die Schweizer Banken die Konten aufgelöst haben. Denkbar auch andereModelle für den Umtausch im jeweiligen Land. Es ist zum Teil nicht möglich, zum Teil unzumutbar, dass die Auslandschweizer mit ihrem Geld in die Schweiz reisen müssen. HANS PETER STEINER, MAKOTRASY, TSCHECHIEN Den Hinweis zu den Banknoten habe ich von der «Schweizer Revue» am 15. Dezember erhalten, doch ungültig geworden sind die Noten im April. Ein Schildbürgerstreich? Wir haben immer einige Franken in Cash, um bei der Ankunft in Zürich Kleinigkeiten gleich bezahlen zu können. Doch jetzt konnten wir wegen der Corona-Pandemie gar nicht reisen. LUTZ VENZL AFF IRVINE, CAL I FORNIA , USA IMPRESSUM: «Schweizer Revue», die Zeitschrift für die Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer, erscheint im 48. Jahrgang in deutscher, französischer, englischer und spanischer Sprache in 14 regionalen Ausgaben und einer Gesamtauflage von rund 431 000 Exemplaren (davon 253 000 elektronische Exemplare). Regionalnachrichten erscheinen viermal im Jahr. Die Auftraggeber von Inseraten und Werbebeilagen tragen die volle Verantwortung für deren Inhalte. Diese entsprechen nicht zwingend der Meinung der Redaktion oder der Herausgeberin. REDAKTION: Marc Lettau, Chefredaktor (MUL); Stéphane Herzog (SH); Theodora Peter (TP); Susanne Wenger (SWE); Konsularische Direktion, Abteilung Innovation und Partnerschaften, Rubrik «Aus dem Bundeshaus». REDAKTIONSASSISTENZ: Sandra Krebs ÜBERSETZUNG: SwissGlobal Language Services AG; GESTALTUNG: Joseph Haas POSTADRESSE: Herausgeber/Sitz der Redaktion/Inseraten-Administration: Auslandschweizer-Organisation, Alpenstrasse 26, 3006 Bern, Schweiz. Tel. +41 31 356 61 10; Bankverbindung: CH97 0079 0016 1294 4609 8 / KBBECH22 E-MAIL: revue@swisscommunity.org DRUCK & PRODUKTION: Vogt-Schild Druck AG, 4552 Derendingen. Alle bei einer Schweizer Vertretung angemeldeten Auslandschweizerinnen und -schweizer erhalten das Magazin gratis. Nichtauslandschweizer können das Magazin für eine jährliche Gebühr abonnieren (CH: CHF 30.–/Ausland: CHF 50.–). Abonnenten wird das Magazin manuell aus Bern zugestellt. www.revue.ch REDAKTIONSSCHLUSS dieser Ausgabe: 8. Dezember 2021 ÄNDERUNGEN in der Zustellung teilen Sie bitte direkt Ihrer Botschaft oder Ihrem Konsulat mit. Die Redaktion hat keinen Zugriff auf Ihre Daten. Anmerkung der Redaktion: Verschiedene Leserinnen und Leser befürchteten, ihr Guthaben an Schweizer Banknoten der Serie 8 sei nun wertlos. Das ist nicht der Fall: Diese Noten können weiterhin bei der Schweizerischen Nationalbank und ihren Filialen umgetauscht werden. Das Merkblatt dazu: revue.link/banknoten

Schweizer Revue / Februar 2022 / Nr.1 6 Schwerpunkt JÜRG STEINER Schwankt der schmale Boden unter den Füssen im scharfen Wind oder sind es die Berge rundherum, die nicht stillstehen?Man ist sich auf demGang über die windexponierte Hängebrücke, die sich in schwindelerregenden 100MeternHöhe über das grüne Triftwasser im Berner Oberland spannt, nie ganz sicher, was in Bewegung ist und was nicht. Die Triftbrücke befindet sich oberhalb von Innertkirchen (BE) in einem Seitental auf 1700 Metern über Meer in einer der stillstenBerglandschaften der Schweiz. Wenn man sich getraut, mitten auf der 170 Meter langen Hängebrücke stehenzubleiben, blicktman in einenwilden, wassertriefendenGebirgskessel, in dem weit oben die Reste des einst mächtigen Triftgletschers hängen. Es ist ein Ort, an dem man sich viele Fragen stellen kann – weil sich hier die Konfliktdramaturgie der Wasserkraftnutzung wie in einem natürlichen Amphitheater präsentiert. Plötzlich ein neues Becken Die Klimaerwärmung hat den Triftgletscher, der den Kessel einst ausfüllte, rasant zurückschmelzen lassen. Die entstandene Schlucht gefährdete den Zustieg zur Trifthütte des Schweizer Alpen-Clubs, weshalb man 2005 mit der Hängebrücke Abhilfe schuf. Aber: Der Gletscherrückzug hat auch eine unberührte Gebirgslandschaft nutzen undmit einer 177Meter hohen Staumauer einen Speichersee schaffen, der Elektrizität für rund 30000Haushalte liefert. DieDilemmata liegenübers Kreuz: Die KWO wollen Strom ohne CO2Emissionen herstellen, wie er zur Reduktion des Treibhausgasaustosses notwendig ist, opfern dafür aber unangetastete Gebirgsnatur. Deshalb blockiert eine kleine, hartnäckige Naturschutzorganisation den Stausee mit Einsprachen, nimmt aber in Kauf, dass die Schweiz zu emissionsreichen Gaskraftwerken greifen würde, um eine allfällige Stromversorgungslücke zu überbrücken. Das wiederum gefährdet das Ziel, die Klimaerwärmung zu bremsen. Es scheint, als führe keine Argumentation aus der Sackgasse.Wie kam es so weit, dass die Wasserkraft, die einst das Sauberkeitsgütezeichen des selbsternanntenWasserschlosses Schweiz trug, um ihre Reputation als ökologische Energiequelle kämpfen muss? Treibstoff der Hochkonjunktur Weil der Schweiz Kohle als Energiequelle fehlte, gehörte dieWasserkraft stets zur energiewirtschaftlichen Grundausstattung. Richtig in dieDNA des Landes sickerte die Wasserkraft aber in der Hochkonjunkturphase nach dem Zweiten Weltkrieg ein. In frenetischem Tempo möblierte man die Alpentäler mit gewaltigen Staumauern, und diemit den Speicherseen Die verlorene Ehre der Wasserkraft Die Wasserkraft ist das historische Rückgrat der schweizerischen Stromversorgung. Heute, für die Energiewende, gälte das erst recht. Aber sie hat sich in den letzten Jahrzehnten ein Imageproblem eingehandelt, das sie erst wieder loswerden muss. freigelegt, die Seltenheitswert hat. Gleichzeitig weckt das zuvor nicht dagewesene Gletscherseebecken Begehrlichkeiten. Die Kraftwerke Oberhasli (KWO), das lokale Wasserkraftunternehmen, möchten die neuen natürlichen Voraussetzungen Wird in der Schweiz der Strom knapp? Die Frage, ob künftig stets genügend Strom verfügbar sei, wühlt die Schweizer Öffentlichkeit zurzeit auf. Dass die Stromnachfrage weiter wächst, scheint alternativlos: Der Energiekonzern Axpo etwa rechnet mit einem Plus von 30 Prozent bis 2050. Plausibel ist, dass die «Energiewende» – die gleichzeitige Abkehr von Atomkraft und fossilen Energieträgern – das Nachfragewachstum befeuert. Wärmepumpen statt Ölfeuerungen beim Heizen, E-Mobile statt Benzinautos im Verkehr bedeuten: Weniger CO2-Ausstoss, aber mehr Stromverbrauch. Wie weit Effizienzgewinne oder Verhaltensänderungen die Nachfrage dämpfen, ist schwer abzuschätzen. Eine neue Studie aus dem Bundesamt für Energie zeigt, dass ab 2025 im Winter kurzzeitige Stromversorgungslücken drohen, weil die Nachfrage nach Strom das Angebot übersteigt. Mit seinem Entscheid, die Verhandlungen über ein Rahmenabkommen mit der EU abzubrechen, spitzt der Bundesrat die Situation weiter zu. Die EU lehnt als Folge davon das bereits ausgehandelte Stromabkommen ab, was es der Schweiz – Stand heute – erschweren wird, sich notfallmässig auf dem europäischen Strommarkt einzudecken.

Schweizer Revue / Februar 2022 / Nr.1 7 Der Triftgletscher ist dahingeschmolzen, eine neue, unberührte Gebirgslandschaft ist freigelegt. Der lokale Energieversorger möchte hier eine Staumauer hochziehen und Strom gewinnen. Archivbild Keystone (2009) miden vonCheops, und alleinmit dem Gewicht ihres Betonbauchs hält sie den kilometerlangen See zurück.Was, wenn etwas bricht? Befeuert wurde die Ehrfurcht vor der Wasserkraft durch illustre Ingenieure, die den Staumauerbau als Hochleistungsdisziplin betrieben. Der Tessiner Giovanni Lombardi etwa – Vater des Mitte-Politikers Filippo Lombardi, der unter anderem Präsident der Auslandschweizer-Organisation ist – machte sich 1965 einen Namen mit dem elegant gebogenen Verzasca-Staudamm, der wegen seinem schlanken Design Standards setzte. Als James Bond in der Eröffnungsszene des 1995 veröffentlichten Films «Goldeneye» am Bungy-Seil über die Talsperre in die Tiefe sprang, wurde die Mauer zur Action-Ikone. Lombardi, der später den GotthardStrassentunnel baute, blieb bis zu seinem Tod 2017 eine Referenzfigur für spektakuläre Bauwerke. Wasserzins als nationaler Kitt Eher unbemerkt festigte die Wasserkraft neben demHeimatmythos auch den nationalenZusammenhalt. Denn: Für das gestaute Wasser fliesst ziemlich viel Geld zurück in die Berge. Die Standortgemeinden der Kraftwerke werden für die Nutzung ihrer Ressource mit Wasserzinsen entschädigt – insgesamt mit rund einer halbenMilliarde Franken pro Jahr. Man kannWasserzinsen als Transferzahlungen verstehen aus demwirtschaftsstarken Mittelland ins Berggebiet, das in seine Infrastruktur investieren und der Abwanderung entgegenwirken kann. Wie eng die Wasserkraft die Schweiz über den Stadt-Land-Graben verschränkt, zeigt geschaffene stabile Stromversorgung wurde zumRückgrat desWirtschaftswachstums. Die alpine Schweiz bewahrte sich mit kühnen Bauwerken im unwegsamen Berggebiet ein Stück energetische Unabhängigkeit. Tatsächlich stammten 1970, bevor die ersten Atomkraftwerke ans Netz gingen, rund90Prozent des Schweizer Stroms aus Wasserkraft. Es gehörte im Boomgefühl der 1970er-Jahre zum Repertoire von Familienausflügen, imAuto Richtung Wallis zu fahren, nach Sion zum Beispiel und dann hoch ins Val d’Hérémence zur überwältigenden Talsperre der Grande Dixence. Man standmit mulmigemGefühl am Fuss der 285MetermessendenMauer, noch heute das höchste Bauwerk der Schweiz. Sie wiegt unvorstellbare 15 Millionen Tonnen, mehr als die Pyra­

Schweizer Revue / Februar 2022 / Nr.1 8 Schwerpunkt sich exemplarisch imBündner Bergell: Die Elektrizitätswerke Zürich, die in den 1950er-Jahren den Albigna-Staudammbauten, sind bis heute einer der grössten Arbeitgeber im Tal. Heftige Abwehrreflexe Gelegentlich geht ob der mythischen Überhöhung der Wasserkraft jedoch vergessen, dass ihr Ausbau schon früh heftige Abwehrreflexe auslöste. Legendär ist das Bündner Dorf Marmorera, das sich 1954 erst nachmehreren Enteignungsverfahren dem Untergang im gleichnamigen Stausee fügte. Bereits ab 1920 kursierten Pläne, das gesamteUrnerUrserental in einem Stausee zu versenken. NachdemZweiten Weltkrieg, als das Projekt wegen Versorgungsengpässen vorangetriebenwurde, kames inAndermatt zu einemgewalttätigenVolksaufstand, der das Ende des Vorhabens beschleunigte. «AKW-Filialen in den Alpen» Wennman verstehenwill, warumdie Wasserkraft ihren Nimbus einbüsste, ist jedoch 1986 das Schlüsseljahr. Nach jahrelangem Ringen beerdigten die Kraftwerke Nordwestschweiz ihren Plan, die Greina-Ebene zwischen Graubünden und Tessin zu fluten und als Speichersee zu nutzen. Eine Koalition von wachstumskritischen Natur- und Landschaftsschützern aus der ganzen Schweiz mit der lokalen Opposition hatte die abgelegene Hochebene auf die Traktandenliste der nationalen Politik gebracht. Die Greinawurde zumSymbol für ökologische Grundsatzkritik am Profitkreislauf der Wasserkraft, die eine Liaison mit der umstrittenen Kernenergie eingegangen war. Das kritisierte Prinzip funktioniert so: Günstiger, in Randzeiten nicht benötigter Atomstrom wird benutzt, Wasser hoch in die Speicherseen zu pumpen. Die Kraftwerkbetreiber können so während Nachfragespitzen hochpreisigen Strom herstellen und maximieren ihrenGewinn. Legitimieren diese profitorientierten «AKW-Filialen in denAlpen», wie Kritiker zuspitzen, die Preisgabe der letzten natürlichen Gebirgs- und Flusslandschaften? Grenzen des Wachstums? An dieser existenziellen Frage reiben sich Befürworter und Gegnerinnen des Wasserkraftausbaus seit über 30 Jahren. Mitunter, wie beimvorerst gescheiterten Versuch, die Mauer des Grimselstausees zu erhöhen, führt die Auseinandersetzung bis vor Bundesgericht. 95 Prozent des nutzbaren Wasserkraftpotenzials werden laut der UmweltorganisationWWF inder Schweiz heute bereits genutzt. Obschon der Bund derWasserwirtschaft schärfere ökologische Auflagen in Form von Restwassermengen macht, hält der WWF die Belastungsgrenzen für «längst überschritten»: 60 Prozent der einheimischen Fisch- undKrebsarten seien ausgestorben oder vom Aussterben bedroht. TrotzdemsindHunderte Aus- und Neubauten oft kleiner Wasserkraftwerke geplant. Das grösste und deshalb amheftigsten debattierte von ihnen soll im neuerdings freigelegten Vorfeld des geschrumpften Triftgletschers entstehen. Erhöhter Leistungsdruck Im Vergleich zur Greina-Epoche hat sich die Konfliktsituation weiter verschärft. Zwei neue Problemfelder sind hinzugekommen. Erstens: Klimaerwärmung und Gletscherschmelze führen dazu, dass sich die höchsten Wasserabflüsse jahreszeitlich vom Sommer in Richtung Frühjahr verschieben. Zweitens: Der nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima gefällte politische Entscheidder Schweiz, die Atomkraftwerke sukzessive abzustellen, sie mit erneuerbaren Energiequellen zu ersetzen und damit das Schwerer als die Cheops-Pyramide: Die mächtige Staumauer Grande Dixence. Sie ist das höchste Bauwerk der Schweiz. Foto Keystone

Schweizer Revue / Februar 2022 / Nr.1 9 Netto-Null-Ziel beim Treibhausgasaustoss zu stützen, erhöht den Leistungsdruck auf dieWasserkraft. Ist es überhaupt möglich, der Wasserkraft, die zurzeit knapp 60 Prozent der schweizerischen Stromproduktion sicherstellt, noch mehr abzugewinnen, ohne die ökologischen Minimalansprüche zu verraten? «Grundsätzlich ja», sagt Rolf Weingartner, emeritierter Professor für Hydrologie an der Universität Bern. Er zerlegt das Problem in seine Einzelteile und fügt diese neu zusammen, um die emotionale Auseinandersetzung nüchtern zu fassen. Wasserkraft als neuer Service public? Da dieWasserkraftpraktischCO2-frei Energie produziere, bleibe sie als zentrale Stromquelle vor allem im Winter, wenn etwa die Solarstromanlagen weniger produktiv sind, unabdingbar, damit Versorgungsengpässe verhindert werden. Gleichzeitig rücke die Klimaerwärmung die Bedeutung der Stauseen in ein neues Licht, erläutert Weingartner. Denn: Hydrologisch bedeute das Abschmelzen der Gletscher, dassWasserspeicher, die vor allem im Sommerhalbjahr für hohe Abflüsse gesorgt haben, künftig fehlen. Die Folge: Es wird imSommer zuWasserengpässen kommen. Insgesamt stehen zwar inZukunft über das Jahr gesehen immer noch ähnlich grosseWasserabflussmengen wie heute zur Verfügung. Weil jedoch die Gletscher als Speicher wegfallen und auch der Einfluss der Schneeschmelze abnehme, verteilen sich die Abflüsse ungünstiger übers Jahr. «Das heisst», folgert Weingartner, «wir müssen in den Alpen die natürlichen Speicher mit künstlichen ersetzen.» Mit andern Worten gesagt: Die bestehenden Speicherseen der Kraftwerkunternehmen erhalten eine zusätzliche Funktion für das nachhaltigeWassermanagement inZeiten des Klimawandels, indem sie in den heissen und trockenen Sommermonaten etwa die landwirtschaftliche Bewässerung alimentieren. Abgesehen davonwerden an Staumauern, wie etwa am Muttsee im Glarnerland, mitunter grosse Fotovoltaikanlagen installiert, die ganzjährig Strom produzieren, weil sie über der Nebelgrenze liegen. Angesichts dieser neu entdeckten Multifunktionalität sieht RolfWeingartner die Wasserkraft «letztlich als Service public für die Energieerzeugung, aber auch für die nachhaltige Deckung des Wasserbedarfs, zu der auch ökologisch vertretbare Restwassermengen gehören». So gesehen sei es eine unproduktive Routineübung, die Auseinandersetzung zwischen ökologischen und ökonomischen Interessen an jedemeinzelnen Stauseeprojekt einzeln durchzuexerzieren. Er plädiert deshalb für einen neuen, ganzheitlichen Zugang, der sich auch darum aufdränge, weil die Klimaerwärmung dazu führt, dass in den alpinen Gebieten im Zuge des Gletscherrückgangs über 1000 neue Seen entstehen, die wasserwirtschaftliches Potenzial haben. «Wir sollten uns dazu durchringen, sogenannte Vorranggebiete zu bestimmen», sagt Weingartner. Also den Alpenraum unter Führung des Bundes in unterschiedliche Zonen zu gliedern, in denen je die Energieproduktion, die Ökologie, der Tourismus oder die Landwirtschaft den Vorrang haben. Damit würde man die Interessen räumlich entflechten und Konflikte präventiv entschärfen. RolfWeingartner ist sich bewusst, dass seine wasserwirtschaftliche Befriedungs-Vision in der schweizerischen Realpolitik einen schweren Stand hat. Vorerst. Solange die Schweiz allerdings ein Land bleibt, dessen Stromverbrauch unaufhaltsam steigt, müsste sie eigentlich darauf einsteigen. Für die Schweizer Wasserkraftnutzung ist die Greina-Ebene zwischen Graubünden und Tessin der Ort der Wende: Naturschützer verhinderten deren Überflutung. 1986 wurde das Kraftwerksprojekt aufgegeben. Foto Keystone

Schweizer Revue / Februar 2022 / Nr.1 setzte auf neue Formen wie Plakate, Schilder, Punktesammelsysteme mit Prämien, Sammelbildchen oder Degustationen. Anfangs textete der Firmenchef auch die Reklamebotschaften noch selber. Ende 1886 stellte er dafür den damals noch unbekannten Dichter Frank Wedekind ein. Dieser THEODORA PETER Als der 23-jährige Julius Maggi 1869 die väterliche Getreidemühle im zürcherischen Kemptthal übernahm, steckte die Müllereibranche in der Krise. Mit der Industrialisierung, dem Bau vonDampfschiffen und Eisenbahnen gelangte immer mehr günstiges Getreide aus dem Ausland in die Schweiz. Maggi musste sich etwas Neues einfallen lassen und erfand zunächst die «Leguminose»: ein Suppenmehl aus eiweissreichenHülsenfrüchten, welches die Volksernährung verbessern und den Fabrikarbeitern eine nahrhafte Mahlzeit bieten sollte. Die neuartigen «Kunstsuppen» fanden beim Zielpublikum aber wenig Zuspruch. Die Unterschicht blieb vorerst bei Kartoffeln und Kaffee-Ersatz. Das Bürgertum wiederum rümpfte die Nase über die fade Armenmahlzeit mit dem kuriosen Namen. Der Durchbruch kam1886mit der Erfindung eines Bouillon-Extrakts, das als Maggi-Würze weltberühmt werden sollte. Dank der Würze, die auf pflanzlicher Basis einen Fleischgeschmack erzeugte, verkauften sich auchdie Suppendeutlich besser. Julius Maggi war nicht nur ein leidenschaftlicher Tüftler: «Er erkannte auch die Wichtigkeit der Vermarktung», unterstreicht die Historikerin Annatina Tam-Seifert, welche die Anfänge der Schweizer Lebensmittelindustrie erforscht hat. «Weil die Kundinnen und Kunden Fertigprodukte nicht mehr berühren und daran riechen konnten, spielte die Verpackung eine wichtige Rolle bei der Vermittlung.»Maggi war diesbezüglich ein Pionier. Die Flasche für die Flüssigwürze mit dem gelb-­ roten Etikett entwarf er gleich selbst. An deren Design wurde bis heute nur wenig verändert. Ein Dichter als Werbetexter Maggi richtete als einer der Ersten eine eigene Werbeabteilung ein und Wie Julius Maggi die Küchen eroberte Ob als Flüssigwürze, Bouillonwürfel oder Suppenpulver: Die Marke Maggi ist eine Erfolgsgeschichte, die vor über 150 Jahren im Kanton Zürich ihren Anfang nahm. Die Würze revolutionierte die Essgewohnheiten weltweit. Wirtschaft 10 Bis heute die Ikone eines Produkts: Die Maggi-Würze ist ohne die Maggi-Flasche nicht denkbar. Foto Archives Historiques Nestlé, Vevey

Schweizer Revue / Februar 2022 / Nr.1 11 seinObjekt «Ich kenne keinWeekend». Der Maler Pablo Picasso wiederum verewigte den ikonischen Bouillonwürfel 1912 in seinem Bild «Paysage aux affiches». DenWürfel hatteMaggi 1908 auf denMarkt gebracht, und auch er entwickelte sich zum weltweiten Verkaufsschlager. Grösster Schweizer Gutsbesitzer Überzeugen von seinen Fertigprodukten musste Maggi nicht nur die Konsumentinnen, sondern auch die Bauern – und zwar als Rohstofflieferanten. «JuliusMaggi hatte Schwierigkeiten, in der Region genügend Gemüse für seine Produkte zu finden», erzählt die Historikerin. Die Bauern mussten zuerst von den neuen, mechanisierten Anbaumethoden überzeugt werden und standen der Lebensmittelindustrie skeptisch gegenüber. Schliesslich nahmMaggi denAnbau der Rohstoffe selber an dieHand. Er kaufte Land von Kleinbauern auf, denen er oft gleich eine Stelle in der rasch wachsenden Fabrikstadt in Kemptthal verschaffte. Mit über 400 Hektaren Agrarfläche war Maggi Anfang des 20. Jahrhunderts gar der grösste private Gutsbesitzer der Schweiz. Gleichzeitig entstanden eigenständige Fabriken und Verteilnetze in Deutschland, Österreich, Italien und Frankreich. Julius Maggi starb 1912 im Alter von 66 Jahren. Nach seinem Tod wurde die Firma zu einer Holdingmit Niederlassungen in verschiedenen Ländern umgebaut. Die deutsche Tochtergesellschaftwar während des Zweiten Weltkriegs die grösste Lebensmittelproduzentin des «Reichs» und Grosslieferantin von Hitlers Armee. Als «nationalsozialistischerMusterbetrieb» setzte das Werk in Singen auch Zwangsarbeiter ein. Seit 1947 gehört Maggi zum Nahrungsmittelkonzern Nestlé. Die Maggi-Würze wird mittlerweile in 21 Länder rund um den Globus exportiert. Produktionswerke stehen auch in China, Polen, Kamerun, der Elfenbeinküste und Mexiko. lieferte die verlangten Reime ab – so zum Beispiel: «Das wissen selbst die Kinderlein: MitWürzewird die Suppe fein. Darum holt das Gretchen munter, die Maggi-Flasche runter.» Doch der junge Lohndichter gab den Job nach achtMonatenwieder auf, weil er sich «mit Leib und Seele verschachert» fühlte, wie er in einem Brief an seine Mutter schrieb. Die gesammelten Originalmanuskripte vonWedekinds Maggi-Werbetexten finden sich heute in der Aargauer Kantonsbibliothek. «Influencer» alsWerbeträger gab es schondamals: Die Empfehlung für das Würzenmit Maggi fand bald Eingang in Kochrezepte – darunter in die Standardwerke der deutschen Kochbuchikone Henriette Davidis. Das Rezept der Würze selbst bleibt hingegen bis heute ein gut gehütetes Betriebsgeheimnis. Grundzutaten sind pflanzliches Eiweiss,Wasser, Salz und Zucker, dazu kommen Aromen und Hefeextrakt. Nicht enthalten ist Liebstöckel, das viele mit dem Geschmack der Maggi-Würze in Verbindung bringen. Das Gewürzkraut wird deshalb im Volksmund oft auch «Maggi-Kraut» genannt. Maggi inspirierte auch Künstler: So verwendete Joseph Beuys die Flasche mit dem Flüssiggewürz 1972 für Julius Maggi, um 1890. Foto Archives Historiques Nestlé, Vevey Links: Fabrikarbeiterinnen wickeln die MaggiFlaschen vor der Auslieferung in weisses Papier ein. Rechts: Arbeiterinnen pflanzen bei Kemptthal Gemüsesetzlinge. Julius Maggi war einer der grössten Landbesitzer seiner Zeit. Foto Archives Historiques Nestlé, Vevey Buchhinweise: – Annatina Seifert: Dosenmilch und Pulversuppen. Die Anfänge der Schweizer Lebensmittelindustrie. Verlag Hier und Jetzt, 2008. – Alex Capus: Patriarchen. Über Bally, Lindt, Nestlé und andere Pioniere. Verlag dtv, 2007

Schweizer Revue / Februar 2022 / Nr.1 12 Gesellschaft MIREI LLE GUGGENBÜHLER Wenn Pierre Biege am Morgen im Kanton Wallis losfährt, ist er zwei Stunden später in Bern an seinem Arbeitsplatz. Für schweizerische Verhältnisse ist das ein sehr langer Arbeitsweg. Pierre Biege, Geschäftsführer eines Modelabels, stört sich aber nicht daran. «Ich nutze die Zeit imZug zumArbeiten», sagt er. Pierre Biege wohnt in Albinen, einem kleinen Dorf auf 1300 Meter überMeer, amsonnigen Südwesthang in der Nähe des Kurorts Leukerbad. Das Dorf mit seinen eng verschachtelten, sonnenverbranntenHäusern liegt in einer Kulturlandschaft, welche zum Naturpark Pfyn-Finges gehört. Das Ortsbild des Dorfes gilt als besonders wertvoll und ist deshalb geschützt. Leben im Minihaus Hier, amDorfrand, leben Pierre Biege, seine Frau und die beiden Kinder in einem Tiny Haus. Das Haus, welches gerade mal 27 Quadratmeter umfasst, ist das einzige Kleinwohnhaus in Albinen. Ein solches aufzustellen, ist in der Schweiz nicht einfach. Denn: Die rechtlichenGrundlagen sind nicht auf Kleinwohnformen ausgelegt. In vielen Gemeinden ist der Bau solcher Häuser deshalb nicht möglich – etwa, weil sie das Ortsbild beeinträchtigen. In Albinen hingegen hat die Gemeinde den Bau des ungewöhnlichen Hauses ermöglicht. Pierre Biege ist deshalb, nach vielenWohn- undArbeitsjahren in diversen Schweizer Städten, wieder in das Dorf seiner Kindheit zurückgekehrt. «Hier können wir unseren Traum leben», sagt Pierre Biege. Das Engagement der Gemeinde hat einen Grund: Mit massiver Wohnbau- und Familienförderung will sie die Abwanderung stoppen und neue Einwohner ins Dorf holen. Seit den 1940er-Jahren hat die Zahl der Einwohnerinnen und Einwohner nämlich kontinuierlich abgenommen – von damals 370 Personen auf aktuell Für jedes Kind bezahlt die Gemeinde zusätzlich 10000 Franken. Eine vierköpfige Familie erhält so zumBeispiel 70000 Franken. Das Geld ist zweckgebunden undmuss für den Kauf, den Neu- oder Umbau einer Liegenschaft eingesetzt werden. DieMindestinvestition beträgt 200000 Franken und wer nicht zehn Jahre in Albinen bleibt, muss das Geld zurückzahlen. Junge wollen wieder mehr Junge im Dorf Die aktive Familien- und Wohnbauförderung ist auf die Initiative einer Gruppe junger Albinerinnen und Albiner zurückzuführen. Deren Engagement hat sich gelohnt: Seit Projektbeginn 2018 sind 19Gesuche eingereicht worden. Dahinter stehen insgesamt 38 Erwachsene und 11 Kinder. Die jungen Einzelpersonen, Paare oder Familien stammen sowohl aus demWallis wie auch aus anderen Kantonen in der Schweiz. Die Gemeinde hat bis jetzt Beiträge von 880 000 Franken gutgeheissen und damit Investitionen von 6,6 Millionen Franken ausgelöst. Wer ins Bergdorf zieht, erhält eine Geldprämie Im Kanton Wallis kämpfen diverse Berggemeinden gegen die Abwanderung der Dorfbevölkerung. Nun haben zwei Gemeinden die Geldprämie entdeckt: Familien, die nach Albinen oder Zeneggen ziehen, werden finanziell dafür belohnt. Albinen erlaubt auch alternative Wohnformen: Auffällig ist das Kleinsthaus von Pierre Biege und seiner Familie. Foto ZVG Albinens Gemeindepräsident Beat Jost: «Wir hatten Anfragen aus der ganzen Welt.» Foto Keystone 250. Um neue Einwohnerinnen und Einwohner zu gewinnen, zahlt Albinen seit 2018 Männern, Frauen und Kindern, die nach Albinen ziehen, einen Wohnbauförderungsbeitrag. Konkret erhalten Personen, die jünger als 45 Jahre alt sind und sich in Albinen niederlassen 25 000 Franken.

Schweizer Revue / Februar 2022 / Nr.1 13 Das derzeit winterliche Albinen, 1300 Meter über Meer, sorgt sich besonders um die Zukunft seiner Dorfschule. Foto Keystone «Rund 70 Prozent der Bevölkerung lebt im Kanton Wallis im eigenen Heim, nur 30 Prozent haben eine Wohnung oder ein Haus gemietet. Deshalb war für uns klar, dass wir Wohneigentum fördernmöchten, insbesondere auch, weil das Dorf über viele ungenutzte Liegenschaften und über Baulandreserven verfügt», sagt Beat Jost. Zweifel und Ängste Trotz dem bisherigen Erfolg des Ansiedlungsprojekts: Anfänglich gab es in der Bevölkerung auch kritische Stimmen. Denn: Die aussergewöhnliche Strategie der Gemeinde hat mediale Wellen geworfen – und zwar weit über die Landesgrenzen hinaus. «Wir hatten Anfragen aus der ganzen Welt», sagt Beat Jost. Viele der Berichte in ausländischen Medien seien irreführend gewesen. So sehr, dass vereinzelte Personen aus dem Ausland anreisten in der Meinung, in Albinen werde Geld verschenkt und es gebe zudem noch eine Wohnung gratis dazu. Die vielen Anfragen und die spontan aufkreuzenden Besucher lösten im Dorf Ängste vor einer unkontrollierten Zuwanderung aus. Die Gemeinde verfasste deshalb Schreiben in verschiedenen Sprachen, in welchen sie festgehaltenhat, dass Personen aus dem Ausland nur mit der nötigen Niederlassungsbewilligung Anspruch auf die Wohnbauförderung haben. Dieses Problem scheint mittlerweile gelöst zu sein. Indes steht die Gemeinde vor neuen Herausforderungen: Albinenhat nämlich keine Schule mehr. «Acht von zehn Fragen drehen sich bei möglichen Zuzugsinteressierten aber genau darum», sagt Beat Jost. Der Kanton wird eine Dorfschule nur ab einer bestimmten Grösse wieder eröffnen. Deshalb befasst sich die Gemeinde zurzeit mit der Gründung eines alternativen Schulmodells, welches auch Schulkindern aus dem Tal zur Verfügung stehen soll. Geldprämien locken auch andernorts Rund 40 Kilometer von Albinen entfernt liegt Zeneggen. Dort ist die Dorfschule im Moment noch offen. Doch den oberen Klassen droht die Schliessung, weil es zu wenig Kinder hat. Zwar verzeichnete die Gemeinde in den letzten Jahren keinen generellen Bevölkerungsschwund wie Albinen. Doch diemeistenZuzügerwaren kinderlos. Analog der Gemeinde Albinen setzt man nun auch in Zeneggen auf eine Geldprämie: Jede Familie, die nach Zeneggen zieht, erhält 3934 Franken pro Kind. 3934: So lautet die Postleitzahl des Dorfes. Fernando Heynen ist Vater von fünf Kindern, Gemeinderat von Zeneggen und kämpft in seinen beiden Rollen um den Erhalt der Schule und um Neuzuzüger. «Ist die Schule erst einmal geschlossen, wird es noch schwieriger, junge Familien ins Dorf zu holen», sagt er. Im Gegensatz zu Albinen werden in Zeneggen nur wenige Liegenschaften zum Kauf angeboten. Deshalb setzt man auf Mieter: Die Gemeinde baut zurzeit eine Liegenschaft mit mehrerenWohnungen, welche an Familien vermietet werden sollen. Man habe bereits Interessenten, sagt FernandoHeynen. Man hoffe, bald die ersten Prämien verteilen zu können. Minihaus löst Neugier aus In Albinen hält das Interesse am Wohnförderprojekt unvermindert an. Insbesondere die Wohnform der Familie Biege weckt die Neugier potenzieller Zuzügerinnen und Zuzüger. Pierre Biege hätte nichts gegen Minihaus-Nachbarn. Noch sieht es allerdings nicht danach aus. Für Familie Biege kein Problem: Sie ist so oder so glücklich, sich für Albinen entschieden zu haben.

Schweizer Revue / Februar 2022 / Nr.1 14 Politik EVEL INE RUTZ Applaus allein reicht nicht. Mit diesem Slogan haben die Pflegenden in den letzten Monaten für bessere Bedingungen gekämpft. Eine Mehrheit des Schweizer Stimmvolks teilt ihre Ansicht. Rund 61 Prozent haben sich am 28. November 2021 für die Initiative «für eine starke Pflege» (siehe auch «Schweizer Revue» 5/2021) ausgesprochen. Die Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer sagten mit 58,3 Prozent ebenfalls deutlich Ja. Das Resultat ist inmehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Zum ersten Mal ist es einem Volksbegehren aus gewerkschaftlichen Kreisen gelungen, auf nationaler Ebene zu reüssieren. Die Initiative ist zudem erst das 24. Volksbegehren in der Geschichte des Bundesstaates, das angenommenwurde. Sie erlangte ungewöhnlich hohe Zustimmung und mobilisierte stark. Die Stimmbeteiligung lag bei 65,3 Prozent und erreichte damit den vierthöchsten Wert seit 1971. Damals wurde das Wahl- und Stimmrecht für Frauen eingeführt. Dass sich vieleMenschen an der Abstimmung beteiligten, hat auch mit dem Covid-Gesetz zu tun. Dieses stand am gleichen Tag zur Debatte und war hitzig diskutiert worden. Erst applaudierten die Menschen auf ihren Balkonen – jetzt aber belohnen sie die Pflegenden an der Urne Bessere Arbeitsbedingungen, mehr Autonomie, höhere Wertschätzung: Die Pflege wird in der Schweiz gestärkt. Die Initiative des Berufsverbands der Pflegenden hat an der Urne einen historischen Sieg errungen. Ihre Umsetzung wird allerdings noch zu reden geben. Die vor der Abstimmung erneut hochschnellenden CoronaZahlen haben die bedeutende Rolle der Pflegenden verdeutlicht und zum klaren Ja zur Initiative beigetragen. Foto Keystone

Schweizer Revue / Februar 2022 / Nr.1 15 Das bereits Klare rasch umsetzen An sich wäre es nun am Bundesrat, einen Vorschlag zur konkretenUmsetzung der Initiative zumachen. Umschneller zu einem Ergebnis zu kommen, schlägt das Initiativkomitee jedoch einen anderen Weg vor: die vom Parlament bereits beschlossene und unbestrittene Aus- und Weiterbildungsoffensivemöglichst rasch umzusetzen und den Bundesrat nur die restlichen Punkte klären zu lassen. Auch die vom Parlament im Sinne eines Gegenvorschlags zur Initiative bereits festgelegten neuen Regeln, unter welchen Bedingungen Pflegefachleute künftig Leistungen selbst anordnen und abrechnen können, müssen nach Meinung der Abstimmungsgewinnerinnennichtmehr neu diskutiert werden. Es gelte sie rasch umzusetzen. Die Sozialdemokraten haben einen entsprechenden Vorstoss eingereicht. Die Mitte schliesst nicht aus, für dieses VorgehenHand zu bieten. DerenNationalrätinRuthHumbel (AG) betonte gegenüber Radio SRF allerdings, dass dieser Weg Zweites Ja zur Corona-Politik Schon zum zweiten Mal haben die Stimmberechtigten die Corona-Politik von Bundesrat und Parlament unterstützt. Mit 62 Prozent hiessen sie das Covid-19-Gesetz gut, das unter anderemdie Zertifikatspflicht sowieWirtschaftshilfen regelt. Die Fünfte Schweiz sagte sogar mit 68,5 Prozent Ja. Nach einemteilweise gehässigenAbstimmungskampf sprachen Beobachter von einem Vertrauensvotum für den behördlichen Umgang mit der Pandemie. Das Resultat fiel deutlicher aus als im Juni, als das Gesetz zum ersten Mal zur Abstimmung gelangte. Damals machten die Ja-Stimmen 60,2 Prozent aus. Die Schweiz ist weltweit das einzige Land, in dem das Volk über Massnahmen zur Eindämmung der Pandemie abstimmen kann. Der Abstimmung über das Corona-Gesetz gingen zahlreiche – zumTeil auch gewaltsame – Proteste von Massnahmen-Kritikern voraus. Keine Richter-Wahl im Losverfahren Die so genannte Justiz-Initiative scheiterte mit 68,1 Prozent Nein-Stimmen deutlich. Sämtliche Kantone lehnten den Vorschlag ab, die Mitglieder des Bundesgerichts künftig per Los zu bestimmen. Auch 65,3 Prozent der Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer stimmten dagegen. Der Einfluss der Parteien bleibt damit unverändert. Richterinnen und Richter müssen in der Schweiz zwingend einer Partei angehören und dieser eine Mandatssteuer zahlen. (ERU) Ein Ja in fast allen Kantonen Dass die Forderungen der Pflegebranche in der Bevölkerung auf viel Verständnis stossen, hatten Umfragen früh gezeigt. Unsicher war jedoch, ob der Vorstoss das Ständemehr – also die Zustimmung der Mehrheit der Kantone – schaffen würde. Diese Hürde, die Volksbegehren oft zum Verhängnis wird, überwand die Pflegeinitiative letztlich aber äusserst komfortabel: Bis auf Appenzell Innerrhoden haben ihr alle Kantone zugestimmt. Dass es in der Pflege Reformen braucht, war allgemein unbestritten. Pflegende arbeiten zunehmend am Limit. Viele steigen vorzeitig aus demBeruf aus – oft schon in jungen Jahren. Personalverantwortliche bekunden Mühe, Fachkräfte zu finden. Gleichzeitig wird eine alternde Gesellschaft in Zukunft auf zusätzliches Pflegepersonal angewiesen sein. Experten warnen daher: Ohne griffige Reformen dürften bis 2030 rund 65 000 Pflege-Mitarbeitende fehlen. Pandemie verdeutlichte die Lage Der Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner, SBK, hat seinen Lösungsansatz bereits 2017 vorgelegt. Dieser hat seinen durchschlagenden Erfolg auch Corona zu verdanken. Die zahlreichenMedienberichte aus Spitälern, Pflege- undAltersheimenhabender Bevölkerung vor Augen geführt, was Pflegende rund um die Uhr leisten. Vielen wurde bewusst, dass sie selbst oder Angehörige plötzlich auf Hilfe angewiesen sein könnten. Inden Wochen vor dem Volksentscheid spitzte sich die pandemische Situation einmal mehr zu. Die Fallzahlen stiegen rasant und mit Omikron sorgte eine neue Virusvariante für Schlagzeilen. Und fast zeitgleichmit der Abstimmung mehrten sich Meldungen aus Spitälern, siemüssten in der Intensivmedizin wohl bald auf eine Triage setzen, also auf den harten Entscheid, wemmannoch eine lebensrettende Behandlung gewähren könne und wem nicht. Ein Zeichen der Wertschätzung «Gerade in der Krise zeigt das Pflegepersonal, was es leistet und wie wichtig seine Arbeit ist», sagte Gesundheitsminister Alain Berset am Abstimmungssonntag. Das deutliche Ja zur Vorlage sei ein Zeichen der Wertschätzung und des Dankes. Die Pflegenden jubelten. SBK-Geschäftsführerin Yvonne Ribi (siehe Seite 31, Rubrik «Herausgepickt») freut sich über die Solidarität der Bevölkerung. Mit den beschlossenen Massnahmen lasse sich der Pflegenotstand beseitigen, sagt sie: «Nun erwarten wir von der Politik, dass unsere Anliegen ernst genommen und rasch umgesetzt werden.» 61 % Ja 39 % Nein Das Volks-Ja zur Pflegeinitiative fiel sehr deutlich aus. Die Fünfte Schweiz stimmte mit 58 Prozent ähnlich klar zu.

Schweizer Revue / Februar 2022 / Nr.1 16 Politik Schweizer Zahlen Lärmige Städte, leere Hotelbetten 60 Die lärmigste Stadt der Schweiz ist Genf. Dort werden 33 Prozent aller Wohnungen mit über 60 Dezibel beschallt. Das ist so laut, als hätte man einen ständig laufenden Rasenmäher vor der Haustür. Am zweit- und drittlärmigsten sind Lugano und Lausanne. Weniger lärmig ist es in den Städten der Deutschschweiz. Schon fast verdächtig ruhig ist es in Bern. Dort sind nur 4,6 Prozent der Wohnungen stark lärmbelastet. 279248 Wer unter Lärm leidet, braucht Erholung. Dazu ein Gedankenexperiment! Falls ein Jahr lang alle Einwohnerinnen und Einwohner der Schweiz Lust auf Ferien in einem Schweizer Hotel hätten: Würde der Platz überhaupt für alle ausreichen? Die Antwort: Die insgesamt 279 248 Betten der Schweizer Hotels genügten, um jedem und jeder fast zwei Wochen Hotelferien zu garantieren. 72 Die Hotels hätten sicher Freude an der riesigen Gästeschar aus dem eigenen Land. Ihnen fehlen derzeit die Gäste aus dem Ausland. 2020 lag die Zimmerauslastung bei 28 Prozent. 72 Prozent der Zimmer standen im Schnitt leer. So wenige Übernachtungen wie 2020 verzeichnete die Schweizer Tourismusindustrie zuletzt in den 1950er-Jahren. 11:1 Mehr Ferien im eigenen Land trügen wohl zu mehr Verständnis zwischen Stadt und Land bei. Der oft beklagte Stadt-Land-Graben würde kleiner. Die Kritik vom Lande: Die arroganten Städte geben politisch immer mehr den Tarif durch. Das wurde jetzt untersucht. Die wundersame Erkenntnis: Bei den letzten zwölf umstrittenen Volksinitativen setzte sich «das Land» elfmal durch, die Städte nur einmal. Als wahr erwies sich das Gegenteil des Vorurteils. 41 Kann man in dieser Rubrik auch etwas zum Alltag der «Schweizer Revue» sagen? Wir probieren es: 2020 brach in der Schweiz der Luftfrachttransport ein. Im April 2020 betrug der Rückgang 68%, im Jahresmittel 41%. Besonders betroffen waren Postsendungen, denn diese werden im Unterdeck von Passagierflugzeugen befördert. Stehen diese am Boden, verspätet sich die Post um Tage, Wochen, manchmal Monate. Wir wissen es: Sie haben dies durchaus gemerkt. ZUSAMMENSTELLUNG: MUL ebenfalls Zeit brauchen werde. «Wenn dieser erste, unbestrittene Teil optimal läuft, dann kann er in zwei, drei Jahren in Kraft treten.» Kritische Stimmen sind im bürgerlichen Lager zu hören. FDP-Nationalrat Matthias Jauslin (AG) gibt zu bedenken, dass das Parlament Kompromisse eingegangen sei, um die Initiantinnen und Initianten zu einem Rückzug zu bewegen. Diese Beschlüsse seien nun wieder in Frage gestellt. «Der Gesetzgebungsprozess fängt jetzt noch einmal an.» Laut Initiativtext haben die beiden Kammern dafür vier Jahre Zeit. Tarife und Personalfragen sind umstritten Was dem Bundesrat beim zweigleisigen Vorgehen bliebe: Er müsste die weiteren Forderungen innerhalb von 18 Monaten konkretisieren und insbesondere aufzeigen, wie erreicht werden kann, dass die Pflegenden in ihrem Alltag zufriedener sind und länger imBeruf bleiben. Er wird sich etwa mit den Löhnen und den Zuschlägen für die Nacht- und Sonntagsarbeit befassen müssen, sowie mit dem Personalschlüssel, also der Festlegung der Zahl der Pflegenden auf eine bestimmte Zahl von Patienten. In diesen Bereichen mehrheitsfähige Lösungen zu finden, dürfte nicht einfach werden. «Wir werden den Druck hochhalten», kündigt Yvonne Ribi an. Das Komiteewerde nicht zulassen, dass die Initiative in der politischenDebatte verwässert werde. Die Gegnerschaft verspricht ihrerseits, die Kosten im Blick zu behalten. Diese dürften sich nicht ausweiten, was das Ja-Lager imAbstimmungskampf zugesichert habe. Die Stimme der Kantone Wann und wie das Volksbegehren in der Praxis Wirkung entfaltenwird, hängt aber nicht allein vomBund ab. Er hat lediglich die Kompetenz, Leitlinien vorzugeben. Für die Umsetzung sind die Kantone und teilweise die Gemeinden zuständig. Diese föderale Struktur erschwert es, Reformen rasch und einheitlich umzusetzen. Bis die Pflegenden in ihrem Berufsalltag Veränderungen wahrnehmen werden, dürfte es daher noch ein paar Jahre dauern. Gesundheitsminister Alain Berset wertet das deutliche Ja als Zeichen der Wertschätzung und des Dankes ans Pflegepersonal. Foto Keystone

Schweizer Revue / Februar 2022 / Nr.1 17 Literatur malen, von denen sie amEnde 56 fertigstellte, war die Frau, die wie keine andere für die Gleichstellung der Schweizer Frau gekämpft hatte, doch auch eine kompromisslose Ästhetin, die sich eingestand: «Wie Durst und Hunger habe ich jeden Tag ein unsägliches Bedürfnis nach Schönheit.» Am 11. September 1990, ein halbes Jahr, bevor «Frauen im Laufgitter» neu herauskam und zum Bestseller wurde, nahm Iris von Roten sich, von Krankheiten zermürbt und von Schlaflosigkeit terrorisiert, das Leben. Eswar der letzte radikale Ausdruck jener Selbständigkeit, für die sie ein Leben lang eingetretenwar, und in einem Abschiedsschreiben erklärte sie: «Wie ein Gast wissen muss, wann es Zeit ist zu gehen, so sollte man sich auch rechtzeitig vom Tisch des Lebens erheben.» Längst ist Iris vonRoten, deren Feminismus nichts Sektiererisches an sich hatte, zu einem Idol der Schweizer Frauenbewegung geworden. 2007 erfuhren sie und ihr Mann auf wundervolle Weise Gerechtigkeit inWilfriedMeichtrys Buch «Verliebte Feinde», dessen Verfilmung dem Paar 2012 neue Aufmerksamkeit schenkte, und 2021 legte Camille Logoz unter dem Titel «Femmes sous surveillance» auch eine französische Ausgabe von «Frauen im Laufgitter» vor. BIBL IOGRAF IE: Iris von Roten, «Frauen im Laufgitter», eFeF-Verlag, 2014. CHARLES L INSMAYER IST L I TERATURWISSENSCHAFTLER UND JOURNAL IST IN ZÜRICH CHARLES L INSMAYER «Ich wollte alles, was das Herz begehrte: wilde Abenteuer, lockende Fernen, tolle Kraftproben, Unabhängigkeit, Freiheit, das schäumende Leben schlechthin», schilderte die in Basel tätige Rechtsanwältin Iris von Roten 1979 in einem Interview, von was sie als junges Mädchen geträumt hatte. Am 2. April 1917 in Basel geboren, begehrte sie schon als Gymnasiastin inZürich gegenweibliche Rollenmuster auf, studierte Jurisprudenz, um sich ein unabhängiges Leben zu sichern, arbeitete dann aber als Journalistin, denn sie war sich sicher: «Das Schreiben eines guten Artikels ist mir wichtiger als zu schlafen und zu essen.» Ein Blaustrumpf war die elegante junge Frau allerdings nicht, und als sie dem um ein Jahr älteren Walliser Juristen und angehenden Politiker Peter von Roten begegnete, begann eine Liebesgeschichte, die in ihren Höhen und Tiefen zum Faszinierendsten gehört, was das 20. Jahrhundert an Beispielen für ein explosivesMit- undGegeneinander vonMann und Frau aufzuweisen hat. Obwohl die Verbindung beiden völlige Freiheit liess, bekehrte Iris von Roten ihrenMann zu ihrer radikal-offenen Spielart von Feminismus, und er war es denn auch, der sie wie niemand anderer förderte und unterstützte, als sie 1948 in den USA jenes Buch zu schreiben begann, das in einem grossartigen Wurf sowohl juristisch-politisch als auch sinnlich-körperlich die volle Gleichstellung der Frau forderte und 1958 unter demwitzig-kämpferischen Titel «Frauen im Laufgitter» erschien. «Das Buch ist ein Meisterwerk. Man spürt einfach in allem den Hunger und den Durst nach Gerechtigkeit. Es ist ein einziger Schrei nach Gerechtigkeit», hatte Peter von Roten schon früh erkannt, aber für die Schweiz, und nicht zuletzt auch für die mutlose damalige Frauenbewegung, kamdas Buch fünfzig Jahre zu früh und löste neben wenigen anerkennenden Reaktionen – etwa jener von Laure Wyss – lauter Verrisse und böse Beschimpfungen aus. Die Erfahrung war für Iris von Roten traumatisch, geknickt aber war sie nicht. Sie veröffentlichte 1959 noch ein «Frauenrechtsbrevier» undwandte sich dann definitiv vom Thema Frauenemanzipation ab. Sie reiste im eigenen Auto in die Türkei, nach Nordafrika und Südfrankreich und publizierte 1965 unter dem Titel «Vom Bosporus zum Euphrat. Türken und Türkei» ein Reisetagebuch darüber, später flog sie, bis der Massentourismus sie beelendete, nach Brasilien, Sri Lanka und in andere Länder. Schliesslichwandte sie sich der Malerei zu und beschloss, 100 Blumenbilder zu «Ein einziger Schrei nach Gerechtigkeit» Mit «Frauen im Laufgitter» gab die Juristin Iris von Roten dem Kampf der Schweizer Frauen um Gleichberechtigung 1959 eine ganz neue und am Ende erfolgreiche Richtung. «Die politische Gleichberechtigung der Frau ist gegen die Vorrechte und insofern gegen die Interessen der Männer, wenn man unter Interessen Selbstbehauptung und persönliche Entfaltung auf Kosten anderer versteht. In einem höheren Sinne ist die volle Demokratie allerdings auch im Interesse der Männer. Es widerspricht zwar seiner Selbstbehauptung, wenn er zur Abwechslung zuhören muss. Aber es tut ihm auch gut, wie man so sagt. Denn das Zuhörenmüssen stutzt sein wucherndes Ich auf umgänglichere Formen zurück, wodurch er sympathischer wird.».

RkJQdWJsaXNoZXIy MjYwNzMx