Schweizer Revue 3/2023

SUSANNE WENGER Im Kriegswinter 1944/1945 tobte um das von deutschen Truppen besetzte Budapest eine Schlacht. Bei jedem Fliegerbomben-Alarm presste die sechsjährige Agnes ihre Puppe fest an sich und eilte mit der Mutter in den feuchten, dunklen Keller. «Nach Weihnachten verliessen wir diesen zwei Monate lang nicht mehr, weil es oben im Haus nicht mehr sicher war», erinnert sich Agnes Hirschi. Sie ist heute 85 und lebt in der Nähe von Bern. Im neuen Buch «The Last Swiss Holocaust Survivors» wird sie als eine von über zwanzig Personen porträtiert. Ihr Schicksal sei aber nicht vergleichbar mit jenem von KZ-Überlebenden, betont sie: «Ich war privilegiert, denn meine Mutter und ich fanden Schutz.» Schutz durch einen Schweizer Diplomaten, von dem Agnes Hirschi in erster Linie erzählen will: Carl Lutz, ab 1942 Abteilungsleiter an der Schweizer Gesandtschaft in Budapest. Der Keller befand sich in seiner Residenz, in der Klein Agnes und ihre Mutter Magda Grausz in einer Dienstwohnung lebten. Die Mutter, eine junge Ungarin und Jüdin, arbeitete als Hausdame in der Botschaft. Durch die Anstellung schützte Lutz sie und ihr Kind vor der Verfolgung durch die Nazis und ungarische Faschisten. Lutz wurde nach dem Krieg Agnes’ Stiefvater. Denn er und ihre Mutter verliebten sich und heirateten 1949. Für beide war es die zweite Ehe. Mutig gegen Unmenschlichkeit Die kleine Familie zog nach Bern. Agnes lernte Deutsch, ging zur Schule, absolvierte eine Handelsausbildung, gründete ihre eigene Familie, arbeitete als Journalistin bei der «Berner Zeitung», engagierte sich später in der reformierten Kirche. Dass sie aus einer jüdischen Familie stammte und Am Sterbebett ihres Stiefvaters gab sie ein Versprechen ab Die Bernerin Agnes Hirschi entkam als Kind dem Holocaust in Ungarn – dank der Hilfe des Schweizer Diplomaten Carl Lutz, der später ihr Stiefvater wurde. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, an Lutz’ beispiellose Rettungsaktion und die Verbrechen der Nazi-Zeit zu erinnern. «Ich war privilegiert, denn meine Mutter und ich fanden Schutz», sagt die Holocaust-­ Überlebende Agnes Hirschi (85). Foto Danielle Liniger in Ungarn dem Holocaust entkommen war, behielt sie jahrzehntelang für sich. Auch realisierte sie erst nach und nach, was ihr Stiefvater in Budapest geleistet hatte. Nicht allein ihrer Mutter und ihr rettete er das Leben. Carl Lutz bewahrte schätzungsweise 50 000 ungarische Jüdinnen und Juden vor Deportation, Erschiessung und Todesmärschen. Der Vizekonsul nutzte den Umstand, dass seine Amtsstelle die Interessen Grossbritanniens vertrat und damit für die Auswanderung nach Palästina zuständig war. Nach dem Einmarsch der Deutschen in Ungarn im März 1944 drängten sich verängstigte Jüdinnen und Juden vor dem «Glashaus» genannten Gebäude. Der Diplomat zerbrach sich den Kopf, wie er ihnen helfen könnte. Nach ein paar Tagen inneren Ringens stellte er sein Gewissen über alle VorSchweizer Revue / Mai 2023 / Nr.3 22 Gesellschaft

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