Schweizer Revue 1/2024

STÉPHANE HERZOG Dreissig Jahre nach der Schliessung der offenen Heroinszenen am Platzspitz und am Letten werden in Zürich wieder in aller Öffentlichkeit harte Drogen konsumiert. «Solche Szenen sind in allen grossen Schweizer Städten zu beobachten, aber auch in Biel, Vevey, Solothurn, Brugg und sogar Chur», sagt Frank Zobel, stellvertretender Direktor von Sucht Schweiz. In Chur (GR) besetzen Drogenkonsumenten einen Park. Ebenso im Zentrum von Zürich: die Bäckeranlage. In Genf bevölkern Crack-Süchtige das Quartier rund um den Bahnhof Cornavin. Diesmal steht nicht Heroin, sondern Kokain im Mittelpunkt der Krise. Das weisse Pulver überschwemmt Europa und verdrängt das Heroin; es wird zu Dumpingpreisen angeboten und sein Reinheitsgrad beträgt bisweilen über 70 Prozent. «So etwas hat es noch nie gegeben», sagt Frank Zobel, der einen Bericht über die Crack-Schwemme in Genf verfasst hat. Crack wird aus Kokain hergestellt und in einer Glaspfeife geraucht. Seine Wirkung ist jäh. Sobald die unterdrückten Gefühle wieder zurückkehren, beginnt das Reissen nach dem nächsten Kick. Die Droge wird in der Schweiz schon seit Jahren konsumiert. Doch ihre Verfügbarkeit ist rasant gestiegen. «Das Angebot hat sich innert eines Jahres verdoppelt», sagt Nicolas Dietrich, Beauftragter für Suchtfragen des Kantons Freiburg. Konsumfertiges Crack Aussergewöhnlich ist die explosionsartige Entwicklung in Genf. Nicht zuletzt, weil hier das Crack konsumfertig verkauft wird, und zwar von französischsprachigen Dealern afrikanischer Herkunft, die via Frankreich in die Schweiz gekommen sind. Die Dealer haben inzwischen einen Markt etabliert, der auf dem Verkauf kleiner Mengen zu tiefen Preisen basiert. Zuvor kauften die Crack-Konsumenten das Kokain auf der Strasse und das Backpulver in der Migros, um dann das Crack zu Hause zuzubereiten. Das Discount-Crack hat alles beschleunigt. Täglich versammeln sich Dutzende rund um Quai 9, den Drogenkonsumraum neben dem Bahnhof Cornavin. «Ein Drittel stammt aus Genf, ein Drittel aus Frankreich und ein Drittel hat einen Migrationshintergrund», schätzt Camille Robert, CoLeiterin der Westschweizer Vereinigung für Suchtforschung. Im Juni schloss «Première ligne», der Verein, der Quai 9 betreibt, für eine Woche seine Türen. Der Grund: aggressives Verhalten von Crack-­ Süchtigen und Schlägereien vor dem Lokal. «Mitarbeitende erlebten Streitereien im Lokal», erzählt Thomas Herquel, Direktor des Vereins. Seither ist der «Raucherraum» für die Crack- Rauchenden nicht mehr geöffnet, mit Crack-Schock in Schweizer Städten Seit 2022 überschwemmt billiges konzentriertes Kokain die Schweiz. Ein Teil davon wird als Crack verkauft. In mehreren Kantonen sind inzwischen offene Drogenszenen entstanden. Genf ist besonders schwer betroffen. Ausnahme derjenigen, die im Quai 9 auf einem der zwölf Feldbetten schlafen. Die Schliessung sorgte für einen Schock, gibt Pascal Dupont zu, Leiter von Entracte, einem Genfer Tageszentrum für Drogenabhängige. Die rasante Zunahme des Crack-Konsums trifft auch die spezialisierten Einrichtungen. «Crack ist wie eine Reihe von Explosionen, die schnell aufeinander folgen. Für die Süchtigen, die oft aus einem von Verletzlichkeit und Depression geprägten Umfeld stammen, reduziert sich alles auf den unmittelbaren Moment; jede zeitliche Perspektive verschwindet», sagt Gérald Thévoz, Suchtexperte und Berater im psychosozialen Bereich. Wer Crack konsumiere, esse, trinke und schlafe nicht mehr. «Jene, die unter Drogeneinfluss stehen, nehmen ihr soziales Umfeld nicht mehr wahr», sagt Thévoz. Ihr Zustand macht den Menschen Angst, und die Bindungen, die sie zu ihrer Umgebung haben, lösen sich. «Mein oberstes Ziel ist, dass ein Drogenkonsument, der einmal zu Entracte kommt, auch wiederkommt», betont Pascal Dupont. Er erlebt, dass langjährige Stammgäste den Kontakt abbrechen. Manchmal braucht es einen Spitalaufenthalt, damit ein Ausweg sichtbar wird. Medikamente in Freiburg Angesichts der Krise hat der Genfer Staatsrat ein Programm mit einem Budget von sechs Millionen Franken aufgegleist, das unter anderem mehr Polizeipräsenz vorsieht. Das Lokal Quai 9 wird vergrössert, das Personal aufgestockt. Den Konsumenten werden zusätzliche Schlafplätze zur Verfügung gestellt. Die Idee dahinter ist, den Abhängigen, von denen ein Konsumfertige Kleinportionen zu Discountpreisen haben in Genf die Verbreitung von Crack wesentlich beschleunigt. Foto Nils Ackermann/Lundi13 Schweizer Revue / Januar 2024 / Nr.1 14 Gesellschaft

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