Schweizer Revue 2/2024

SUSANNE WENGER Diesen Winter war abends über dem bernischen Langenthal ein Schauspiel am Himmel zu beobachten: Hunderttausende Bergfinken liessen sich in den Tannen nieder, um dort zu übernachten. Bergfinken sind zwar jedes Jahr als Wintergäste aus Skandinavien in der Schweiz anzutreffen, erklärt Livio Rey, Biologe an der Vogelwarte Sempach: «Ein Masseneinflug findet jedoch nur alle paar Jahre unter bestimmten Bedingungen statt.» Es braucht genug Buchennüsschen als Nahrung und darf keinen Schnee haben, zugleich müssen weiter nördlich die Bedingungen schlechter sein. Dann weichen die Finken nach Süden aus. Das Fachwissen der Vogelwarte Sempach ist immer wieder gefragt, wenn es um die Vogelwelt geht. Die Vogelwarte, die im April 1924 von der Legate finanziert wird, zeigt das Vertrauen und die Sympathie, die ihr entgegengebracht werden. Von der öffentlichen Hand wird die Vogelwarte nicht unterstützt, sie leistet aber für Bund und Kantone Auftragsarbeiten. Frühe Naturschützer Die Gründerinnen und Gründer, darunter der erste Leiter der Vogelwarte, Alfred Schifferli aus Sempach, ein Buchhalter und Ornithologe, wollten die damals aufstrebende Vogelforschung unterstützen. Schifferli und seine Helfer beringten zahlreiche Vögel, um zur Erforschung des Vogelzugs beizutragen. Die Vogelwarte wurde zur zentralen Meldestelle für Ringfunde und stellte Präparate und Eier für Studien zur Verfügung. Ihre Gründung steht auch im Zusammenhang mit frühen Naturschutzbewegungen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts in der Schweiz. Von Anfang an sollte das wachsende Wissen über Vögel ihrem Schutz dienen. «Um Vögel zu schützen und ihre Vielfalt für kommende Generationen zu bewahren, müssen wir sie verstehen», sagt Livio Rey am Hauptsitz der Vogelwarte. Dieser liegt am Sempachersee, etwas ausserhalb der Kleinstadt, und umfasst auch eine Pflegestation für verletzte Vögel sowie ein Besuchszentrum. Wer an diesem Wintertag den Lehmbau besucht und im richtigen Moment ins Freie schaut, erkennt einen bunten Eisvogel. Das Verstehen, Schützen und Bewahren ist bis heute der Grundsatz der Vogelwarte und laut dem Biologen dringlicher denn je. Eine der längsten Roten Listen Denn obwohl die Vogelwelt viele Menschen durch ihren Gesang, ihre Sichtbarkeit im Alltag und ihre Fähigkeit «Vögel sind ein Spiegelbild der Umwelt» Die Vogelwarte Sempach im Kanton Luzern feiert ihr 100-jähriges Bestehen. Als gemeinnützige Institution ist sie heute eine angesehene Fachstelle in der Schweiz und erfreut sich grosser Sympathie in der Bevölkerung. Doch sie warnt: Die Vielfalt der heimischen Vogelwelt ist bedroht. zu fliegen fasziniert, ist den meisten nicht bewusst, wie schlecht es ihr insgesamt geht. Aktuell sind 40 Prozent der rund 200 Schweizer Brutvogelarten bedroht. Die Rote Liste der gefährdeten Vogelarten ist laut Rey eine der längsten in Europa. Und die Situation hat sich in den letzten zehn Jahren nicht verbessert: Die Zahl der «potenziell gefährdeten» Vögel auf einer Art Vorwarnliste ist gestiegen. «Entgegen der landläufigen Meinung ist die Schweiz keine Musterschülerin im Vogelschutz», betont der Biologe. Allerdings differenziert er: Den Vögeln, die im Wald leben, geht es dank vergleichsweise strengem Waldschutz in der Schweiz recht gut. Auch etwa bei den Reiher- und Greifvogelarten gibt es positive Entwicklungen. Seitdem sie nicht mehr gejagt werden dürfen, konnten sich die Bestände erholen. Beispiele dafür sind der Steinadler, der wieder angesiedelte Bartgeier und der Rotmilan. Letzterer stand kurz vor dem Aussterben, sagt Rey, «heute brüten zehn Prozent des Weltbestandes in der Schweiz.» Probleme im Kulturland Grosse Probleme haben viele Vogelarten im Kulturland, wo ihnen die intensivierte Landwirtschaft zu schaffen macht. Häufige Grasschnitte zerstören ihre Bruten. Hoher Einsatz von Düngemitteln und Pestiziden reduziert ihre Nahrungsgrundlage, die Insekten. Ausserdem fehlen ihnen vielerorts Kleinstrukturen wie Hecken oder Steinhaufen. Das hat dazu geführt, dass nicht mehr alle Vögel da sind, wie es in einem bekannten Kinderlied heisst. Arten, die früher im Mittelland häufig vorkamen, sind ausgestorben, vom Rebhuhn bis zum Ortolan, einer Ammerart. Nur noch selten ist der jubilierende Gesang der Feldlerche zu hören. Die Vogelkunde fördern, die Vögel schützen: Das waren schon bei der Gründung der Vogelwarte Sempach am 6. April 1924 die wichtigsten Beweggründe. Archivbild Vogelwarte Sempach Schweizerischen Gesellschaft für Vogelkunde und Vogelschutz gegründet wurde, ist hierzulande längst eine Institution. Als Stiftung mit knapp 160 Angestellten berät sie Behörden und Berufsgruppen, gibt Auskunft an Ratsuchende aus der Bevölkerung und informiert über vogelbezogene Themen. Die Tatsache, dass sie zu drei Vierteln durch Spenden und Schweizer Revue / März 2024 / Nr.2 10 Natur und Umwelt

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