Schweizer Revue 3/2023

Basel ist eine Kunststadt, gewiss. Aber Basel ist vor allem eine Musikstadt. Gleich vier städtische Orchester spielen international in höchsten Tönen mit. La Cetra ist spezialisiert auf Barock, die Basel Sinfonietta auf Neue Musik und das Kammerorchester Basel ist der wendige Alleskönner. Das Sinfonieorchester Basel schliesslich spielt Oper und konzentriert sich auf grosssinfonische Werke. Wer all diese Orchester hört, ist Aussenstehenden ein Rätsel. Hans-Georg Hofmann, Künstlerischer Direktor des Sinfonieorchesters Basel (SOB), lächelt über unsere Ängste. Der eine Grund für die Nonchalance liegt in der Unterschiedlichkeit der vier Basler Toporchester: Man konkurrenziert sich nicht, hat sogar eigene Konzertorte. Und wenn man vorlaut ein «Aber» einfügen will, erwähnt er den Leistungsauftrag: «Wir sind das Orchester der Stadt Basel, sind für die Stadt da.» Die Basler führen ihr Eigenleben recht vergnügt, ohne dauernd an Exzellenz und den nächsten Tournee-Ort zu denken. Noch schöner wird das Bild, wenn man bedenkt, dass das Sinfonieorchester einen der drei prunkvollsten, besucherfreundlichsten und akustisch besten Säle der Schweiz bespielt: Nach der 2020 beendeten Renovation, bei der die Architekten Herzog & de Meuron das Stadtcasino mit poppigen Pinselstrichen verzauberten, mehr als je zuvor. Bei aller Freude ist man in einer Phase der Veränderung. Oder eher einer möglichen Neuorientierung? Das SOB war auf Braut- beziehungsweise Bräutigam-Schau, nach langer Suche ernannte man im Februar Markus Poschner (*1971) zum neuen Chefdirigenten – eine grossartige Wahl: Der Münchner debütierte und triumphierte im Sommer 2022 in Bayreuth und leistet als Chefdirigent beim Orchestra Svizzera Italiana eine hervorragende Arbeit. Immer wieder überraschte Poschner auch mit CDs. Via die gute alte CD messen sich auch die Basler mit anderen Orchestern. Und dank Spotify erreicht das SOB 60000 Hörerinnen und Hörer monatlich – ein Zeichen, dass die tollen Raritäten von Gabriel Fauré (1845–1924) oder Charles Koechlin (1967–1950) auf Anklang stossen. Im September 2022 hatte man als Folge des Todes von Königin Elisabeth II. weltweit gar die CD der Stunde im Angebot, hatte das SOB doch zusammen mit anderen Werken die «GlorianaSuite» von Benjamin Britten auf den Markt gebracht: Sie beruht auf der gleichnamigen Oper, die Britten als Auftragswerk für die Krönung von Königin Elisabeth II. geschrieben hatte. Die 89. Einspielung von Tschaikowskys 4. Sinfonie überlässt das Sinfonieorchester Basel anderen. CHRISTIAN BERZINS Neapel liegt auf grollendem, zitterndem Untergrund. Erdplatten reiben sich aneinander und erzeugen eine Unruhe, die sich auf die lebhafte, chaotische Stadt über diesem Untergrund überträgt. Nicht zuletzt daraus bezieht Neapel seine Anziehungskraft für Franco Supino, dessen Eltern aus dessen Umland stammen. In die Stadt am Vesuv zieht es im Roman «Spurlos in Neapel» auch den Ich-Erzähler, einen in der Schweiz wohnhaften Autor. Vordergründig lässt er sich bei seinem «Meisterschneider» einen Anzug anmessen, insgeheim aber verfolgt er eine zweite Absicht. Er will einem geheimnisvollen Camorrista auf die Spur kommen: Antonio Esposito. Deshalb verbindet er seine periodischen Termine beim Schneider mit der Spurensuche nach O’Nirone, wie Esposito wegen seiner dunklen Hautfarbe auch genannt wird. In Neapel findet der unbescholtene Erzähler leicht Gesprächspartner, die ihm Geschichten über jenen feilbieten, denn die Camorra kann «auf den Geltungsdrang der Neapolitaner» zählen, wie ihm ein Freund erzählt, um hinter diesem Geraune ihr klandestines Gewerbe zu betreiben. Volkstümlichkeit, Verbrechen und Mythos gehen dabei eine typische Mischung ein. Allmählich kommt der Erzähler der rätselhaften Figur O’Nirones näher. Woher aber nur rührt die dunkle Hautfarbe in einer «normalen» Camorra-Familie? Das ist die eine Frage, der er auf sich selbst gemünzt gleich eine zweite zugesellt: Was wäre aus ihm geworden, wären seine Eltern hier geblieben, oder hierhin zurückgekehrt? So gerät mit der Suche nach O’Nirone die eigene Biografie in den Blick. Der Erzähler erinnert sich an die frühen Sommerreisen mit den Eltern zurück «nach Hause», aber auch an die politische Aufregung in der Schweiz, als die «Tschinggen» per Initiative heimgeschickt werden sollten. «Seine Biografie in einem fremden Leben zu suchen, ist kein harmloses Spiel», formuliert der Erzähler den existenziellen Kern, der diesen Roman antreibt. In O’Nirone spiegelt sich eine Möglichkeit des eigenen Lebens. Franco Supino legt mit «Spurlos in Neapel» einen klug komponierten Stadtroman vor, der zwischen Tatsächlichkeit und Fiktion pendelt und mit autofiktionalen Zügen auch von der Faszination erzählt, die von dieser Stadt ausgeht: Maradona, Pino Daniele, Massimo Troisi. Wie prägt der Zufall, wo jemand aufwächst, dessen Leben, fragt er sich. Und wie anders hätte es herauskommen können, wenn er nicht in Solothurn, sondern eben Neapel aufgewachsen wäre? Es ist eine Frage, die uns insgeheim alle trifft. BEAT MAZENAUER Gelassen auf Höhenflug Auf unruhigem Grund BENJAMIN BRITTEN Our Hunting Fathers Quatre Chansons françaises, Symphonic Suite from Gloriana Prospero Classical, 2022 FRANCO SUPINO Spurlos in Neapel. Roman, Rotpunktverlag Zürich, 2022, 254 Seiten, CHF 33.00. Schweizer Revue / Mai 2023 / Nr.3 21 Gelesen Gehört

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