Schweizer Revue 2/2024

9 MARC LETTAU Ein Schuss hallte 1871 durch den Wald bei Iragna (TI) – und der offiziell letzte Wolf der Schweiz war tot. Die Spezies war damit ausgerottet. Erst ab 1995 wanderten Wölfe wieder in den Schweizer Alpenraum ein. Sie kamen, um zu bleiben, bildeten Rudel, dehnten ihren Lebensraum aus. Im November 2023 wurden in der Schweiz 30 Rudel, respektive rund 300 Wölfe gezählt. Die Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer begegnet dem heimgekehrten Raubtier wohlwollend. Deutlich zeigte sich das 2020 an der von Naturschutzorganisationen erzwungenen Volksabstimmung über ein neues Jagdgesetz. Dieses sah unter anderem den «präventiven Abschuss» von Wölfen vor. Das Volk sagte Nein. Wölfe zu erlegen, die Schafe reissen, also Schaden stiften, schien vielen durchaus nachvollziehbar. Dagegen wollte die Mehrheit im «Abschuss auf Vorrat» des geschützten Tieres keine einleuchtende Logik erkennen. 800 Walliser Jäger in Bereitschaft Heute ist aber die «proaktive Bestandesregulierung», wie die Behörde das Vorgehen nennt, doch Gesetzesbuchstabe. 2022 verabschiedete das Parlament ein revidiertes Jagdgesetz, das präventive Abschüsse von Wölfen erlaubt. Der vom Volk nicht gewollte Paradigmenwechsel ist also erfolgt. Und Ende 2023 entschied der Bundesrat in spektakulärer Eile, einzelne Ausführungsbestimmungen zum revidierten Gesetz sehr rasch in Kraft zu setzen. Der neue Umweltminister Albert Rösti (SVP) legte die Tragweite des Schrittes dar: Vom 1. Dezember 2023 bis 31. Januar 2024 wurde den «Wolfskantonen» erlaubt, insgesamt zwölf Rudel komplett und sechs weitere teilweise zu liquidieren. Die zwölf übrigen Rudel sollten verschont bleiben. Das grosse Halali folgte umgehend. Allein im Wallis liessen sich 800 Jäger für die Wolfsjagd instruieren. Gericht durchkreuzt die Jagd Die angelaufene Jagd riss drei Naturschutzorganisationen aus ihrer Schockstarre. Sie reichten Beschwerden gegen einen Teil der vom Bund bewilligten Rudel-Abschüsse ein. Und sie verbuchten einen Teilerfolg: Das Bundesverwaltungsgericht (BVGer) bestätigte am 3. Januar 2024, bei Halbzeit der grossen Wolfsjagd, die aufschiebende Wirkung der Beschwerden. Die Jagd blieb – teilweise – abgeblasen. Die juristische Überlegung dazu dreht sich ums Irreversible: Wird ein Wolf erschossen, ist er tot; kommt das Gericht später zum Schluss, der Abschuss sei nicht rechtens gewesen, kann er nicht wieder lebendig gemacht werden. Was tot ist, bleibt tot. Der Zwischenentscheid des BVGer ist für die auf Tempo drängende Bundesbehörde eine eher peinliche Wende. Wie das Gericht allerdings abschliessend urteilen wird, war bei Redaktionsschluss noch offen. An einem wird der Richterspruch aber so oder so nichts mehr ändern: Im Zeitfenster Dezember/Januar wurden über 50 der 300 Schweizer Wölfe erlegt. Ein Sechstel des bisherigen Bestandes. Während der Wartezeit aufs definitive Urteil bleibt die Debatte angeheizt, etwa wegen den neuen Massstäben, die Umweltminister Albert Rösti anlegt. Bis anhin zählte die Sichtweise von Wissenschaftlern, von Wildbiologen. Nach ihnen bräuchte es fürs Überleben des Wolfs in der Schweiz 20 intakte Rudel. Auch der oberste Wildhüter des Bundes, Reinhard Schnidrig, liess sich stets so zitieren, erstmals 2015 in der «Schweizer Revue»: 20 Rudel brauche es fürs Überleben der Art; 60 Rudel seien ökologisch tragbar; «irgendwo dazwischen» liege «das gesellschaftspolitisch Machbare». Bundesrat Rösti findet nun: Zwölf Rudel genügen. Nicht nur Naturschutzorganisationen rätselten jetzt, was der massiv gesenkte Schwellenwert zu bedeuten habe: Ist der Umweltminister bereit, das lokale Aussterben der geschützten Tierart in Kauf zu nehmen? Bestimmt künftig allein die Politik und nicht mehr die Wissenschaft die Schweizer Umweltfragen? Und falls ja: Was hiesse das für die Bewältigung der gigantischen Herausforderungen im Umweltbereich, dem Klimawandel und dem Artensterben? Urbane Schweiz versus ländliche Schweiz Was nach der eilig angesetzten Wolfsjagd ebenfalls weiter gärt, sind gesellschaftliche Spannungen. Der urbanen, naturfernen Schweiz mag man durchaus vorwerfen, sie verkläre den Wolf: Sie nutzt ihn als tröstlichen Beweis dafür, dass es noch eine echte, alpine Wildnis geben müsse – und blendet aus, wie sehr sie selbst diesen Alpenraum als Freizeitarena übernutzt und dessen Veränderung vorantreibt. Aber auch die Schweiz der Bergler, die in der Sömmerung von Schafen auf hohen Alpen ein wertvolle Tradition sieht, kann nicht nur mit Sympathien rechnen. Das BVGer nennt den Grundkonflikt: Die Bundesbehörde erlaubte die Jagd auf ganze Rudel auch in Regionen, in denen auf den durchaus möglichen Schutz der Herden verzichtet wurde. Herden nicht zu schützen, obwohl der Bund dafür jährlich Millionenbeiträge zur Verfügung stellt (2024: 7,7 Millionen), dafür aber den Wolf liquidieren zu wollen: Solches strapaziert das Verhältnis zwischen urbaner und ländlicher Schweiz. Der Konflikt zeigt auch Gründe auf, warum Naturschutz in der Schweiz zuweilen einen schweren Stand hat. So spielen auch im Bundesrat die Stadt-Land-Vorlieben: Albert Röstis Nähe zu den Bauern erklärt im Wesentlichen auch seine Wolfspolitik. Zudem prägen Zielkonflikte sein Departement: Es ist zuständig für den Bau von Strassen, Bahnen, Staumauern und Kraftwerken – allesamt potenziell stark umweltbelastend; und für den Schutz der Umwelt ist es auch gleich verantwortlich. Die sich daraus ergebenden Zielkonflikte sind ein Erbe: Über lange Dekaden regelte die Schweizer Umweltpolitik primär die Nutzung der natürlichen Umwelt, eher sekundär deren Schutz. Je nachdem, wer das Departement leitet, zählt mal der Schutz etwas mehr, mal die Nutzung. Röstis Vorgängerin Simonetta Sommaruga stand eher für Ersteres, Rösti für Letzteres. Punkto Wolf heisst es aber auch für ihn: Das Kapitel ist noch nicht zu Ende geschrieben. Die grosse Wolfsjagd Der Wolf ist in der Schweiz ein streng geschütztes Tier. Im vergangenen Dezember und Januar haben Jäger rund einen Sechstel aller Schweizer Wölfe abgeschossen, dies mit behördlicher Erlaubnis. Das wirft viele Fragen auf. – Eine kommentierende Einordnung. Erweiterte Version des Beitrags unter www.revue.ch Schweizer Revue / März 2024 / Nr.2 Nachrichten

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