Schweizer Revue 3/2023

Die Schweiz und die Erinnerung Die Schweiz soll einen Gedenkort für Opfer der Nazi-Zeit erhalten. Letztes Jahr überwies das Parlament einen entsprechenden Vorstoss. Die Landesregierung dürfte sich noch dieses Frühjahr erstmals zur Ausführung äussern. Eine Debatte läuft zudem zur Frage, ob es künftig auch in der Schweiz in jedem Fall verboten sein soll, Nazisymbole wie das Hakenkreuz öffentlich zu verwenden. Die Rechtskommission des Nationalrats sprach sich Anfang Jahr dafür aus. Sie schlägt vor, hierfür ein Spezialgesetz zu schaffen. (RED) Schweigen befreiend gewesen, sagt sie. Einiges konnte sie seither für sich klären, über ihre jüdischen Wurzeln etwa weiss sie heute mehr. Von ihrer Biografie zu reden wühle sie jedoch auch auf, sagt sie. Zugleich merkt die Bernerin bei ihren Besuchen in Schweizer Schulklassen, dass die Jungen auf das Persönliche ansprechen. Deren Interesse an Carl Lutz’ Zivilcourage und am Thema Holocaust sei gross, stellt sie fest: «Das freut mich.» Die Arbeit scheine Früchte zu tragen. Ihr Stiefvater, der so lange vergessene Holocaust-Held, wird inzwischen auch von der offiziellen Schweiz geehrt. 1995 wurde er posthum rehabilitiert, seit 2018 ist im Bundeshaus ein Zimmer nach Carl Lutz benannt. Agnes Hirschi war bei der Einweihung der Gedenktafel zugegen. Sie anerkennt die positive Entwicklung. «Ich wünschte nur, mein Stiefvater hätte die Würdigung noch erlebt», fügt sie an. Dass das geplante Schweizer Memorial für Holocaust-Opfer (siehe Kasten) auch Landsleute ehren will, die Verfolgten halfen, begrüsst sie. Sie selber will in ihrem hohen Alter weitermachen mit Informieren und Aufklären – «solange ich nur kann». schriften. Lutz entwickelte ein diplomatisch-humanitäres Schutzsystem, das zu einer der grössten zivilen Rettungsaktionen für Jüdinnen und Juden im Zweiten Weltkrieg führte. In der Schweiz: Tadel statt Dank Konkret gaben er und seine Mitarbeitenden viel mehr Schweizer Schutzbriefe heraus als die fast 8000, die ihm die Nazis als Kontingent zugestanden hatten. Die Auswanderungswilligen wurden in Kollektivpässe eingetragen. Viele brachte er in Schutzhäusern unter. Dabei sei er gar nicht der kühne Typ gewesen, erinnert sich Agnes Hirschi: «Er war introvertiert und sprach nicht viel.» Geleitet habe den gebürtigen Appenzeller und Methodisten sein Glaube. Das riskante Manöver gegen die Unmenschlichkeit kostete ihn Kraft. Doch als er nach dem Krieg in die Schweiz zurückkehrte, gabs vom Heimatland Tadel statt Dank. Das habe ihn schwer enttäuscht, sagt die Stieftochter. Gebührende Anerkennung erhielt Carl Lutz dafür in Ungarn, den USA, Deutschland und Israel. Als Lutz 1975 in Bern im Sterben lag, verbittert und vereinsamt, nahm er der Stieftochter das Versprechen ab, seine Rettungsaktion bekanntzumachen und junge Menschen an die Verbrechen des Holocaust zu erinnern. Seit zwanzig Jahren, seit sie in Rente ging, setzt Agnes Hirschi ihr Versprechen unermüdlich um. Sie reist weit an Ausstellungen und Anlässe, hält Referate. Bei ihren internationalen Engagements lernte sie einige der Menschen kennen, denen ihr Stiefvater beigestanden war. 2018 gab sie mit einer Historikerin das Buch «Under Swiss Protection» heraus, in dem Gerettete als Zeitzeuginnen und -zeugen zu Wort kommen. Besuche in Schulklassen Erst kurz zuvor hatte Agnes Hirschi anlässlich einer Ausstellung in Bern erstmals auch ihre eigene Geschichte erzählt. Das sei nach dem langen Agnes Hirschi verdankt ihre Rettung dem Schweizer Diplomaten Carl Lutz. Lutz bewahrte Zehntausende Jüdinnen und Juden vor Verfolgung und Ermordung. Die offizielle Schweiz würdigte dies zunächst nicht. Foto Keystone The Last Swiss Holocaust Survivors Porträts von Überlebenden, die in der Schweiz eine neue Heimat gefunden haben. Herausgegeben von der Gamaraal Foundation/Anita Winter. Stämpfli Verlag, 2023. 96 Seiten, CHF 30, Euro 39 Digitale Ausstellung zu den Porträtierten: www.gamaraal.com/ exhibition Schweizer Revue / Mai 2023 / Nr.3 23

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