Schweizer Revue 1/2024

JANUAR 2024 Die Zeitschrift für Auslandschweizer:innen Hinter den Weihrauch-Schwaden zeigen sich die dunklen Abgründe der katholischen Kirche Die Schweiz nennt es «Zauberformel»: Wird eine neue Regierung gewählt, ändert sich – fast nichts Scharren, Flattern und Gackern in der Stadt: Das Nutztier Huhn erobert als Haustier urbane Gärten

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Es ist entsetzlich und beschämend: Mindestens Hunderte junger Menschen – Kinder und Jugendliche – sind in der Schweiz von katholischen Seelsorgern sexuell missbraucht worden. Sexuelle Übergriffe sind immer unentschuldbar. Gehen sie aber von jenen aus, die – aus kindlicher Optik – für Güte und Schutz, für Glaube und Moral stehen, kommt eine ungeheuerliche Dimension dazu. Für die Opfer. Und auch für die Kirche selbst. Das erfährt derzeit die römisch-katholische Kirche der Schweiz in extremis. Sie hatte die Aufarbeitung der dunklen Vergangenheit selber angeschoben, ist aber deswegen nicht minder einem Sturm der Entrüstung ausgesetzt. Gläubige treten in grosser Zahl aus der Kirche aus. Und die weltlichen Trägerschaften des kirchlichen Lebens in der Schweiz – die Kirchgemeinden mit ihren demokratisch gewählten Gremien – verweigern dem katholischen Klerus vielerorts die Gefolgschaft. In unserem Schwerpunkt ordnen wir das beklemmende Thema ein – und zitieren dabei einen Kirchenexperten: Die katholische Kirche stecke in der tiefsten Krise seit der Reformation. Muss die katholische Katastrophe auch Nichtkatholikinnen und Nichtkatholiken interessieren? Auf jeden Fall, denn in der Schweiz wird der Bedeutungsverlust der Kirche seit Jahrzehnten immer augenfälliger: Die Gesellschaft als Ganzes, die sich oft und gerne auf christlich-abendländische Werte beruft, wird immer säkulärer. Der grosse zeitliche Bogen: 1970 gehörten fast 98 Prozent aller Menschen in der Schweiz der katholischen, reformierten oder jüdischen Glaubensgemeinschaft an. 2020 waren es noch gut 60 Prozent. Jene, die mit der Kirche und mit Religion im gängigen Sinne gar nichts am Hut haben, bilden bereits die grösste «Glaubensgemeinschaft». Die Akten aus den katholischen Archiven, die jetzt auf dem Tisch liegen, beschleunigen diese Entwicklung. Ziemlich das Gegenteil einer beschleunigten Entwicklung ist die Art und Weise, wie in der Schweiz die Landesregierung gewählt wird. Zuerst wird leidenschaftlich debattiert, ob man das geheimnisvolle, ungeschriebene Gesetz über die parteipolitische Zusammensetzung der Regierung – die sogenannte «Zauberformel» – nicht anpassen müsste. Und dann bleibt alles beim Alten. Die «Zauberformel» ist also auch eine «Zauderformel». Um nicht missverstanden zu werden: Viele Schweizerinnen und Schweizer finden es richtig, wie verlässlich langweilig die heimische Politik tickt. Man hält das für sinnvoller als populistische Erdbeben. In diesem Sinne: Übrigens, die Schweiz hat für die nächsten vier Jahre eine neue Regierung gewählt – siehe Seite 18. MARC LETTAU, CHEFREDAKTOR 4 Schwerpunkt Sexuelle Übergriffe in enormer Zahl erschüttern die katholische Kirche 8 Herausgepickt / Nachrichten 9 Reportage Das Huhn wird in der Schweiz immer häufiger zum Haustier 12 Wahlen Die Formel für die Bildung der Landesregierung bleibt unangetastet 14 Gesellschaft Die Droge Crack hat viele Schweizer Städte im Griff, allen voran Genf Nachrichten aus Ihrer Region 17 Schweizer Zahlen Die Nation wird immer sesshafter, aber der Grund dafür ist rasch gefunden 18 Politik Für die Zukunft der Altersvorsorge liegen diametral gegensätzliche Ideen vor 20 Natur und Umwelt Neue Atomkraftwerke sind derzeit keine Option – und trotzdem ein Dauerthema 24 Literatur Autor Rudolf Kuhn beschrieb bereits 1941 die Folgen einer Atombombe 25 Aus dem Bundeshaus 28 SwissCommunity-News Aktuelle Zuschriften unserer Leserschaft finden Sie diesmal unter: www.revue.ch Wenn der Priester schändet statt schützt Titelbild: Weihrauch-Zeremoniell in einer Schweizer Klosterkirche. Foto Keystone Herausgeberin der «Schweizer Revue», des Informationsmagazins für die Fünfte Schweiz, ist die Auslandschweizer-Organisation. Schweizer Revue / Januar 2024 / Nr.1 3 Editorial Inhalt

4 SUSANNE WENGER Ein Jahr lang durchforstete ein Forschungsteam der Universität Zürich unter der Leitung der Historikerinnen Monika Dommann und Marietta Meier kirchliche Archive in allen Sprachregionen der Schweiz. Die Forschenden sichteten Zehntausende Seiten bisher geheim gehaltener Akten und führten zahlreiche Gespräche. Die letzten September publizierten Ergebnisse ihrer Pilotstudie lassen in Abgründe blicken. Es fanden sich Belege für ein grosses Spektrum an Missbrauchsfällen, von problematischen Grenzüberschreitungen bis zu schwersten, systematischen Missbräuchen über Jahre hinweg. Insgesamt identifiziert die Studie für den Zeitraum seit der Mitte des 20. Jahrhunderts bis heute 1002 Fälle, 510 Beschuldigte und 921 Betroffene. Drei Viertel der Opfer waren minderderjährigen seit Langem ein schwerwiegender Straftatbestand ist, kam kaum zur Anwendung. Stattdessen sahen Verantwortliche weg, verharmlosten oder vertuschten Fälle. Ein häufiges Vorgehen war, beschuldigte oder überführte Priester einfach zu versetzen (siehe Kasten). Dadurch nahm die Kirche weitere Opfer in Kauf. Sie habe ihre eigenen Interessen über den Schutz der Mitglieder gestellt, halten die Forschenden fest. Für sie sind die ausgewerteten Fälle bloss die Spitze des Eisbergs, auch weil immer noch Akten hinter verschlossenen Türen lagern, beispielsweise bei der päpstlichen Nuntiatur, also der diplomatischen Vertretung des Vatikans in der Schweiz. Gremien der katholischen Kirche der Schweiz selbst hatten die Forschung 2021 in Auftrag gegeben, darunter die Bischofskonferenz und die Römisch-KatholiDie Kirche schützte die Täter, nicht die Opfer Eine wissenschaftliche Studie legte erstmals Fakten zu sexuellem Missbrauch in der römisch-katholischen Kirche der Schweiz in den letzten siebzig Jahren vor. Seither rumort es an der Basis. Die Kirchenoberen sind unter Druck geraten, die grösste Landeskirche ist in der Krise. jährig, etwas mehr als die Hälfte männlich. Die Beschuldigten waren fast alle Männer, meist Priester, die als Pfarrer oder Hilfsgeistliche wie Vikare oder Kaplane in Pfarreien arbeiteten. Als besonders anfällig für Übergriffe erwiesen sich laut den Forschenden «soziale Räume mit spezifischen Machtkonstellationen»: in der Seelsorge, dem Ministrantendienst, dem Religionsunterricht, in Jugendverbänden, katholischen Heimen und Internaten. Versetzt statt suspendiert Sexuelle Übergriffe gab und gibt es nicht nur in der katholischen Kirche, und Geistliche gehören nicht unter Generalverdacht. Wer die jedoch 136-seitige Studie liest, erfährt, wie verantwortungslos die Kirche mit dem Missbrauch umging. Das Kirchenrecht, in dem sexueller Missbrauch von MinBild Keystone Schweizer Revue / Januar 2024 / Nr.1 Schwerpunkt

Was Betroffene durchmachten Die heute 62-jährige Vreni Peterer (im Bild) wurde Anfang der 1970er-Jahre als Zehnjährige von einem Dorfpriester im Kanton St. Gallen schwer missbraucht. Um anderen Betroffenen Mut zu machen, Vorgefallenes zu melden, erzählte die Ostschweizerin ihre jahrzehntelang verschwiegene Geschichte jüngst öffentlich. Der Pfarrer hatte im Religionsunterricht immer wieder Mädchen anzüglich angefasst. Eines Tages drängte er darauf, Vreni heimzufahren. Statt nach Hause fuhr er mit dem Kind an den Waldrand und vergewaltigte es. Weil die Schülerin zu spät heimkam, schimpfte die Mutter. Über das Vorgefallene zu reden, sei undenkbar gewesen, so Vreni Peterer im Rückblick. Der Peiniger drohte ihr, sie käme in die Hölle. Zudem sei der Pfarrer als Autorität unantastbar gewesen. Als Erwachsene ging es ihr immer wieder physisch und psychisch nicht gut, sie benötigte Therapien. Erst 2018 schaffte sie es, an das 2002 eingerichtete Fachgremium des Bistums St. Gallen zu gelangen und den Pfarrer zu melden. Er war bereits gestorben. Durch Akteneinsicht realisierte sie, dass er schon in einer anderen Kirchgemeinde auffällig geworden war. Ein weltliches Gericht hatte ihn gar wegen Unzucht mit und vor Kindern zu einer bedingten Gefängnisstrafe verurteilt. Trotzdem erhielt er später die Pfarrstelle in Vreni Peterers Kirchgemeinde. Das bittere Fazit: Ihr Leid wäre vermeidbar gewesen. Vreni Peterer präsidiert heute eine Interessengemeinschaft für missbrauchsbetroffene Menschen im kirchlichen Umfeld. Aus der Kirche trat sie nicht aus. Sie sei nicht gegen die Kirche, sagt sie, aber gegen eine Kirche mit Missbräuchen. (SWE) 5 sche Zentralkonferenz, eine Art Dachverband der öffentlich-rechtlichen Kantonalkirchen. Die Schweizer Untersuchung kam im internationalen Vergleich spät, und ihre Ergebnisse erschüttern die Kirche. Voruntersuchung gegen Bischöfe Dass eine Institution, die sich als moralische Instanz verstehe, so viele Opfer produziere, ohne sich gross um deren Schicksal zu scheren: Das sei der eigentliche Skandal, sagte der Kirchenexperte Daniel Kosch in der «Neuen Zürcher Zeitung». Er sprach von der tiefsten Krise der katholischen Kirche in der Schweiz seit der Reformation. Dabei bekämpfen die Schweizer Katholiken den sexuellen Missbrauch seit der Jahrtausendwende konsequenter. 2002 erliess die Bischofskonferenz Richtlinien. Heute muss jedes der sechs Bistümer über ein Präventionskonzept und ein Fachgremium verfügen, an das sich Betroffene wenden können. Opfer verjährter Übergriffe erhalten Geld aus einem 2016 eingerichteten Genugtuungsfonds. In ihrer Reaktion auf die Studie anerkannte die Bischofskonferenz «das Leid der Betroffenen und die Schuld der Kirche». Der Präsident der Bischofskonferenz, der Basler Bischof Felix Gmür, kündigte zusätzliche Massnahmen an, darunter kirchenunabhängige Meldestellen. Der Bischof von St. Gallen, Markus Büchel, bat um Entschuldigung – stand er doch bei einem in der Studie beschriebenen gravierenden Fall aus seinem Bistum, der bis in die jüngere Vergangenheit reicht, schlecht da. Den Kirchenoberen gelang es jedoch nicht, die Öffentlichkeit zu überzeugen. Vielmehr standen sie plötzlich selber im Zentrum von Abklärungen, wie Medien enthüllten. Der Papst hatte im Sommer eine kirchenrechtliche Voruntersuchung angeordnet, die auch vier amtierende Mitglieder der neunköpfigen Bischofskonferenz umfasste. Bischof Joseph Bonnemain ermittelt Dem Abt des Walliser Klosters Saint-­ Maurice – er gehört als Vorsteher einer Territorialabtei der Bischofskonferenz an – wird vorgeworfen, selber einen Jugendlichen sexuell belästigt zu haben. Er liess sein Amt vorerst ruhen. Drei Bischöfe sollen bei im Raum stehenden Missbrauchsfällen nicht wie vorgeschrieben gehandelt haben. Teils räumten sie schon Fehler ein, teils wiesen sie Vorwürfe aber auch zurück. Rom betraute Joseph Bonnemain, seit 2021 Bischof von Chur, mit Das altehrwürdige Kloster Saint-Maurice (VS): Hier sollen mehrere Kinder und Jugendliche Opfer sexueller Übergriffe geworden sein. Foto Keystone Schweizer Revue / Januar 2024 / Nr.1

von Missbräuchen einsetzen soll. Andernfalls wird im Herbst 2024 die zweite Hälfte der jährlichen Gelder ans Bistum zurückbehalten. Eine Sonderkommission der Synode will beurteilen, ob die Anstrengungen genügen. «Ein Paukenschlag donnert durch die katholische Kirche», kommentierte das Infoportal kath.ch. «Mein Vorgesetzter ist der Papst» Der Basler Bischof, der als Hoffnungsträger galt, war befremdet über den konfrontativen Beschluss des Kirchenparlaments. Ein Teil der Forderungen sei ja schon umgesetzt, argumentierte er, andere brächten die Schweizer Bischöfe in Rom vor. Vieles könne er nicht in Eigenregie erfüllen: «Mein Vorgesetzter ist der Papst und sonst niemand», so Gmür an die Adresse der Synode. Weitere Kantonalkirchen schlossen sich den Luzernern inhaltlich an, verzichteten aber darauf, Sanktionen vorzusehen. Einig sind sich viele darin, dass die Missbrauchsgeschichte tieferliegende Probleme in der katholischen Kirche offenlegt. Nicht nur bezüglich hierarchischer Strukturen, auch mit Blick auf Haltungen und Anschauungen. Laut der römisch-katholischen Zentralkonferenz braucht es eine «Abkehr von der leibesfeindlichen und homophoben Sexualmoral» sowie «die uneingeschränkte Anerkennung eines freien partnerschaftlichen Lebens für kirchliche Mitarbeitende». Auch die Zürcher Forschenden werfen in ihrer Studie die Frage auf, ob «katholische Spezifika» sexuellen Missbrauch allenfalls begünstigt haben: die Sexualmoral, das Zölibat, die Geschlechterbilder innerhalb der Kirche, ihr ambivalentes Verhältnis zur Homosexualität. Dem – wie auch weiteren Aspekten – gehen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nach. Auf ihre Pilotstudie folgt vertiefte Forschung. Diese hat die Kirche bis 2026 zugesichert. Die Studie ist unter diesem Link verfügbar (in Deutsch): revue.link/kirche Der Churer Bischof Joseph Bonnemain musste den Vertuschungsvorwürfen gegen Mitbischöfe nachgehen. Rom setzte ihn als Ermittler ein. Foto Keystone der Voruntersuchung. Dieser setzt sich in seiner Diözese stark gegen Missbrauch ein. Kritiker bezweifelten indes, dass er unabhängig gegen Mitbischöfe ermitteln könne. Worauf Bonnemain eine Strafrechtlerin und ein Kantonsrichter zur Seite gestellt wurden. Der Churer Bischof wollte seinen Bericht bis Ende 2023 abliefern (nach Redaktionsschluss dieser «Schweizer Revue»). Je nach Ergebnis kann die päpstliche Behörde Disziplinarmassnahmen aussprechen oder kirchliche Strafverfahren eröffnen. In Teilen der Basis verfestigte sich derweil der Eindruck, die Bischöfe würden trotz gegenteiliger Beteuerungen Schwachstellen beim Thema Missbrauch nicht entschieden genug angehen. Die Römisch-Katholische Zentralkonferenz erhob mehrere Forderungen. Diese zielen unter anderem auf Gewaltentrennung im Kirchenrecht ab. So brauche es ein schweizweites kirchliches Strafgericht, in das Laien und Fachpersonen eingebunden seien. Aufstand in den Stammlanden Katholische Kirchgemeinden landauf, landab bekamen den Unmut nach der Publikation der Studie durch eine Austrittswelle zu spüren. Die Kirchenflucht hält freilich schon länger an und trifft neben den Katholiken als grösste Landeskirche auch die Reformierten als zweitgrösste. Tausende kehren jährlich den beiden Kirchen den Rücken. Im Kanton Luzern, also in katholischen Stammlanden, war die Landeskirche nun derart alarmiert, dass sie zum offenen Aufstand überging. Vierzehn Kirchgemeinden beschlossen im September, Kirchensteuer-Zahlungen an ihr Bistum Basel zu sperren (siehe Interview). Im November stellte sich die Synode, das Parlament der Landeskirche im Kanton Luzern, hinter die Rebellinnen. Sie überwies einen Vorstoss, wonach sich der Basler Bischof Felix Gmür für eine griffigere Bekämpfung Die Kirchenbänke – hier in St. Gallen – lichten sich seit Jahren. Die römisch- katholische Kirche sieht sich mit vielen Kirchenaustritten konfrontiert. Foto Keystone Schweizer Revue / Januar 2024 / Nr.1 6 Schwerpunkt

sich richtig findet, soll sie weiterhin wählen können. Aber sie darf kein Zwang mehr sein. Sexualität ist ein gottgegebenes Geschenk. Das Pflichtzölibat schafft zudem einen Risikofaktor für Missbräuche. Studien deuten darauf hin, dass es teilweise Leute mit problematischen Seiten anzieht, zum Beispiel Personen mit pädophilen Neigungen. Sie fordern, dass Schweizer Bischöfe sich für Reformen einsetzen. Diese argumentieren, das gehe nicht ohne Rom. Auf mich wirkt das wie eine Ausrede. Roms Langsamkeit geht komplett an den Lebensrealitäten in der Schweiz vorbei. Schweizer Bischöfe bekunden zwar ihre Reformbereitschaft, handeln aber nicht. Wir müssen mutig sein und einen Weg finden, um Reformen in der Schweiz wenigstens ansatzweise umzusetzen, auch mit dem Risiko, dass der Vatikan negativ reagiert. Viel Zeit bleibt nicht mehr. Für die katholische Kirche ist es in meinen Augen fünf nach zwölf. Welches Verhältnis haben Sie persönlich heute zur katholischen Kirche? Ich bin mit ihr aufgewachsen, sie liegt mir am Herzen. Und ich habe die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben, dass sie sich wandeln kann. Deshalb investiere ich Energie und Zeit, um etwas zu bewegen. Dass die Initiative unserer kleinen Kirchgemeinde Adligenswil so breite Kreise gezogen hat, ist ermutigend. Die Menschen sehen, dass etwas geht. Ob es gelingt, die Glaubwürdigkeit der Kirche wieder herzustellen, wird sich zeigen. Zur Person: Monika Koller Schinca ist seit 2021 Präsidentin der Kirchgemeinde Adligenswil in der Nähe der Stadt Luzern. Die 50-Jährige führt ein Coaching-Büro. Sie ist verheiratet und Mutter von drei Kindern. Monika Koller Schinca fordert «schonungslose Aufklärung, konsequentes Durchgreifen», denn die Menschen verlören das Vertrauen in die Kirche. Foto ZVG «Mutig sein und Reformen umsetzen» Nach Bekanntwerden von über tausend Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche sperrte die Kirchgemeinde im luzernischen Adligenswil Zahlungen ans Bistum. In der Kirche müsse sich vieles ändern, sagt Kirchgemeindepräsidentin Monika Koller Schinca, eine Stimme der Basis. genügende Reaktion der Bischöfe auf die Studienergebnisse. Jetzt sind Taten erforderlich statt nur Worte: schonungslose Aufklärung, konsequentes Durchgreifen. Denn die Menschen verlieren das Vertrauen in die katholische Kirche. Sie laufen uns in Scharen davon. Deshalb setzten Sie ein Zeichen, obwohl die Missbräuche schon länger ein Thema sind? Ja. Das Zeichen sollte von der Basis kommen und stark sein. Deshalb verknüpfen wir unsere Forderungen mit finanziellem Druck. In den Dörfern unserer Region ist die Kirche immer noch ein wichtiger Bestandteil der Gesellschaft, viele engagieren sich und möchten einen Beitrag leisten. Nach der Publikation der Studie erhielten wir überdurchschnittlich viele Austrittsschreiben. Was mich besonders betroffen machte: Diesmal traten vermehrt auch ältere Menschen aus, die noch zur Generation der regelmässigen Kirchgänger gehören. Etwas stimmt grundlegend nicht mehr. Neben der Aufarbeitung des Missbrauchs sind Reformen und ein Kulturwandel überfällig. Wir wollten etwas in Bewegung bringen und am System rütteln. Was muss sich ändern? Etwas vom Wichtigsten ist, dass Frauen gleiche Rechte erhalten. Im Kanton Luzern sind 60 Prozent der Kirchenangestellten und 75 Prozent der freiwillig Engagierten weiblich. Unsere Kirche wird zu einem grossen Teil von Frauen getragen, doch je höher in der Hierarchie, desto mehr dominieren die Männer. Frauen dürfen sich immer noch nicht weihen lassen, weder zur Priesterin noch zur Diakonin. Weiter gehört das Pflichtzölibat im Priesterberuf abgeschafft. Wer die enthaltsame, ehelose Lebensform für INTERVIEW: SUSANNE WENGER «Schweizer Revue»: Sie sind in Adligenswil Kirchenratspräsidentin. Was ist das für ein Amt? Monika Koller Schinca: Die römisch-­ katholische Kirche der Schweiz hat in einem weltweit einzigartigen System zwei Standbeine: ein pastorales mit den Bistümern und Pfarreien sowie ein staatskirchenrechtliches oder weltliches mit den kantonalen Landeskirchen und den Kirchgemeinden. Mein Amt gehört zur weltlichen Struktur. Unser demokratisch gewählter Kirchenrat ist verantwortlich für Finanzen, Bauten und Anstellungen, während die Pastoralen für die kirchlichen Inhalte zuständig sind. Wir arbeiten eng zusammen. Ihre Kirchgemeinde begann den Aufstand mit dem Zahlungsstopp ans Bistum, den später auch das kantonale Kirchenparlament androhte (siehe Hauptartikel). Was bewog Sie zum ungewöhnlichen Schritt? Die hohe Zahl der belegten Missbrauchsfälle schockiert uns. Wir fühlen uns solidarisch mit allen Betroffenen. Es gab immer wieder Fälle, in denen Kirchenverantwortliche Taten vertuscht haben. Das finden wir beschämend. Den Ausschlag gab die unSchweizer Revue / Januar 2024 / Nr.1 7

Schweiz reduziert den Schutz des Wolfes markant Der Bundesrat erlaubt seit dem 1. Dezember 2023 den präventiven Abschuss von Wölfen. In begründeten Fällen sollen auch ganze Rudel abgeschossen werden dürfen. Damit reduziert der Bundesrat den Schutz des Wolfes markant. Bislang war lediglich der Abschuss von Wölfen erlaubt, die Schaden stifteten und Nutztiere rissen. Heute leben in der Schweiz 32 Wolfsrudel. Laut Umweltminister Albert Rösti wolle man schweizweit immer mindestens zwölf Rudel leben lassen. Diese Zahl ist tiefer als fürs Überleben der Spezies erforderlich: Vor drei Jahren sagte der Wildtierspezialist des Bundes, Reinhard Schnidrig, in der «Schweizer Revue»: «Platz hätte es in den Schweizer Alpen und im Jura für rund 60 Rudel mit 300 Tieren. Das ist die ökologische Kapazitätsgrenze. Die untere Grenze liegt beim Artenschutz: Um den Wolf über mehrere Generationen zu erhalten, braucht es rund 20 Rudel.» Die Lockerung des Schutzes ist somit primär politisch und nicht fachlich motiviert. Zur Erinnerung: Die Stimmberechtigten hatten sich vor drei Jahren an der Urne klar für den Schutz des Wolfes ausgesprochen. – Zum Interview: revue.link/wolf. (MUL) Ukrainische Flüchtlinge können länger bleiben Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine sind Zehntausende Ukrainerinnen und Ukrainer in die Schweiz geflüchtet. Ihnen gewährte die Schweiz den sogenannten Schutzstatus S. Er erlaubt eine rasche, befristete Aufnahme ohne Asylverfahren. Der Bundesrat hat nun entschieden, geflüchteten Ukrainerinnen und Ukrainern den Status S länger zu gewähren, bis mindestens am 4. März 2025. Die Landesregierung geht nämlich nicht von einem raschen Kriegsende aus. Die Schweiz zieht damit mit der EU gleich, die die Verlängerung bereits früher beschlossen hatte. (MUL) Steigende Zahl antisemitischer Übergriffe Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel und der Reaktion Israels darauf hat auch in der Schweiz die Zahl antisemitischer Vorfälle zugenommen – um rund einen Viertel. Die Präsidentin der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus, Martine Brunschwig Graf, sagt, dass nebst der Zahl der Vorfälle deren Intensität auffalle. Sie beobachte aber auch vermehrt Spannungen, die gegen Muslime gerichtet seien. Mit scharfen Worten reagierte im November der Schweizerische Israelitische Gemeindebund auf die Entwicklung und verlangte eine klarere Verurteilung des Antisemitismus durch den Bundesrat. (MUL) Lauer Applaus für die Schweizer National-Elf Die Fussballnationalmannschaft der Schweiz wird auch nächstes Jahr an einem grossen Turnier mitspielen. Sie qualifizierte sich für die im Sommer 2024 in Deutschland stattfindenden Fussball-Europameisterschaften. In der Qualifikationsgruppe mit Andorra, Belarus, Israel, Kosovo und Rumänien wähnte sich die Schweizer National-Elf unter Trainer Murat Yakin zunächst in der klaren Favoritenrolle. Dieser wurde sie nicht wirklich gerecht. (MUL) Simon Ammann Wie viele Sekunden verbrachte der Schweizer Skisprung-Weltmeister Simon Ammann seit Karrierebeginn – im zarten Alter von elf Jahren – wohl in der Luft? Rund 4000 Sprünge zu je vier Sekunden: Das ergibt gut vier Stunden, die er zwischen Himmel und Erde schwebte. Bedenkt man, dass Skispringer diese Momente als zeitlos beschreiben, ist das enorm lang. Die unbeschreibliche Freude, mit Skiern an den Füssen und über 100 km/h durch die Luft zu fliegen, ist die Motivation für das Sportlerleben von Simon Ammann, dem Skispringer aus dem kleinen Dorf Unterwasser (SG). Er fliegt immer noch, obwohl die Presse Jahr für Jahr von seinem Rücktritt spricht. Auf Fotos aus dem Jahr 2002 feiert der gebürtige St. Galler zwei Goldmedaillen, die er bei den Olympischen Spielen in Salt Lake City gewann. Sein zerzaustes Haar steht über seiner ovalen Brille von seinem Kopf ab. Er trägt ein einfaches braun kariertes Hemd. Für die Amerikaner sah er aus wie Harry Potter. Für die Schweizer ist er die Toggenburger Meise. Ein Bauernsohn. Simon? Simi? Bekannte grüssen ihn als guten Freund. Kenner heben seine kompakte Haltung beim Absprung und seine Fähigkeit, in der Luft stabil zu bleiben, hervor. Die Präzision seiner Landungen ist bemerkenswert. Diese Qualitäten machten Simi zu einem Weltstar: vierfacher Olympiasieger und zweimaliger Goldmedaillengewinner. Sein Leben verlief jedoch nicht immer geradlinig. Im Jahr 2015 stürzt er schwer. Von da an hält Simon den Schwung seiner Sprünge zurück und landet mit dem rechten statt mit dem linken Fuss. Eine kleine Revolution. Im März 2023 war der 41-jährige Simi Veteran und bester Vertreter der Schweiz auf der Grossschanze bei den Weltmeisterschaften in Planica, Slowenien. Und er wird wieder fliegen. STÉPHANE HERZOG Schweizer Revue / Januar 2024 / Nr.1 8 Herausgepickt Nachrichten

DENISE LACHAT Welches ist das beliebteste Haustier in der Schweiz? Genau, es ist – der Fisch. Vielleicht geht es Ihnen wie vielen, und Sie hätten spontan auf die Katze getippt, aber zahlenmässig schwimmt der Fisch obenauf, wie der Schweizer Tierschutz (STS) weiss. Wie viele Exemplare sich in kleineren und grösseren Heimaquarien tummeln, ist nicht exakt bekannt. Es müssen ziemlich viele sein. Denn auf der Rangliste der beliebtesten Haustiere folgt nun also doch die Katze auf Platz zwei; von den Pelznasen gibt es immerhin bald einmal zwei Millionen im Land. Auf Platz drei kommt der Hund mit einer halben Million. Allerdings rückt derzeit ein Tier in den Fokus, das nicht spontan mit Kuscheln und Streicheln in Verbindung gebracht wird (was allerdings beim Fisch ja auch nicht wirklich der Fall ist): das Huhn. Ja, das Huhn hat bei Schweizerinnen und Schweizern einen Stein im Brett. Schätzungsweise 70000 private Haushalte halten Hühner als Haustiere, Tendenz steigend. «Hühner werden immer beliebter. Dazu dürfte auch die Covid-Pandemie beigetragen haben», bestätigt Sarah Camenisch, Sprecherin des BundesDas Huhn boomt in Schweizer Gärten als neues Haustier Das Huhn wird immer mehr vom Nutztier zum Haustier. Bereits stehen in Zehntausenden privaten Gärten Hühnerställe. Darauf reagiert nun auch das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen. amts für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV). Die exakten Gründe für diese Beliebtheit sind durch keine fundierte Befragung belegt, Camenisch tippt aber unter anderem auf ein wachsendes Bedürfnis nach Natur. Aus allgemeinen CovidBefragungen ist bekannt, dass die Zeit der Pandemie bei Schweizerinnen und Schweizern ein Gefühl der Naturverbundenheit aufflammen liess. Boutiquen, Restaurants, Schulen, Fitnesscenter und Skigebiete: alle zu. So war plötzlich Zeit vorhanden für Spaziergänge in der Natur, fürs Brotbacken und für Einkäufe von frischem Höher, weiter, schneller, schöner? Auf der Suche nach den etwas anderen Schweizer Rekorden. Heute: Das trendigste Schweizer Haustier der Gegenwart. Bild iStockphoto Schweizer Revue / Januar 2024 / Nr.1 9 Reportage

«Entscheidend ist, dass die Interessen der Tiere gewahrt werden – ganz egal, ob jemand Blauwale, Honigbienen oder eben Hühner hält» Bernd Schildger, ehemaliger Zoodirektor in Bern ebenfalls geschlossen sein muss. Sie ist auch empfehlenswert, damit die Tiere im Fall einer Tierseuche wie der Vogelgrippe nicht im Stall eingeschlossen sein müssen. Diese Infrastruktur geht rasch ins Geld, wie Samuel Furrer vom STS zu bedenken gibt. Für drei Hühner ist – je nach handwerklicher Begabung – mit 1500 bis 4000 Franken zu rechnen, dazu kommen jährliche Futterkosten von rund 400 Franken. Hühner sollten nämlich nicht mit Essensresten aus Gemüse direkt ab Bauernhof. Während der Pandemie wurden auch viele Hunde und Katzen angeschafft, denn viele Menschen fühlten sich im Homeoffice und beim Fernstudium allein. Dass mit dem Huhn ein Nutztier zum neuen Heimtier wird, schreibt Samuel Furrer, Zoologe und Geschäftsführer Fachbereich beim STS, auch dem allgemeinen Trend zu, dass immer mehr Konsumentinnen und Konsumenten wissen wollen, woher ihre Nahrungsmittel stammen und wie sie und betont, Hühner seien keine Streichel-, sondern Beobachtungstiere. Weil es auch sonst noch einige Punkte bei der privaten Hühnerhaltung zu beachten gibt, hat das BLV gemeinsam mit dem STS im Frühling 2023 eine schweizweite Kampagne lanciert mit einem doppelten Ziel: das Tierwohl zu schützen und die Verbreitung von Tierseuchen zu vermeiden. Wer privat Hühner halten möchte, sollte zunächst einmal genügend Platz haben. Zum Scharren, Picken und Staubbaden sind 50 Quadratmeter Weide für drei Hühner ideal. Hier muss gleich angefügt werden, dass Hühner Gruppentiere sind und darum nicht allein gehalten werden dürfen. Es braucht also mindestens zwei, ideal wären drei. Der abschliessbare Stall sollte für drei Hühner mindestens zwei Quadratmeter gross sein. Daneben braucht es eine Volière, die für den Schutz vor Fuchs und Marder Das Haustier Huhn interessiert selbst den Staat: Private Halter müssen ihre Tiere bei der Veterinärbehörde melden, als Massnahme gegen die Seuchenausbreitung. Foto Keystone Das Huhn ist zwar kein Kuscheltier. Aber menschliche Nähe erträgt es durchaus. Foto Keystone produziert werden. Wann wüsste man das besser als bei seinem eigenen Tier? «Es gibt private Halter, die ihre Hühner schlachten und essen», sagt Furrer. Die meisten aber begnügten sich mit den Eiern. Das trifft besonders auf jene zu, die ihren Schützlingen einen Namen geben und sie zärtlich in den Arm nehmen, wie man sich das beispielsweise bei den kuschelig aussehenden Zwerg-Cochins gut vorstellen kann. Für Tierwohl, gegen Tierseuchen Nun ja, eigentlich sollten Hühner weder an die Brust gedrückt noch herumgetragen werden. «Das mögen viele nicht», sagt Sarah Camenisch Schweizer Revue / Januar 2024 / Nr.1 10 Reportage

der Familienküche ernährt werden, sondern mit Pellets oder Futtermehl auf der Basis von Mais. Wie andere Haustiere braucht ein Huhn manchmal auch den Tierarzt. Gemäss der Gesellschaft Schweizer Tierärztinnen und Tierärzte gibt es Praxen, die sich auf die Behandlung von Heimtieren wie Vögeln und Kaninchen spezialisiert haben. Für diese Praxen sei die Behandlung von Hühnern so alltäglich wie für andere Hund und Katze. Behandelt werden Atemwegsinfektionen, Verletzungen oder Krankheiten des Legeapparates, Würmer, Flöhe, Milben und andere Parasiten. Fazit: Die Anschaffung von Hühnern sollte gut überlegt sein. Ein «Must» ist die Anmeldung bei den zuständigen kantonalen Ämtern, damit im Falle von Tierseuchen wie der Vogelgrippe oder der Newcastle-Disease sofort Schutzmassnahmen ergriffen werden können. Um das Ausbreiten einer Seuche zu verhindern, müssen Hühner dann eventuell im Stall bleiben. Hühner adoptieren Das Haustier Huhn bleibt zwar eine Marginalie gegenüber dem Nutztier Huhn, von dem im Jahr 2022 in der Schweiz mehr als 13 Millionen gehalten wurden; rund 4 Prozent mehr als im Vorjahr. Gleichzeitig picken und scharren immer mehr «ausrangierte» Legehennen in Hausgärten; sie wurden von Privaten adoptiert. Tatsächlich sind Legehennen für die Intensivmast während der vier bis sechs Wochen dauernden Mauser für die Industrie nicht mehr interessant, weil sie in dieser Zeit keine Eier legen. Für die Hühner bedeutet dies nach rund einem Jahr das frühe Ende ihres Lebens, das gut und gerne vier bis sechs Jahre dauern kann. Nach der Mauser legen Hühner wieder täglich ein Ei, wie Samuel Furrer betont. Ihm gefallen Initiativen wie «Adopte une cocotte» oder «Rettet das Huhn». «Auf diese Weise können die Hühner einen gemütlichen Lebensabend verbringen.» Sie müssten sich aber gut einleben und sozial anpassen können, da sie aus einer Massenhaltung und Intensivmast mit energiereichem Futter kämen. Bewusstsein für Tiere Ist das Huhn das gegenwärtig trendigste Haustier der Schweiz? «Wir wissen es mangels Vergleichszahlen nicht wirklich», sagt Furrer. Man könne aber schon von einem Boom sprechen. Es wäre übrigens nicht der erste. In den sozialen Medien lassen Stories von süssen Minipigs die Herzen höher schlagen, dabei gehören die Minischweine genauso wenig ins Bett ihrer Halter wie das Huhn. Für den Veterinärmediziner Bernd Schildger, den ehemaligen Direktor des Tierparks Dählhölzli in Bern, zu dem auch der Berner Bärenpark gehört, ist das der springende Punkt. Schildger sagt: «Entscheidend ist, dass die Interessen der Tiere gewahrt und nicht die Bedürfnisse der Menschen befriedigt werden – ganz egal, ob jemand Blauwale, Honigbienen oder eben Hühner hält.» Dass Menschen individuell Tiere halten, befürwortet Schildger grundsätzlich mit einem leidenschaftlichen Ja. Denn der Mensch habe sich von der Natur und den Tieren entfremdet und sie aus seiner Umgebung wie auch aus seinem Bewusstsein verbannt. «Warum wohl werden Schlachthöfe mit Stacheldraht eingezäunt?», fragt er. Mit anderen Worten: Was der Mensch nicht sieht, lässt ihn kalt. Wenn nun das Tier danke der privaten Tierhaltung wieder ins menschliche Bewusstsein rücke, erhalte es Schutz. Für das Huhn, das industriell unter teils schlimmsten Bedingungen lebe, «tun private Halterinnen und Halter also etwas Gutes». Hühner sind selbstverständlich mehr als Eierproduzentinnen. Sie haben ihren eigenen Charme und eine Persönlichkeit. Die lustigen Tiere, die uns mit schräg gelegtem Kopf aufmerksam anschauen und zum Schmunzeln bringen, sind zudem kommunikativ und daher eher laut. Vor einer Anschaffung lohne sich darum sicher ein Gespräch mit den Nachbarn, meint BLV-Vertreterin Sarah Camenisch. Wenn man bedenkt, dass Schweizer wegen des Geläuts von Kirchturm- oder Kuhglocken schon vor Gericht gezogen sind, hat sie damit wohl Recht. Insgesamt aber scheint das Huhn ein Sympathieträger zu sein, das ein Stück heile ländliche Schweiz auch in urbane Gärten bringt. Es dient kaum als Streitobjekt wie die Katze, die Tausende von Vögeln auf dem Gewissen hat. Tierschutz-Vertreter Samuel Furrer nimmt die Katze indes in Schutz: Neben Raschelhalsbändern für die Katzen könnten mehr Hecken und Sträucher in Privatgärten den Vögeln Rückzugsmöglichkeiten bieten. Mehr Naturnähe wäre somit auch in diesem Fall ein gangbarer Weg. Erneuert das Huhn nach einem Jahr sein Gefieder, legt es keine Eier und wird damit «kommerziell uninteressant». Oft «adoptieren» Private ausgestallte Hühner. Foto iStock Welche Motive gibts fürs Haustier Huhn? Ein oftgenanntes: Es sind eher die Eier und nur äusserst selten das Fleisch. Foto iStock Schweizer Revue / Januar 2024 / Nr.1 11

THEODORA PETER Die Erneuerungswahlen des Bundesrates vom 13. Dezember 2023 standen ganz im Zeichen der Kontinuität. Eine Mehrheit des Parlamentes wollte nicht an den bisherigen Machtverhältnissen rütteln. So setzt sich der Bundesrat auch in den nächsten vier Jahren aus je zwei Mitgliedern von SVP, SP, FDP sowie einem Mitglied der Mitte zusammen (Seite 13). Das ungeschriebene Gesetz der «Zauberformel» sieht eine Koalitionsregierung vor, in der die vier grössten Parteien gemäss ihrem Wähleranteil vertreten sind. Nach dem Wahlsieg der SVP und dem Erstarken der SP waren deren Machtansprüche unbestritten. Die beiden grössten Parteien repräsentieren Wähleranteile von 27,9 Prozent (SVP) beziehungsweise 18,3 Prozent (SP). Deutlich weniger abgestützt ist der Machtanspruch der drittplatzierten FDP: Sie erreichte nach den eidgenössischen Wahlen noch eine Parteistärke von 14,3 Prozent – und liegt damit nur noch hauchdünn vor der Mitte-Partei (14,1 Prozent). Mit anderen Worten: Weshalb die Freisinnigen zwei Bundesratssitze besetzt und die fast gleich starke Mitte «nur» einen, lässt sich kaum rechtfertigen. Trotzdem verzichtete die MittePartei im Dezember darauf, zulasten der FDP einen zweiten Regierungssitz einzufordern. Begründet wurde dies mit dem «Respekt vor den Institutionen». Man wolle keine amtierenden Bundesräte abwählen, machte Mitte-Präsident Gerhard Pfister schon frühzeitig klar. Denn die bisherigen FDP-Regierungsmitglieder Ignazio Cassis und Karin Keller-Sutter stellten sich für eine neue Amtsperiode zur Wahl. Auch die SVP plädierte angesichts von Krisenzeiten für Stabilität – und wollte naturgemäss ihren Bündnispartner im rechten Lager nicht ohne Not schwächen. Grüner Angriff scheitert Zum Angriff auf einen der beiden FDPSitze bliesen jedoch die Grünen als fünftgrösste Partei. «Eine Regierung ist dann stabil und stark, wenn so viele Wählerinnen und Wähler wie möglich darin vertreten sind», erklärte Fraktionschefin Aline Trede. Die Grünen repräsentieren einen Parlament setzt im Bundesrat auf Stabilität Bei der parteipolitischen Zusammensetzung des Bundesrates bleibt die vielbeschworene «Zauberformel» bestehen: Die vier grössten Parteien teilen die sieben Regierungssitze unter sich auf. Doch das Unbehagen gegenüber dem «Machtkartell» wächst. Wähleranteil von knapp 10 Prozent. «Damit sind wir arithmetisch näher an einem Bundesratssitz als die FDP mit ihren 14 Prozent an zwei Bundesratssitzen.» Auch die kleineren Grünliberalen (GLP, Parteistärke 7,6 Prozent) kritisierten, der Wählerwille sei in der aktuellen Zusammensetzung zu wenig berücksichtigt. «Ein Viertel der Wählerschaft ist nicht im Bundesrat vertreten», gab GLP-Fraktionschefin Corina Gredig zu bedenken. Es sei deshalb legitim, den zweiten Sitz der FDP in Frage zu stellen. Der grüne Kampfkandidat Gerhard Andrey scheiterte aber letztlich klar, und beide FDP-Regierungsmitglieder wurden komfortabel im Amt bestätigt. Das lag auch daran, dass die SP bei diesen Gesamterneuerungswahlen wenig Lust verspürte, die geltende «Zauberformel» aufzubrechen. Denn Das strahlende Lachen des Neuen: Beat Jans ersetzt im Bundesrat den zurückgetretenen Alain Berset. Mit dem Sozialdemokraten Jans ist der Kanton Basel-Stadt nach 50 Jahren wieder in der Landesregierung vertreten. Foto Keystone Kleinere Parteien bleiben im Bundesrat aussen vor. Ein Viertel der Wählenden ist somit nicht in der Regierung repräsentiert. Schweizer Revue / Januar 2024 / Nr.1 12 Politik

die linke Partei war am 13. Dezember auf Stimmen aus dem rechten Lager angewiesen, um den Sitz des zurücktretenden SP-Magistraten Alain Berset in den eigenen Reihen zu halten. Dies trug ihr seitens der Grünen den Vorwurf ein, ihre Seele dem «Machtkartell» verkauft zu haben. Im Dilemma steckten die Sozialdemokraten nicht zuletzt wegen des Wahlprozederes. Der vakante SP-Sitz stand an letzter Stelle auf der Traktandenliste – also nach den Bestätigungswahlen der bisherigen sechs Regierungsmitglieder. Die Partei musste deshalb befürchten, von SVP und FDP abgestraft zu werden, wenn sie zuvor die Kampfkandidatur der Grünen allzu offensiv unterstützt hätte. Dieses Stillhalte-Kalkül ging auf: Das Parlament wählte schliesslich einen der beiden offiziellen SP-Kandidaten zum Nachfolger von Alain Berset. Neues Gesicht im Bundesrat Das Rennen machte der bald 60-jährige Basler Regierungspräsident und frühere Nationalrat Beat Jans. Der SPMann präsentierte sich als Brückenbauer und versprach eine Amtsführung der «offenen Türen». Mit Jans stellt der Stadtkanton erstmals seit über 50 Jahren wieder einen Bundesrat. Überhaupt sind mit ihm die urbanen Zentren wieder besser in der Landesregierung vertreten. Auch endet mit dem Abgang des Freiburgers Alain Berset die vorübergehende Mehrheit von Romands und Tessinern im Bundesrat: Fortan stammen vier der sieben Regierungsmitglieder wieder aus deutschsprachigen Regionen. Dazu gehört auch die Walliserin Viola Amnen Weg fortsetzen zu wollen. Es sei offensichtlich, dass «die elektronische Stimmabgabe für viele Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer ein wichtiges Instrument für die politische Mitbestimmung darstellt». Richtig sei daher, dass die im Ausland wohnhaften Stimmberechtigten zur priorisierten Zielgruppe gehörten. SP Elisabeth Baume-Schneider Departement des Innern (EDI) SP Beat Jans Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) Die Mitte Viola Amherd Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS) FDP Karin Keller-Sutter Finanzdepartement (EFD) FDP Ignazio Cassis Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) SVP Albert Rösti Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK) SVP Guy Parmelin Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung (WBF) herd (Mitte), die 2024 die Regierung präsidiert. Das Parlament wählte zudem einen neuen Bundeskanzler, der als Stabschef die Regierungsgeschäfte koordiniert. Auf den abtretenden Walter Thurnherr, welcher der Mitte-Partei angehörte (Porträt siehe «Revue» 6/2023), folgt sein Stellvertreter Viktor Rossi von den Grünliberalen. Damit eroberte erstmals ein Mitglied einer Nichtregierungspartei den Posten im Zentrum der Macht. Als Chef der Bundeskanzlei ist Rossi künftig auch für das Vorantreiben des elektronischen Abstimmens (E-Voting) verantwortlich. In einer Vorwahl-Umfrage der Auslandschweizer-Organisation versicherte Rossi, den eingeschlageRelativierter Rechtsrutsch Bei den eidgenössischen Wahlen vom Herbst 2023 ging die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei (SVP) im Nationalrat als klare Siegerin hervor (siehe «Schweizer Revue» 6/2023). Im Ständerat, der zweiten Parlamentskammer, wurde der Siegeszug der grössten Rechtspartei aber gebremst. In mehreren Kantonen scheiterten SVP-Kandidaten trotz aussichtsreicher Position jeweils im zweiten Wahlgang, so insbesondere im Kanton Zürich. Auch die FDP blieb weit hinter ihren eigenen Erwartungen zurück. Im Gegenzug baute die Mitte ihre führende Rolle im Ständerat aus. Im linken Lager festigte die SP ihre Position, während die Grünen weiter verloren. Zurück im Ständerat sind die Grünliberalen (GLP). Die Verteilung der 46 Ständeratssitze im Detail – im Vergleich zu den Wahlen 2019: Mitte 15 Sitze (+2 Sitze), FDP 11 (–1), SP 9 (–), SVP 6 (–), Grüne 3 (–2), GLP 1 (+1), MCR 1 (+1). Im Gesamtbild zeigt sich, dass der Ständerat auch künftig von konservativen Kräften dominiert wird. Doch wird die Mitte noch stärker als bisher das Zünglein an der Waage spielen. (TP) Alle Wahlresultate von Nationalrat und Ständerat im Überblick: www.wahlen.admin.ch/de/ch/ Schweizer Revue / Januar 2024 / Nr.1 13

STÉPHANE HERZOG Dreissig Jahre nach der Schliessung der offenen Heroinszenen am Platzspitz und am Letten werden in Zürich wieder in aller Öffentlichkeit harte Drogen konsumiert. «Solche Szenen sind in allen grossen Schweizer Städten zu beobachten, aber auch in Biel, Vevey, Solothurn, Brugg und sogar Chur», sagt Frank Zobel, stellvertretender Direktor von Sucht Schweiz. In Chur (GR) besetzen Drogenkonsumenten einen Park. Ebenso im Zentrum von Zürich: die Bäckeranlage. In Genf bevölkern Crack-Süchtige das Quartier rund um den Bahnhof Cornavin. Diesmal steht nicht Heroin, sondern Kokain im Mittelpunkt der Krise. Das weisse Pulver überschwemmt Europa und verdrängt das Heroin; es wird zu Dumpingpreisen angeboten und sein Reinheitsgrad beträgt bisweilen über 70 Prozent. «So etwas hat es noch nie gegeben», sagt Frank Zobel, der einen Bericht über die Crack-Schwemme in Genf verfasst hat. Crack wird aus Kokain hergestellt und in einer Glaspfeife geraucht. Seine Wirkung ist jäh. Sobald die unterdrückten Gefühle wieder zurückkehren, beginnt das Reissen nach dem nächsten Kick. Die Droge wird in der Schweiz schon seit Jahren konsumiert. Doch ihre Verfügbarkeit ist rasant gestiegen. «Das Angebot hat sich innert eines Jahres verdoppelt», sagt Nicolas Dietrich, Beauftragter für Suchtfragen des Kantons Freiburg. Konsumfertiges Crack Aussergewöhnlich ist die explosionsartige Entwicklung in Genf. Nicht zuletzt, weil hier das Crack konsumfertig verkauft wird, und zwar von französischsprachigen Dealern afrikanischer Herkunft, die via Frankreich in die Schweiz gekommen sind. Die Dealer haben inzwischen einen Markt etabliert, der auf dem Verkauf kleiner Mengen zu tiefen Preisen basiert. Zuvor kauften die Crack-Konsumenten das Kokain auf der Strasse und das Backpulver in der Migros, um dann das Crack zu Hause zuzubereiten. Das Discount-Crack hat alles beschleunigt. Täglich versammeln sich Dutzende rund um Quai 9, den Drogenkonsumraum neben dem Bahnhof Cornavin. «Ein Drittel stammt aus Genf, ein Drittel aus Frankreich und ein Drittel hat einen Migrationshintergrund», schätzt Camille Robert, CoLeiterin der Westschweizer Vereinigung für Suchtforschung. Im Juni schloss «Première ligne», der Verein, der Quai 9 betreibt, für eine Woche seine Türen. Der Grund: aggressives Verhalten von Crack-­ Süchtigen und Schlägereien vor dem Lokal. «Mitarbeitende erlebten Streitereien im Lokal», erzählt Thomas Herquel, Direktor des Vereins. Seither ist der «Raucherraum» für die Crack- Rauchenden nicht mehr geöffnet, mit Crack-Schock in Schweizer Städten Seit 2022 überschwemmt billiges konzentriertes Kokain die Schweiz. Ein Teil davon wird als Crack verkauft. In mehreren Kantonen sind inzwischen offene Drogenszenen entstanden. Genf ist besonders schwer betroffen. Ausnahme derjenigen, die im Quai 9 auf einem der zwölf Feldbetten schlafen. Die Schliessung sorgte für einen Schock, gibt Pascal Dupont zu, Leiter von Entracte, einem Genfer Tageszentrum für Drogenabhängige. Die rasante Zunahme des Crack-Konsums trifft auch die spezialisierten Einrichtungen. «Crack ist wie eine Reihe von Explosionen, die schnell aufeinander folgen. Für die Süchtigen, die oft aus einem von Verletzlichkeit und Depression geprägten Umfeld stammen, reduziert sich alles auf den unmittelbaren Moment; jede zeitliche Perspektive verschwindet», sagt Gérald Thévoz, Suchtexperte und Berater im psychosozialen Bereich. Wer Crack konsumiere, esse, trinke und schlafe nicht mehr. «Jene, die unter Drogeneinfluss stehen, nehmen ihr soziales Umfeld nicht mehr wahr», sagt Thévoz. Ihr Zustand macht den Menschen Angst, und die Bindungen, die sie zu ihrer Umgebung haben, lösen sich. «Mein oberstes Ziel ist, dass ein Drogenkonsument, der einmal zu Entracte kommt, auch wiederkommt», betont Pascal Dupont. Er erlebt, dass langjährige Stammgäste den Kontakt abbrechen. Manchmal braucht es einen Spitalaufenthalt, damit ein Ausweg sichtbar wird. Medikamente in Freiburg Angesichts der Krise hat der Genfer Staatsrat ein Programm mit einem Budget von sechs Millionen Franken aufgegleist, das unter anderem mehr Polizeipräsenz vorsieht. Das Lokal Quai 9 wird vergrössert, das Personal aufgestockt. Den Konsumenten werden zusätzliche Schlafplätze zur Verfügung gestellt. Die Idee dahinter ist, den Abhängigen, von denen ein Konsumfertige Kleinportionen zu Discountpreisen haben in Genf die Verbreitung von Crack wesentlich beschleunigt. Foto Nils Ackermann/Lundi13 Schweizer Revue / Januar 2024 / Nr.1 14 Gesellschaft

zogen. «Wir nehmen Menschen auf, die möglicherweise kurz vor der Rente stehen, oft krank sind und manchmal in Hotels leben. Was sind ihre Perspektiven?», fragt Pascal Dupont. In Genf bringen die Sozialarbeiter von Quai 9 erschöpften Konsumenten, die sie auf der Strasse gefunden haben, Wasserflaschen und Essen. Notunterkünfte bieten Verschnaufpausen, und Einrichtungen nehmen so gut es geht Crack-Konsumenten auf, aber die üblichen Schwellenwerte – z. B. die Mindestaufenthaltsdauer – sind für diese instabilen Menschen manchmal zu hoch. «Die Politik will vermeiden, dass durch eine kontrollierte Abgabe von Drogen neue Probleme entstehen, aber man muss auch über medizinische und psychosoziale Massnahmen nachdenken, um diese Menschen zu begleiten», betont Gérald Thévoz. Der Spezialist spricht von einer Behandlung mit ärztlich verschriebenem Heroin. Und die Behörden in Zürich, Bern und Lausanne prüfen die Möglichkeit eines regulierten Verkaufs von Kokain. Teil keinen Anspruch auf Sozialhilfe hat, eine Rückzugsmöglichkeit zu bieten. Dies gilt für Konsumenten aus Frankreich ebenso wie für Obdachlose aus Genf, darunter auch Frauen und Männer mit Migrationshintergrund. In anderen Teilen der Schweiz wird Crack von den Konsumenten «gekocht» und zum Teil weiterverkauft. «Kokain ist allerorts im Überfluss verfügbar», sagt Frank Zobel. «Die Szenen variieren je nach sozialer und geografischer Zusammensetzung», ergänzt Nicolas Cloux, Direktor der Stiftung für Drogenhilfe Le Tremplin in Freiburg. Im Kanton Freiburg nehmen jene, die psychotrope Substanzen konsumieren, mehr Medikamente zu sich als anderswo in der Schweiz. «Wenn das Fertig-Crack bei uns ankommt, werden wir von den Erfahrungen in Genf profitieren», meint Nicolas Dietrich, kantonaler Beauftragter für Suchtfragen in Freiburg. Sein Kanton erlebte bereits die Anfänge der Droge und hat deshalb eine Arbeitsgruppe eingerichtet, die sich mit Crack befasst. Soziale und wirtschaftliche Unsicherheit als Ursache Die rasante Verbreitung von Crack in der Schweiz hängt wohl auch mit der grossen Unsicherheit zusammen. «Die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse in der Schweiz verschlechtern sich zusehends», sagt Hervé Durgnat, Mitglied einer kantonalen Expertenkommission für Suchtfragen im Kanton Waadt. Dass in der Schweiz in aller Öffentlichkeit Crack konsumiert wird, hat die Fachleute überrascht. «Wir dachten, dass es in einem reichen Land wie der Schweiz keine offenen Crack-Szenen geben würde», gibt der Experte zu. Ein Teil der Bevölkerung, der bereits Kontakt mit dieser Droge hatte oder in einer Substitutionsbehandlung ist, wird nun in den Crack-Konsum hineingeSichtbare Sucht: Die Crack-Süchtigen bilden besonders in Städten eine augenfällige Drogenszene. Wie hier in Genf. Foto Nils Ackermann/Lundi 13 Thomas Herquel vom Verein «Première ligne» in seiner recht klinisch anmutenden Wirkungsstätte, dem Quai 9 in Genf. Die Süchtigen verhielten sich zuweilen aggressiv, sagt Herquel. Foto Nils Ackermann/Lundi13 Schweizer Revue / Januar 2024 / Nr.1 15

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