Schweizer Revue 6/2021

Priya Ragu aus St. Gallen erobert die Musikwelt Die Schweizer Waffenexporte boomen – und fordern das humanitäre Selbstbild des Landes heraus Schweizer Team kennt jetzt die Kreiszahl Pi auf 62,8 Billionen Stellen genau: Wem nützt das? SCHWEIZER REVUE Die Zeitschrift für Auslandschweizer Dezember 2021 Herausgeberin der «Schweizer Revue» ist die Auslandschweizer-Organisation (ASO).

Ihre Meinung ist gefragt! Jetzt an der Befragung teilnehmen! Die Befragung wird vom Schweizer Forschungsinstitut intervista im Auftrag von SWI swissinfo.ch realisiert. Sie können über den QR-Code oder über den Link in den Fragebogen einsteigen. www.intervista.ch/auslandschweizer Wie informieren Sie sich über die Geschehnisse in der Schweiz? Was ist für Sie bei der Nutzung von Medien wichtig? Wie halten Sie Kontakt zur Heimat? Wir möchten Ihre Informationsgewohnheiten noch besser verstehen.

Schweizer Revue / Dezember 2021 / Nr.6 3 «Für Flüchtlinge ist es eine Art Wunder, ein neues Leben in einem Land zu beginnen, in dem sie nicht unbedingt willkommen sind»: Das sagt die St.Gallerin Priya Ragu, die unser Cover zeigt. Priya Raguweiss, wovon sie spricht. Sie ist in einer tamilischen Flüchtlingsfamilie aufgewachsen. Doch inzwischen haben sich die Vorzeichen gründlich gewandelt. Priya Ragu ist als Sängerin zumWeltstar geworden (Seite 14). Der Verlauf ihrer bisherigen Karriere ist raketenhaft und sie ist auf den ganz grossenBühnenwillkommen: Ihr fliegennicht nur an FestivalswieMontreux die Herzen zu, sondern auch im Sprachraum, aus dem ihre Eltern stammen. Und sie trägt auf TamilischWerte in die Ferne, die ein durchaus schweizerisches Selbstverständnis widerspiegeln. So dreht sich ihr Song «Kamali» um die Rechte und die Stellung der Frau in der Gesellschaft, um die Ermächtigung von Mädchen, ihren Traum zu leben. Der Song ist ein Bestseller. Bestseller von komplett anderemKlang sindWaffen aus der Schweiz. Die Exportzahlen sind hoch. Und das Thema ist politisch explosiv. Die Debatte, inwelche Länder die Schweiz Kanonen, Munition, gepanzerte Fahrzeuge und anderes Kriegsgerät überhaupt soll exportieren dürfen, ist ein Dauerbrenner. Das ist nachvollziehbar, denn Kriegsmaterialexporte tangieren das Selbstbild der Schweiz als neutrales, friedliches Land, das doch lieber auf Diplomatie als auf Säbelgerassel setzt. Wie so oft ist die Sache auch imvorliegenden Fall komplexer, als sie auf den ersten Blick scheint: Das Kriegerische war lange vor Käse und Schokolade der eigentliche Kassenschlager der eidgenössischen Exportwirtschaft. Schweizer Söldner dienten drei Jahrhunderte lang auf den Schlachtfeldern Europas und in Kolonialarmeen in aller Welt. Und sie hatten nicht den Ruf, zimperlich zu sein. Das heutige Selbstbild als humanitäres, friedliches, neutrales Land ist somit der Ausdruck eines bewussten Wandels: Das Söldnertum ist längst strikte verboten und Exporte militärischer Güter unterstehen strengen Regeln. Diese Regeln werden jetzt noch strenger: Auf Druck der Öffentlichkeit hat das Parlament die Gesetzeslage weiter verschärft: Die Regierung verliert bei der Bewilligung vonAusnahmen ihren bisherigen Spielraum. Das ist gut so. Das Ende des Dauerstreits über Waffenexporte ist dies aber nicht. Denn die Schlüsselfrage, ob denn Waffenexporte die Welt überhaupt friedlichermachen können, ist auch nach der erfolgtenGesetzesverschärfung keineswegs vom Tisch. MARC LETTAU, CHEFREDAKTOR Editorial 5 Briefkasten 6 Schwerpunkt Die Waffenschmiede Schweiz ist in der Defensive 14 Kultur Sängerin Priya Ragu erobert Herzen undWeltbühnen 16 Schweizer Zahlen 17 Literatur 18 Wissenschaft Schweizer Mathematiker errechnen Pi so genau wie niemand vor ihnen 20 Politik Die Schweiz sagt klar Ja zur «Ehe für alle» 22 Gesellschaft Schweizer Haushalte horten Rekordmengen an Bargeld 23 Corona Die Pandemie fordert traditionelle politische Parteien heftig heraus 25 Swisscommunity-News 27 Aus dem Bundeshaus Rückwandernde erhalten Hilfe beim Wiedereinstieg in die Arbeitswelt Ehemalige Verdingkinder können weiterhin Hilfe beantragen 30 Gelesen / Gehört / Nachrichten Inhalt Raketenstart und Kanonendonner Titelbild: Priya Ragu, Schweizer Sängerin mit tamilischen Wurzeln. Foto Warner Music Herausgeberin der «Schweizer Revue», dem Informationsmagazin für die Fünfte Schweiz, ist die Auslandschweizer-Organisation.

Schweizer Schulabschluss von jedem Ort der Welt Jetzt schnuppern! Info und Kontakt unter swissonlineschool.ch wissonlineschool-hoch.indd 1 20.10.21 11:49 MIT TISSOT, DEN „INNOVATORS BY TRADITION“, ZURÜCK ZU DEN WURZELN Die Geschichte von Tissot begann 1853 imbeschaulichen Schweizer Le Locle. Inzwischen ist die Marke der Marktführer nach Volumen im Bereich traditioneller Schweizer Uhrmacherei. Das Traditionshaus ist stolz auf seine Wurzeln und konnte sich im Ausland als Botschafter positionieren, indem es Werte wie Tradition und Innovation transportierte. Über den ganzen Lauf seiner Geschichte prägte Tissot all seine Produkte mit diesen beiden Eckpfeilern. Mit der Registration bei SwissCommunity Netzwerk bedankt sich Tissot bei Ihnen, liebe Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer, Botschafterinnen und Botschafter unseres Landes in der ganzenWelt, indemsie Ihnen auf ihrer offiziellenWebsite einen Rabatt von 15% auf die gesamte Kollektion gewährt. www.swisscommunity.org/tissot - Official website | Tissot (tissotwatches.com) www.swisscommunity.org …und ein gutes neues Jahr 2022. Die Auslandschweizer-Organisation, SwissCommunity, wünscht Ihnen frohe Festtage… Unsere Partner: lay_inserat_210x177mm_1b_deu 1 12.11.21 08:46

Schweizer Revue / Dezember 2021 / Nr.6 5 Briefkasten Das Gesundheitswesen droht selbst zum Pflegefall zu werden Als Teenager war Krankenschwester zuwerden mein Traum. Ichhabe ihnnie realisiert, weil mir bewusst wurde, dass ich niemals die Zeit haben würde, mich einmal an ein Krankenbett zu setzen und dem Patienten zuzuhören. Somit kann ich allem, was diesenwunderbaren Beruf interessanter, menschlicher und somit besser macht, nur zustimmen! RENATA NEUWEI LER, KRETA , GRIECHENL AND Es ist längst fällig, dass diese Berufsgruppe der Pflegenden und ihre Leistungen nicht nur mit lautem Applaus, sondern mit mehr Geld anerkannt wird. Ichwerde auch die Pflegeinitiative ohne Wenn und Aber unterstützen. Sonst werden die Pflegerinnen und Pfleger bald kränker als die Gepflegten. PAOLO INDIANO, DEUTSCHL AND Die gesamte Verantwortung für die Pflege von Kranken nur den Mitarbeitenden einer einzigen Berufsgruppe aufzuladen, ist wirklich krank. VERÔNICA BÖHME, BRASI L IEN Zu Besuch in Uetendorf, dem grenzfernsten Ort der Schweiz Mit grosser Freude habe ich den Artikel über Uetendorf gelesen. Da mein Heimatort Rüschegg-Heubach nicht fern vonUetendorf ist, finde ich den Beitrag besonders interessant: Bin oft durch Uetendorf gefahren. Seit 1961 ist mein Heim in Amerika. Das Heimatland und die unbezahlbaren Erlebnisse werde ich jedoch nie vergessen. HULDA NYDEGGER SHURTLEFF, USA Bernard Rappaz, der Canabis-Winkelried Es ist schön, von Persönlichkeiten in unserem Land zu lesen, nicht Milliardäre, sondern eben Persönlichkeiten. Unabhängig, wo man ist, anders Denkenwird bestraft ... Und trotzdemsind gerade die Aufmüpfigen für einen gesunden Staat nötig. Das sagt auf jeden Fall Machiavelli – oder vielleicht ist diese Lektüre nur für dieHerrschenden bestimmt. FRI TZ ST INGEL IN, MANI L A , PHI L IPPINEN Auch wenn mich diese Pflanze nicht besonders interessiert, finde ich das Vorgehen dieses Mannes mutig! Welch grossartiges Durchhaltevermögen! Und das alles auch noch bio, bravo! CL AUDE ROCHAT, FRAKREICH Das wurde auch langsam Zeit! Cannabis sollte überall legalisiert sein, es ist weit weniger schädlich als Alkohol und kann auch sehr wohltuend sein, als Unterstützung in der Behandlung von Krebs, Angstzuständen usw. Und der Bund und die Kantone können Steuern darauf erheben und sehr viel Geld damit verdienen! Die Legalisierung von Cannabis ist eine Win-win-Situation für alle Beteiligten. Konservative Gesetzgeber, die es weiterhin als illegal einstufen wollen, versuchen so, andere auf Basis ihres «Moral»-Verständnisses und nicht etwa auf Basis einer objektiven Beurteilung von Gesundheit und Sicherheit zu kontrollieren. VANESSA VELEZ , USA Filippo Lombardi, der neue ASO-Präsident Sehr geehrter Herr Lombardi, bitte setzen Sie sich ein gegen die erhöhten PostFinance-Gebühren. Ich habe das Konto seitmeinem20. Altersjahr undnurweil ich jetzt ein paar Hundert Kilometer weiter weg wohne, muss ich 360 Franken im Jahr bezahlen. Das reisst doch ein grosses Loch inmeine Rente vonmonatlich 1700Franken. AlsWohnland ist die Schweiz für mich zu teuer geworden. LOTT I HUMBEL, HIDEGSEG, UNGARN Ichwünschemir vonHerrn Lombardi und demBundesrat, dass sie Gespräche mit den Banken führen, damit diese nicht alle Jahre dieGebühren erhöhen oder das Konto kündigen. Ichhabe nochKonten in der Schweiz, dies etwa für den Fall, dass es hier in Thailandwieder einen Putsch geben sollte undmandas Land fluchtartig verlassen und in die Schweiz zurückkehren muss. Da hat man wenigstens Geld für einen Neuanfang und man muss nicht gleich aufs Sozialamt. PETER ZURBRÜGG, PHUKET, THAI L AND Sie können es in der «Schweizer Revue» noch so oft schreiben: Der Auslandschweizerrat ist, solange er nur von einer kleinen Minderheit von Vereinsmitgliedern gewählt wird, kein «Parlament der Fünften Schweiz». SEBAST IAN RENOLD, BOZEN, SÜDT IROL Wir können seit Jahren von Südafrika aus nicht mehr an Abstimmungen in der Schweiz teilnehmen! Die Papiere für die Abstimmung erhalten wir, wenn die Abstimmung in der Schweiz bereits gelaufen ist. Wir haben dies schon wiederholt gemeldet, jedoch ohne Erfolg. Wir können nicht verstehen, warum die Unterlagen nicht früher verschickt werden. Und: Das Beste war E-Voting! KURT STAUFFER, SÜDAFRIKA

Schweizer Revue / Dezember 2021 / Nr.6 6 Schwerpunkt THEODORA PETER Am 21. November 2022 wird in Katar die Fussball-Weltmeisterschaft angepfiffen. Umdie Stadien und das Land zu schützen, rüstet der reicheÖl-Staat in grossemStil auf. Auf Einkaufstour ging das Emirat unter anderem in der Schweiz: BeimRüstungsunternehmenRheinmetall Air Defence bestellte Katar Flugabwehrsysteme imWert von rund 200Millionen Franken. Die inZürich entwickelten und gebauten Kanonen holen punktgenau feindliche Drohnen und Raketen vom Himmel. Der Bundesrat erteilte grünes Licht zumExport, obwohl es zur Lage derMenschenrechte imBestimmungsland viele Fragezeichen gibt – unter anderem bei der Ausbeutung von Arbeitsmigranten auf den WM-Baustellen. Noch 2019 war das Schweizer Aussendepartement in einer Beurteilung zum Schluss gekommen, dass die Menschenrechte in Katar systematisch und schwerwiegend verletzt werden. Das wäre eigentlich ein Ausschlussgrund für Kriegsmaterialexporte. Doch der Bundesrat berief sich dabei auf eine Ausnahmeklausel, die er 2014 selber beschlossen hatte: Wenn bloss ein «geringes Risiko» besteht, dass die Waffen im Bestimmungsland zur Begehung von Menschenrechtsverletzungen eingesetzt werden, dürfen sie trotzdem geliefert werden. Oder in der Lesart der Behörden: Flugabwehrkanonen eignen sich kaum dazu, um die eigene Bevölkerung zu unterdrücken. Waffen in falschen Händen Der Export von Kriegsmaterial stösst in der Schweizer Zivilgesellschaft zunehmend auf Unverständnis. Kommt dazu, dass in den letzten Jahren immer wieder Fälle für Schlagzeilen sorgten, in denen regulär aus der Schweiz gelieferte Waffen in falsche Hände gelangten. So tauchten Schweizer Handgranaten, die 2003 ursprünglich an die Vereinigten Arabischen Emirate geliefert worden waren, Jahre später imsyrischen Bürgerkrieg auf. Katarwiederum gab vor zehn Jahren verbotenerweise Schweizer Munition an Aufständische in Libyen weiter, was damals für einen vorübergehenden Exportstopp sorgte. Für die Kritiker zeigen diese Beispiele, dass Waffenexporte viele Risiken bergen, nicht zuletzt auch für den Ruf der Schweiz als Hüterin der Menschenrechte. 2018 lancierte eine breite Allianz vonMenschenrechtsorganisationen, Hilfswerken und Parteien die sogenannte «Korrektur-Initiative». Mit dem Volksbegehren sollten die roten Linien für Waffenexporte in der Verfassung festgeschriebenwerden: Keine Lieferungen an Länder, die systematischMenschenrechte verletzen oder die in Bürgerkriege oder bewaffnete Konflikte verwickelt sind. Die Initianten wollten damit verhindern, dass der Bundesrat demDruck der Rüstungsbranche nach Exporterleichterungen nachgibt. In nurwenigen Monaten kamen weit mehr als die für eine Volksabstimmung nötigen 100000Unterschriften zusammen. Zu einemUrnengang kommt es nun aber doch nicht. Das Parlament verstand den Wink der Zivilgesellschaft und verankerte die strengen Exportkriterien direkt auf Gesetzesstufe. Die Urheber zogen daraufhin die Initiative zurück, da sie ihre Forderungen erfüllt sahen. Mehr demokratische Kontrolle Mit der «Korrektur-Initiative» habeman primär «eine Verschlechterung verhindert», räumt Mitinitiant Josef Lang ein. Dem früheren Nationalrat der Grünen und Mitbegründer der Gruppe Schweiz ohne Armee (GsoA) wäre ein totales Export-Verbot von Kriegsmaterial eigentlich lieDie Waffenschmiede Schweiz ist in der Defensive Die weltweite militärische Aufrüstung sorgt für einen Boom der Schweizer Rüstungsindustrie. Doch: Sind Waffenexporte für ein neutrales Land mit humanitärem Selbstbild überhaupt vertretbar? Der Druck der Zivilgesellschaft zwingt die Politik zum Handeln. Ein durchaus gefragtes Schweizer Exportprodukt: Schützenpanzer Piranha des Herstellers Mowag. Foto Keystone

Schweizer Revue / Dezember 2021 / Nr.6 7 Hochpräzise Kanonen aus der Schweiz, hier das Fliegerabwehrsystem des Typs Oerlikon Skyshield, sind ein aktuelles Exportprodukt aus dem Rüstungsbetrieb Rheinmetall. Foto Rheinmetall Air Defence ber. Doch davon wollte das Schweizer Stimmvolk in der Vergangenheit nichts wissen: 2009 lehnte es eine entsprechende Volksinitiative mit 68 Prozent Nein-Stimmen klar ab. Fast zehn Jahre später scheiterte einweiterer Anlauf, mit der die Finanzierung von Kriegsmaterialproduzenten verboten werden sollte (siehe «Revue» 5/2020): In der Volksabstimmung von Ende 2020 stellten sich fast 58 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer dagegen. Josef Lang sieht in der «Korrektur» dennoch einen grossen Fortschritt: «Die demokratische Kontrollewird gestärkt, und der Bundesrat wird es schwerer haben, Lockerungen durchzubringen.» Konnte bislang die Regierung in eigener Kompetenz die Kriterien für Waffenexporte ändern, ist künftig dafür das Parlament zuständig – und in letzter Instanz das Stimmvolk, wie Lang betont. «Schliesslich lässt sich jede Gesetzesänderung per Referendum bekämpfen.» Das Parlament wollte dem Bundesrat denn auch keine Sondervollmachten einräumen: Die Regierung hatte darauf gedrängt, «zur Wahrung von Landesinteressen» doch noch Ausnahmebewilligungen erteilen zu dürfen. Diese Hintertür bleibt nun definitiv verriegelt. Rüstungsbranche droht mit Exodus Wenig erfreut über die Parlamentsentscheide istman in der Rüstungsbranche: «Die Folgen sind enorm», warntMat­t hias Zoller, Geschäftsführer des Arbeitskreises Sicherheit und Wehrtechnik (ASUW), welcher die Interessen der Rüstungsunternehmen vertritt. Mittelfristig werde sich die Rüstungsindustrie vom Standort Schweiz verabschieden, prophezeit Zoller und verweist auf die Konkurrenz in der «Die demokratische Kontrolle wird gestärkt, und der Bundesrat wird es schwerer haben, Lockerungen der Exportbestimmungen durchzubringen.» Josef Lang

Schweizer Revue / Dezember 2021 / Nr.6 8 Europäischen Union. Die EU investiere acht Milliarden Euro in ein Programmzur Ansiedlung der Rüstungsindustrie: «Schweizer Firmen sind dort jederzeit willkommen.» Mit dem künftigen Exportregime werde es nicht mehr möglich sein, in Länder zu exportieren, die sich an einem bewaffnetenKonflikt beteiligen. «Bei einer zu erwartenden, restriktiven Auslegung könnten auch die USA, Frankreich oder Dänemark nicht mehr beliefert werden», gibt Zoller zu bedenken. Vom Bund erwartet die Branche deshalb Planungssicherheit und ein «deutliches Statement, dass auch weiterhin Exporte an und Kooperation mit befreundeten Nationen möglich sind». Betroffen von den Restriktionen sind Die Schweizer in fremden Heeren Militärisches Knowhow hat in der Schweiz eine lange Tradition. Bis ins 19. Jahrhundert zogen Hunderttausende Eidgenossen für fremde Mächte in den Krieg. Erst mit der Gründung des modernen Bundesstaates wurde das Söldnertum eingeschränkt. Lange wollten die alten Eidgenossen noch selber fremde Ländereien erobern. Dies änderte sich 1515 mit der Schlacht von Marignano. Die Eidgenossen verloren den Krieg um das Grossherzogtum Mailand und mussten die eigenen Expansionsgelüste begraben. Statt als Soldaten fürs eigene Land zu kämpfen, war es den Bauernsöhnen fortan erlaubt, jederzeit auch in fremde Kriege zu ziehen. Das Söldnerwesen erlebte seine Blütezeit zwischen dem 15. und dem 18. Jahrhundert. Der Dienst in fremden Heeren war lange Zeit der zweitwichtigste Wirtschaftszweig der Schweiz – nach der Landwirtschaft. Schweizer Offiziere rekrutierten die Bauern und organisierten sie in sogenannten Regimentern. Diese kämpften unter anderem für Frankreich, Spanien, Österreich, Savoyen, Ungarn oder die Niederlande. Noch bis heute im Einsatz steht die Schweizergarde imVatikan, die seit dem frühen 16. Jahrhundert für die Sicherheit des Papstes zuständig ist. Flucht vor Armut und Abenteuergeist Mit der Gründung des Bundesstaates 1848wurde der Solddienst für fremde Mächte zunehmend eingeschränkt. Doch die französische Fremdenlegion rekrutierte weiterhin Zehntausende als Söldner. Zwar verbot die Schweiz 1859 die Werbung für solche Dienste, eine Anstellung blieb aber bis in die 1920er-Jahre weiterhin erlaubt. Auch andere Kolonialmächte wie die Niederlande setzten auf Schweizer Söldner. So kämpften laut dem Historiker PhilippKrauer zwischen 1815 und 1914 rund 7600 helvetische Söldner in der niederländischen Kolonialarmee auf demGebiet des heutigen Indonesiens. Krauer erforscht derenGeschichte im 0 200 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 400 600 800 Entwicklung der Schweizer Kriegsmaterialexporte von 2010 - 2020 in Mio. CHF

Schweizer Revue / Dezember 2021 / Nr.6 9 Projekt «Swiss Tool of Empire». Angesichts vonMassenarmut undAuswanderung seien viele Politiker damals froh gewesen, «wenn ärmere Schweizer den günstigen Weg über die Kolonialarmee wählten», wie Krauer schreibt. Nebst der Flucht vor Armut suchten viele Söldner aber auch das Abenteuer. Die romantischen Vorstellungen vomDienst in den Tropen kollidierten bald mit der harten Realität. In Indonesien verstarb fast die Hälfte der Söldner noch während des Dienstes. Auch blieb den Schweizern in fremden Diensten eine militärische Karriere verwehrt. Viele bereuten ihren Schritt und wandten sich an den Schweizer Konsul in der Hoffnung, er könne sie aus dem Vertrag herauslösen – meist jedoch vergebens. Seit 1927 ist der fremde Dienst gemäss dem Militärstrafgesetz untersagt. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es jährlich zu rund 240 Verurteilungen von Söldnern, die trotz Verbot in die französische Fremdenlegion zogen. Heute sind nur noch Einzelfälle bekannt. Hart von der Justiz angefasst wurden auch die rund 800 freiwilligen Spanienkämpfer, die sich von 1936 bis 1939 auf der Seite der Republikaner gegen den Faschismus engagierten. 70 Jahre später rehabilitierte das Parlament diese Aktivisten, die für Freiheit und Demokratie gekämpft hatten. Verbot von Söldnerfirmen Seit 2013 gilt in der Schweiz zudemein explizites Verbot von Söldnerfirmen. Hier ansässige Sicherheitsfirmen dürfen nicht an Feindseligkeiten im Rahmen von bewaffneten Konflikten im Ausland teilnehmen und dafür auch keine Söldner rekrutieren. Die Schweiz übernehme damit Verantwortung, betonte die damalige Justizministerin Simonetta Sommaruga (SP) bei der Vorstellung des Gesetzes: «Es kann uns nicht egal sein, was Firmen, die ihren Sitz inder Schweiz haben, im Ausland tun.» THEODORA PETER Vertiefung ins Thema Schweizer Soldaten in fremden Diensten (Bundesarchiv): revue.link/soldaten Schweizer Söldner in Indonesien (Nationalmuseum): revue.link/kolonialarmee rund 200 Unternehmen, die regelmässig Ausfuhrbewilligungen für Kriegsmaterial beim Bund beantragen. Die gesamte Schweizer Sicherheits- und Wehrtechnikindustrie beschäftigt – inklusive Zulieferbetriebe – gemäss Schätzungen des Bundes zwischen 10000 und 20000 Personen. Diese stellen auch militärische Güter her, die nicht unter die Kategorie Kriegsmaterial zählen, weil sie nicht offensiv imGefecht eingesetzt werden. Darunter fallen zum Beispiel die Trainingsflugzeuge des Schweizer Flugzeugherstellers Pilatus. Geliefert werden dürfen diese Flugzeuge auch an Staaten wie die Vereinigten Arabischen Emirate, Jordanien oder Saudi-Arabien, die am Krieg in Jemen beteiligt sind. Ob das Emirat Katar auch künftig Kanonen «Swissmade» bestellen kann, hängt davon ab, wie der Bundesrat bei neuen Exportgesuchen die Menschenrechtslage im Land beurteilen wird. An kriegerischen Auseinandersetzungen wie in Jemen ist Katar derzeit nicht beteiligt. Gemäss Nahostexperten ist der reiche Wüstenstaat am Persischen Golf aber bestrebt, eine Regionalmacht zu werden. Dies erhöht die Gefahr, in künftige Konflikte verwickelt zu werden, die wiederum Verletzungen des humanitären Völkerrechts zur Folge haben können. Daran kann die Schweiz als Depositärstaat der Genfer Konventionen eigentlich kein Interesse haben. Blutiges Handwerk in prächtiger Kleidung: Der Söldner Gall von Untervalden. Kolorierter Holzschnitt aus der Zeit um 1520–1530. Foto Keystone

Gesehen Schweizer Revue / Dezember 2021 / Nr.6 10 Bildquelle: Orell Füssli

Womit kann uns rund 90 Jahre nach ihrem erstenAuftrittdie tiefschweizerische Comicfigur Globi noch beeindrucken? Es ist ihr schillerndes Lebenswerk.1932 erfand der Illustrator Robert Lips den barbäuchigen Vogelmenschen mit karierter Hose und Baskenmütze. Aber hätte man es sich vorstellen können, dass ausgerechnet eine exotische, ewigjunge Papageienfigur das nationale Selbstverständnis in all seine Untiefen begleiten würde? Jedenfalls war es nicht so angedacht. Globi entstand inwirtschaftlicher Not, dasWarenhaus Globus suchte in der Wirtschaftskrise der Zwischenkriegszeit ein neues Werbemaskottchen. Kaum auf die Welt gekommen, fand sich «Globi als Soldat» im Dienste der geistigen Landesverteidigung wieder, abgesegnet von General Henri Guisan persönlich. Später versuchte Globi, dem Zeitgeist zu folgen, doch besonders, wenn seine Autoren ihn durch Afrika reisen liessen, trat er als unsensibler Besserwisser auf und zog Rassismusvorwürfe auf sich. Nichts focht Globis Erfolg je an. Er verbrachte seine Zeit bei der Post, im Spital, der Rettungsflugwacht, im TV-Studio oder auf der Alp, plötzlich begann er Englisch zu sprechen und zu kochen – seit wenigen Wochen zelebriert er sogar die italienische Küche. Und im jüngsten Klassikband ist Globi mit Tennisspieler Roger Federer unterwegs. Ikone trifft Ikone – aber es ist Weltstar Federer, der sich ausdrücklich geehrt fühlt, Globis Aufmerksamkeit zu erhalten. Vielleicht, weil Globi, gleichzeitig bieder und durchtrieben, noch nie an einem Problem gescheitert ist. Müsste man diese Fähigkeit nicht gezielter einsetzen? Angesichts des politischenDebakels, das die Schweiz beimgescheiterten Rahmenabkommen mit der EU veranstaltete, liegt die nächste Aufgabe für den blauen Papagei auf der Hand: «Globi und Europa». JÜRG STEINER www.globi.ch/globi/ Schweizer Revue / Dezember 2021 / Nr.6 11

Schweizer Revue / Dezember 2021 / Nr.6 12 Natur und Umwelt MIREI LLE GUGGENBÜHLER Ein Jäger aus demKantonGraubünden zielt bei der Jagd in der Surselva (GR) auf einen Fuchs – und schiesst das Tier. Doch erlegt hat er nicht einen Fuchs, sondern einen männlichen Goldschakal. Dieser Vorfall ereignete sich vor fünf Jahren. Der Jäger erstattete nach der Verwechslung Selbstanzeige bei der Behörde – und der Kanton Graubünden teilte den Zwischenfall der Öffentlichkeit mit. So verboten die Erlegung des geschützten Tieres damals war und auch heute noch ist: In der Schweiz bildet der Vorfall den ersten ganz konkreten, physischenNachweis eines Goldschakals in der Schweiz. Vom Balkan Richtung Schweiz Dass der Jäger aus Graubünden den Goldschakal nicht auf Anhieb erkannt hat, verwundert eigentlich nicht. Denn: Der Goldschakal sieht dem Fuchs aus der Ferne nicht unähnlich. Er ist in etwa gleich gross, hat aber einen kürzeren Schwanz und längere Beine sowie ein goldgelbes bis graues Fell. Der hochbeinige Goldschakal ist die einzige Schakalart, die in Europa heimisch ist. Ursprünglich war er im asiatischen Raum und im Nahen Osten beheimatet und wanderte dann im vergangenen Jahrhundert in die Balkanländer ein. Die Ausrottung des Wolfs in den Balkanländern führte dazu, dass der natürliche Feind des Goldschakals mit der Zeit fehlte und er sichungehindert vermehrenkonnte. Die Schakalbestände auf dem Balkan sind deshalb sehr gross. Goldschakale leben in Familiengruppen, denRudeln. Die Jungtierewerden aber nach einer gewissen Zeit ausgeschlossen und müssen ein eigenes Territorium finden, um dann eine Familie gründen zu können. Aufgrund der hohen Dichte an Goldschakalen ist es für Jungtiere schwierig geworden, neue, eigene Reviere zu finden. Vor allem junge Männchen erobern sich deshalb neue Gebiete und legen dabei auch sehr weite Distanzen zurück. Der Goldschakal hat so seine Heimat immer weiter ausgedehnt: Vom Balkan her Richtung Westen bis in die Schweiz. Bereits 2011 war einGoldschakal in der Schweiz in eine Fotofalle geraten – und kurz vor dem illegalen Abschuss im Kanton Graubünden war der zweite fotografische Nachweis erfasst worden. Vor allem junge Männchen wandern in die Schweiz Diese fotografischen Beweisstücke, aber auch genetische Spuren oder gemeldete Beobachtungen des Goldschakals sind in den Computern der Stiftung für Raubtierökologie und Wildtiermanagement (Kora) in Muri (BE) gespeichert. Die dokumentierten Spuren zeigen eines auf: «In der Schweiz leben bisher nur jungeMännchen, die sehr mobil sind», sagt KoraGeschäftsführer Christian Stauffer. 2020 wurden von Kora sieben Fotonachweise oder genetische Spuren eines Goldschakals festgehalten. Hinzu kommen rund 16 Beobachtungen oder andere Spurnachweise. Dass sich der Goldschakal überhaupt in der Schweiz niedergelassen hat, ist eigentlich erstaunlich. Denn: Für Goldschakale sind die Lebensbedingungen in der Schweiz nicht sonderlich optimal. «Der Goldschakal wandert ja aus wärmeren Gegenden ein und ist nicht an Gebiete angepasst, in denen über längere Zeit Schnee liegt», sagt Christian Stauffer. Die Pfoten des Goldschakals sind denn auchnicht für das Gehen im Schnee geschaffen. Sie sind im Verhältnis zumGewicht kleiner als beim Fuchs und deshalb sinkt der Goldschakal im Schnee ein. Auch die starke Besiedelung in der Schweiz könnte es dem Goldschakal erschweren, hier den idealen Lebensraumzu finden, wie Reinhard Schnidrig, Leiter der Sektion Wildtiere und Artenförderung beim Bundesamt für Umwelt, sagt. Dennoch: Auch in der bergigen und dicht besiedelten Schweiz gibt es Räume, in denen sich der Goldschakal durchaus wohlfühlen dürfte. Als idealen Lebensraum bezeichnet Kora-Vertreter Christian Stauffer Schilfgebiete, wie sie etwa am Neuenburgersee vorkommen. Dort wurden denn auch bereits Goldschakalspuren nachgewiesen. In anderen, geschützten Feuchtgebieten wie dem Kaltbrunner Riet (SG) hat sich ebenfalls nachweislich ein Goldschakal aufgehalten. «Solche Gebiete gibt es in der Schweiz doch an einigen Orten. Ich kann mir deshalb gut vorstellen, dass der Goldschakal an einem solchen Ort einst Junge aufziehen könnte», sagt Reinhard Schnidrig. Allerdings müsste es dafür erst zu Paarbildungen kommen. Und dies dürfte vermutlich noch etwas dauern. Denn: Ein Raubtier wandert in die Schweiz ein Vor zehn Jahren hinterliess der Goldschakal erstmals Spuren in der Schweiz. Heute ist klar: Das fuchsähnliche Raubtier fühlt sich besonders in den geschützten Feuchtgebieten der Schweiz wohl. Während der Goldschakal heimisch werden könnte, drohen andere Säugetiere ganz zu verschwinden.

Schweizer Revue / Dezember 2021 / Nr.6 13 damit verbundene Erwärmung in den bisher eher kälteren, schneereichen Regionen, wie sie auch in der Schweiz typisch sind. Gemäss Christian Stauffer ist die Ausbreitung des Goldschakals aufgrund des Klimawandels allerdings eine unbestätigte These. Studien dazu gibt es keine. Zwölf neue Säugetierarten in der Schweiz Der Goldschakal ist nicht die einzige neue Säugetierart in der Schweiz. Im Frühlingwurde die bislang grösste Erhebung der Säugetiere in der Schweiz abgeschlossen. Dabei wurden zwölf Arten mehr erfasst als vor 25 Jahren, wie die Schweizerische Gesellschaft fürWildtierbiologie dazu festgehalten hat. Nebst dem Goldschakal wurden beispielsweise auch dieWalliser Spitzmaus (Sorex antinorii) oder die Kryptische Fledermaus (Myotis Crypticus) neu entdeckt. Und einst ausgerottete Arten, wie etwa der Wolf oder der Fischotter, sind in die Schweiz zurückgekehrt. Schwindende Lebensräume Während grosse Arten wie der Goldschakal, der Wolf oder der Steinbock viel Aufmerksamkeit erfahren, würden die kleinen Arten oft weniger beachtet und gerieten zum Teil zunehmend unter Druck, schreibt die Schweizerische Gesellschaft fürWildtierbiologie zu ihrer Erhebung. So gehen etwa die Bestände von Iltis und Mauswiesel zurück. Und auch der Lebensraum des Feldhasen verschwindet zunehmend. «Der Feldhase hat an vielen Orten kaummehr eine Chance, seine Jungen richtig aufzuziehen», sagt Reinhard Schnidrig. Zusammenfassend lässt sich laut Schnidrig festahlten: Tierarten, die einen besonderen Lebensraum brauchen, haben es in der Schweiz eher schwer. Tiere indes, die mit verschiedenen Bedingungen umgehen können, denen geht es gut. Wie der Goldschakal mit den Lebensbedingungen in der Schweiz zurechtkommen wird, wird sich noch weisen. Goldschakale werden in der Schweiz immer häufiger gesichtet. Foto Keystone DieGoldschakal-Weibchenhabenden Weg in die Schweiz noch nicht gefunden. Gemäss Reinhard Schnidrig ist dasWegbleiben derWeibchen typisch für sich ausbreitende Säugetierarten: «Zuerst gehenmeist dieMännchen auf Wanderschaft.» Wohlfühlklima dank Erwärmung? Der Populationsdruck in den Balkanländern ist ein Grund, weshalb Goldschakale mittlerweile bis in die Schweiz gelangen. Ein anderer Grund könnte der Klimawandel sein und die Höher gebaut, längere Beine, weniger buschiger Schwanz: Goldschakal und Fuchs unterscheiden sich durchaus erkennbar. Foto Keystone

Schweizer Revue / Dezember 2021 / Nr.6 14 Kultur

Schweizer Revue / Dezember 2021 / Nr.6 15 STÉPHANE HERZOG Priya Ragu erscheint in grauem Sportanzug, Kaffee in der Hand, auf unserem Bildschirm. Höflich stellt sich die 35-Jährige dem Interview. Organisiert wurde dieses von derWarner Group, bei der sie imAugust 2020 unterschrieben hat. Seit der Veröffentlichung ihres erstenMixtapes im September gibt die Sängerin Interview um Interview. Ihr Tonträger «Damnshestamil» (wörtlich: «Verdammt, sie ist Tamilin!») bietet zehn tanzbare, bunte Popsongs, durchsetzt mit südasiatischen Klängen. «Wenn ein Mädchen sagt, sie sei aus Brasilien, finden die Leute das cool. Wenn ich sage, dass ich tamilischer Herkunft bin, löst dies hingegen nichts aus; es ist eben nicht glamourös!», lacht Priya. Doch ihre heisere und doch sanfte Stimme zieht das Publikum in ihren Bann. Zu Hunderten erklären ihr Menschen in den sozialen Netzwerken ihre Liebe. «Bei ihr verschmelzen Klänge aus zwei völlig unterschiedlichen Welten. Niemand macht Musik wie sie», lautet einer der Einträge unter dem Video zum Track «Kamali», das auf Youtube fast eine halbe Million Aufrufe hat. Eine Kindheit zwischen zwei Welten Priya Ragu hat einen kometenhaften Aufstieg hinter sich. Dieser ist umso bemerkenswerter, als sie sich dabei über einige Barrieren hinwegsetzenmusste: Sie ist weiblich, die Tochter von Flüchtlingen, dunkelhäutig und in einer sehr konservativen Welt aufgewachsen. Und sie hatte sich mit dem, was sie tunwollte, in bereits etwas fortgeschrittenem Alter durchzusetzen. «Erst jetzt, wenn ich zurückblicke, sehe ich die Hindernisse, die ich überwunden habe», sagt die Sängerin in ihrer LondonerWohnung. Ihre Geschichte ist die eines Mädchens, das in eine Flüchtlingsfamilie aus Jaffna geboren wurde. Diese floh vor demBürgerkrieg, der Sri Lanka ab 1983 erschütterte und 2009 mit der Zerschlagung der Tamil Tigers endete. Ragupathylingam, der Vater, war Buchhalter, aber auch Musiker: «Er war ein bekannter Sänger in seinemLand. Aber schliesslichwurde es dort für ihn gefährlich, als tamilischer Musiker aufzutreten», so Priya. Ihre Mutter Chandrika unterrichtete Maschinenschreiben. Nach einem Aufenthalt in Deutschland zog die Familiemit Priyas älteremBruder Roshaan nach St. Gallen. Dort geboren, wuchs Priya in einem stabilen, aber auch recht strengen Umfeld auf. Der Vater arbeitet bei der Post, die Mutter als Pharmaassistentin. «Für Flüchtlinge ist es eine Art Wunder, ein neues Leben in einem Land zu beginnen, in dem sie nicht unbedingt willkommen sind», so Priya, die selbst längst Schweizerin ist. In der Schule war sie eines von nur zwei dunkelhäutigen Mädchen. Ablehnende Reaktionen kamen zwar vor, im Grossen und Ganzen verlief ihre Integration aber gut: «In zwei Welten zuhause, vergass ich meine Hautfarbe.» Die Kultur der alten Heimat wird im Kreis der Familie jedoch nicht vergessen. Tamilische Musik und KollywoodFilme, die in Tamil Nadu in Südindien produziert werden, haben weiterhin ihren Platz. Jedes Wochenende kommen Freunde zu Besuch. DieMutter kocht. Roshaan spielt Orgel, Priya undRagupathylingamsingen, zumTrommeln dienen Löffel und Eimer. Schon bald tritt die kleine Gruppe auf Partys auf. Auf das Land ihrer Eltern angesprochen, steigen in Priya indessen traurige Erinnerungen auf. Ihre Bindung an die Insel ihrer Vorfahren ist schwach, obwohl die tamilische Kultur ihr Leben und ihre Musik prägt. Spirituelle Reise nach New York Als Erwachsene verliess Priya Ragu das Familiennest und zog nach Zürich. Als gelernte Buchhalterin fand sie eine Stelle im Verkauf von Flugzeugteilen bei Swiss. Jahrelang spielte sie mit dem Gedanken, professionell Musik zu machen, wie ihr Bruder, der sich mit Leib und Seele der Musik verschrieben hatte. Im Jahr 2017 kündigte sie schliesslich und flog nach New York, wo sie jeden Morgen schrieb und meditierte. Im letzten Monat ihres halbjährigen Aufenthalts in Brooklyn, in einerWohnungmit einem Aufnahmestudio, das ihr der amerikanische Rapper Oddisee geliehen hatte, begann Priya mit dem Komponieren. Roshaan alias Japhna Gold hatte ebenfalls ein kleines Tonstudio in einer Wohngemeinschaft in Oerlikon. Die beiden tauschten online Rhythmen, Melodien und Texte aus. Schliesslich schlägt Japhna vor, tamilische Perkussion zu integrieren. Bingo! Priya kehrt nach Hause zurück und findet eine neue Anstellung bei Swiss. Mit ihrem Gehalt finanziert sie nun Aufnahmen und die Produktion vonVideoclips. DieMusik der Geschwister Ragu, die R&B, Soul, Rap und Pop mit Gesängen des indischen Subkontinents mischt, wird in Oerlikon eingespielt. 2018 veröffentlichen sie «Leaf High». Schweizerin, Tamilin – undWeltstar Mit ihrer Single «Good Love 2.0» landete Priya Ragu, Schweizer Sängerin mit tamilischen Wurzeln, einen Welterfolg. Aufgewachsen ist sie in St. Gallen als Tochter sri-lankischer Flüchtlinge. Ihr Werdegang ist ein Weg der Befreiung. Bunt die Musik, bunt die Kleidung: Sängerin Priya Ragu lässt unterschiedliche Welten sehr farbenfroh verschmelzen. Foto Warner Music

Schweizer Revue / Dezember 2021 / Nr.6 16 Kultur Schweizer Zahlen Mahlzeit! 3,3 Das kleine Hüngerchen ist da – und der Kühlschrank ist nah! Diese Erfahrung, die das Jahr 2020 prägte, hat gewichtige Folgen. Die Schweizerinnen und Schweizer legten gemäss Untersuchungen der Universität St. Gallen im Schnitt um rund 3,3 Kilogramm an Körpergewicht zu, die 45- bis 64-Jährigen im Mittel gar um 6,7 Kilogramm. 28560 Vielleicht ist es nicht angebracht, an dieser Stelle weiterzurechnen. Trotzdem! Wenn alle 8 655 118 Menschen in der Schweiz innert eines Jahres je 3,3 Kilogramm schwerer wurden: Wieviel hat das Schweizer Volk an Gewicht gewonnen? Es sind 28 560 Tonnen. Sollten die Auslandschweizerinnen und-schweizer in ähnlichem Mass Appetit gezeigt haben, kommen weitere 2550 Tonnen dazu. 110 Ein schwereres Volk ist nicht unbedingt ein gesünderes. Behörden und Lebensmittelindustrie suchen deshalb nach Wegen, den Zuckerkonsum in der Schweiz zu senken. 50 Gramm Zucker pro Tag findet die Weltgesundheitsorganisation WHO gerade noch verantwortbar. In der Schweiz liegt der tägliche Konsum aber bei 110 Gramm: Eine der Kehrseiten der Schokoladennation. 1 Stimmt: All das bisher Gesagte lässt sich ohne Verweis auf die Corona-Pandemie nicht einordnen. Die Umstände begünstigten Bewegungsarmut und Fehlernährung. Und die Pandemie liess die Lebenserwartung sinken. Laut Bundesamt für Statistik sank sie 2020 bei den Männern um rund ein Jahr auf 81 Jahre. Seit 1944 gab es nie einen solch starken Einbruch. Bei den Frauen sank sie um ein halbes Jahr auf gut 85 Jahre. 87,3 Aber es gibt punkto Lebenserwartung markante regionale Unterschiede! In gewissen Regionen werden die Menschen älter als in anderen. Wohin also zügeln? Nach Appenzell-Innerrhoden – und zwar als Frau, denn die Innerrhödlerinnen haben mit 87,3 Jahren die schweizweit höchste Lebenserwartung. ZAHLENRECHERCHE: MARC LETTAU Das Video dazu drehen sie in Paris. Darauf folgt «Lighthouse», mit einem in Mumbai gedrehten Video. Priya hört plötzlich ihre Musik im öffentlichen Radio SRF3, dem die Geschwister diesen Titel geschickt hatten. Der vierte Song, der aufgenommen wird, ist «Good Love 2.0». 2020 von der irischenDJane AnnieMac, einemBBC-Star, verbreitet, wird dieser zumHit. Die Stimme der St. Galler Sängerin erreicht so die Ohren des NewMusical Express. Ihr «Good Love 2.0» begleitet die Spieler des Videospiels FIFA 21. ImAugust 2020 unterschreibt Priya bei Warner UK, worauf sie vom «Guardian» interviewt und in der «New York Times» zitiert wird. Fast alle der zehn Tracks auf «Damnshestamil» wurden bekanntlich in Oerlikon eingespielt: Der Stil der Ragu ist ein Familienprodukt und echt hausgemacht! Eine Lanze für die Freiheit der Frauen Mit ihren Liedern möchte Priya die Vorurteile gegenüber Sri-Lankern aufbrechen, die «sie imWesentlichen auf die Rolle des Kochs, der Putzfrau oder des Verkäufers reduzieren», erklärt sie der Online-Zeitung Decorated Youth. In «Kamali», einem Song, der von einem Dokumentarfilm inspiriert ist, erzählt die Künstlerin die Geschichte eines kleinenMädchens aus Tamil Nadu. Dieses wird von seiner Mutter aufgezogen, die seine Leidenschaft für das Skateboardfahren unterstützt – in einer Welt, in der für solches kein Platz ist. «Ich möchte zu allen Kamali der Welt sprechen und sie ermutigen, weit nach vorne zu schauen. Wenn wir Leben schenken können, stellen Sie sich einmal vor, waswir schaffen können, wenn wir völlig von unseren Fesseln befreit sind», schreibt Priya. «Meine Mutter, die im Video dieses Titels zu sehen ist, war besonders vom Leben der Mutter Kamalis berührt, die den Kampf nicht aufgibt. Sie hat ihre Meinung über den Platz der Frau in der Gesellschaft geändert», so die Sängerin, die selbst Thaiboxen praktiziert. Der Traumder Tamilisch-Schweizerin, wie sie sich ihn manchmal vorstellt, um Fragen zuvorzukommen: eines Tages ein grosses Musikfestival in Jaffna zu organisieren, mit tamilischen Künstlerinnen und Künstlern aus der ganzenWelt. Priya Ragu auf der Bühne des diesjährigen Jazz-Festivals in Montreux. Nach steilem Aufstieg stehen ihr die Bühnen offen. Foto Keystone

Schweizer Revue / Dezember 2021 / Nr.6 17 Literatur derung nach Palästina vorbereiteten. Wer allerdingsmeint, die Fülle der Themen, Figuren und Schauplätze deute an, dass es Faes um eine Art literarische Aufarbeitung von Realität geht, demhielt er schon 1994 entgegen: «Auchwenn der Bezug zur Wirklichkeit und zur Geschichte in meinen Büchern immer gegeben ist, ist es gewiss nicht mein Ziel, Wirklichkeit abzubilden, sondern, bestenfalls, etwas sichtbar zu machen, denn die Literatur wetteifert nicht mit der Geschichte, zeigt kein Abbild der Wirklichkeit, sondern allenfalls deren Illusion.» Ein novellistisches Meisterwerk Mit dem schmalen, 2018 erschienenen Band «Raunächte» hat Urs Faes imÜbrigen auch gezeigt, dass er gleichsam nebenbei die grosse Tradition der deutschen Novelle fortzuführen gewillt ist. Da geht ein Mann durch einen verschneiten Wald und ist von dunklen Erinnerungen belastet, für die Wörter wie Streit, Fluch, Verrat stehen und die ein dunkles Geheimnis evozieren, das den Wanderer seinerzeit aus seiner Kinderheimat vertrieben hat. In diesem dichten, sprachlich meisterhaften Text stimmt nicht nur die Symbolik, sondern auch der Ton, die Atmosphäre und der Rhythmus, während das bereits von Shakespeare in «Was ihr wollt» beschriebene Motiv der Raunächte der Geschichte eine geheimnisvolle, fast magische Tiefe vermittelt. BIBL IOGRAF IE: Die Werke von Urs Faes sind bei Suhrkamp greifbar. CHARLES L INSMAYER IST L I TERATURWISSENSCHAFTLER UND JOURNAL IST IN ZÜRICH CHARLES L INSMAYER In seinem Roman «Alphabet des Abschieds» (1991) findet sich ein Satz, der für den 1947 in Aarau geborenen Schriftsteller Urs Faes kennzeichnend ist: «Das Vergangene umgraben im Erzählen, als gäbe es die Archäologie der Erinnerung.» Dieses intensive Ausloten des Erlebten und Erfahrenen praktizierte er zunächst in Büchern, in denen seine Familiengeschichte dem Historischen persönliche Authentizität vermittelte: in «Augenblicke im Paradies» (1994), wo die auf den elterlichen Kramladen fokussierte Zuckerbäckerphilosophie der Geschichte von 1914 bis 1950 eine frugal-sinnliche Note gab. So hiess es nach dem Ende des Dritten Reiches amerikanischen Kaugummi statt deutsche Karamellen zu produzieren, denn: «Diese Generation hatte mit Trümmern, Scherben und Toten geendet. Weh dem Bonbon, das daran erinnerte, finis Germaniae, finis Caramellum, finis sucrum.» Kunst, Musik, Medizin Schon mit «Ombra» (1997) aber hatte Faes gezeigt, dass es ihm auch ohne Familiengeschichte gelingt, Figuren in ihrer Erinnerung lebendigwerden zu lassen. Wobei die da evozierte künstlerische Welt von Piero della Francescas «ombra e luce» durchaus auch die literarische meinen könnte. «Als hätte die Stille Türen» (2005) stellte die Liebe zwischen Alban Berg und Hanna Fuchs derjenigen zwischen einemSterbeforscher und einer Sängerin gegenüber. «Wörter sindwie Türen, aus der Stille, in die Stille, sie schaffenWeite, in der wir uns bewegen können, schaffenRaum», heisst es einmal. Ist es da die Musik, so ist es in «Paarbildung» (2010) dieMedizin, die das Literarische erweitert, indemder Titel ebenso onkologischwie als Hinweis auf eine bewegende, die Zeit des gesellschaftlichen Aufbruchs von 1968 in den Fokus rückende Liebesbeziehung gemeint ist. «Halt auf Verlangen» (2016) betrieb dann aus der Erfahrung einer Krebstherapie heraus nochmals autobiografische Erinnerungs-Archäologie anhand einer ganzen Reihe von wiedererinnerten glücklichen und weniger glücklichen Liebesverbindungen, während «Sommer in Brandenburg» (2014) und der auf bewegende Weise mit Sprache und Demenz befasste Roman «Untertags» (2020) Lebensgeschichten bündelten, die auf geheimnisvolle Weise mit einem deutschen «Landwerk» zusammenhingen, in dem sich imSommer 1938 jüdische Jugendliche auf die Auswan­ «Die Literatur wetteifert nicht mit der Geschichte» Urs Faes betreibt in seinen Romanen Archäologie der Erinnerung. «Still beobachten David und Simone einen Reiher, der unendlich langsam durch das Wasser flussaufwärts stapft. Sachte setzt er Bein vor Bein in den sandigen Grund, den Kopf leicht vorgeneigt, manchmal bleibt er für Sekunden stehen, es scheint, als erfasse ihn die Strömung. Dann, mit grosser Kraftanstrengung von neuem ansetzend, geht er weiter, trotz dem Ziehen des Flusses. Winzig klein sind seine Schritte. Sie beide verharren am Ufer, reglos, und beobachten mit angehaltenem Atem diesen Gang. In diesem Augenblick ist ihr Gesicht dem seinen ganz nah.» Aus «Als hätte die Stille Türen», Roman, Suhrkamp-Verlag 2005)

Schweizer Revue / Dezember 2021 / Nr.6 18 Wissenschaft SUSANNE WENGER An einem frühen Samstagmorgen im vergangenen August stand fest: Der Weltrekordversuch der Fachhochschule im Kanton Graubünden zur Zahl Pi war gelungen. Das Team um Informatik-Professor Heiko Rölke schaffte es, Pi auf 62,8 Billionen Nachkommastellen zu berechnen. Damit übertrafen die Schweizer den alten Rekord des Amerikaners Timothy Mullican aus dem Jahr 2020 um 12,8 Billionen Stellen. Sie rechneten auch dreimal schneller als dieser und kamen in 108 Tagen und neun Stunden zumErgebnis. ZumVergleich: Der bisherige Rekordhalter hatte für seine 50 Billionen Stellen 303 Tage Rechenzeit gebraucht. Die Resonanz, die die neue Pi-Bestmarke seither auslöst, ist für den Initianten Heiko Rölke «überraschend gross». Ein gewisser Werbeeffekt sei zwar beabsichtigt gewesen, bekennt der Leiter des noch jungen Zentrums für Datenanalyse, Visualisierung und Simulation in Chur freimütig. Doch dann meldeten sich nebst regionalen auch zahlreiche internationale Medien, um über den Bündner Weltrekord zu berichten – von renommierten Zeitungen über grosse TV-Sender bis zu Fachjournalen. «Das Witzigste war eine Live-Schaltung im südafrikanischen Radio», erzählt der Forscher, «wir haben einwenig über Pi geplaudert.» Faszination in Ziffern Pi, die nach dem 16. Buchstaben π des griechischen Alphabets benannte Schweizer kennen endlose Zahl Pi am genausten Die Fachhochschule Graubünden berechnete die Kreiszahl Pi auf 62,8 Billionen Stellen nach dem Komma – neuer Weltrekord. Das sorgte für Aufsehen und brachte Prestige. Dabei testeten die Wissenschaftler nur ihren Hochleistungsrechner für nützliche Forschung. Für Heiko Rölke war die Weltrekordrechnerei mehr als eine blosse Spielerei. Foto zvg Hauptbild: Die ersten 12 970 Kommastellen der Kreiszahl Pi. Für die allermeisten Anwendungen dürfte dies genau genug sein.

Schweizer Revue / Dezember 2021 / Nr.6 19 Zahl, kennen wohl die meisten noch aus der Schulzeit. Vielleicht erinnert man sich vage, dass sie für das Verhältnis zwischen dem Umfang eines Kreises und dessen Durchmesser steht. Mit Pi lässt sich die Fläche eines Kreises berechnen, egal ob riesig oder winzig. Und womöglich schlummern irgendwo im eigenen Gedächtnis sogar noch die ersten paar Ziffern: 3,1415. Sie sind nichts weiter als ein Klacks, denn Pi ist, was dieMathematiker eine transzendente Zahl nennen. Das heisst: Pi besteht aus einer endlosen Folge von Nachkommastellen. Dabei gebe es keine Wiederholungen in den Stellen, weiss Rölke, jede einzelne müsse berechnet werden: «Das ist das Besondere und auch Faszinierende.» Kein Wunder, rechnen schon seit 3600 Jahren kluge Geister an Pi herum, von den alten Ägyptern über die griechischen Mathematiker Archimedes und Ptolemäus, den Chinesen Liu Hui, den Perser al-Kaschi bis zum Deutschen Leibniz. Es gebe Mathematiker und Physiker, die ihr Leben damit zugebracht hätten, ein- oder zweihundert Dezimalstellen von Pi zu berechnen, sagt Rölke. Die Erfindung des Computers erweiterte dann die Möglichkeiten stark. Ende der 1940er-Jahre spuckte ein Röhrencomputer erstmals über zweitausend Nachkommastellen aus. Hier war der Weg das Ziel Ende der 1980er-Jahre entwickelten die aus der Ukraine stammenden Brüder Chudnovsky einen Algorithmus zur Pi-Berechnung, den auch die Bündner Fachhochschule verwendete. Ihr Hochleistungsrechner kamdamit nun also auf 62 831 853 071 796 Stellen hinter dem Komma. Möchte man diese überlange Zahl ausdrucken, bräuchte es dafür etwa 17,5Milliarden A4-Seiten, hinten und vorne bedruckt, wohlgemerkt. DieDimension ist zweifellos imposant, und die Bündner Forscher sind demPhänomen Pi nähergekommen als alle vor ihnen. Doch was bringt es überhaupt, so viele Ziffern der Kreiszahl zu kennen? «Einen praktischen Nutzen gibt es nicht», räumt HeikoRölke fröhlich ein. Für normale irdischeAnwendungen reichten schon wenige Dezimalstellen, für die astronomische Berechnung von Umlaufbahnen brauche es deutlich mehr, «aber sicher auch keine Billionen». Den Bündnern ging es allerdings gar nie darum, mit Pi zu arbeiten. Für sie war vielmehr der Weg zur voluminösen Ziffernfolge das Ziel. Denn um diese zu ermitteln, braucht es laut Rölke neben dem kürzlich neu angeschafften Supercomputer auch die Expertise, den Rechner richtig einzurichten und eine solche Berechnung über Wochen störungsfrei zu betreiben. Die Datenwissenschaftler erprobten also mit demWeltrekordversuch die Leistungsfähigkeit ihrer Infrastruktur. Und sie erweiterten ihre Kenntnisse. Fit für datenintensive Forschung «Wir haben bei der Vorbereitung und Durchführung der Berechnungen viel Know-how aufbauen können und unsere Abläufe optimiert», sagt Rölke. Zugleich seienSchwachstellenerkannt worden, etwa ungenügende Back-upKapazitäten. Denn um Pi so ausgedehnt zu berechnen und Zwischenergebnisse festzuhalten, brauchte es Unmengen an Speicherplatz. Die Forscher mussten die Daten immer wieder auf handelsübliche externe Festplatten auslagern. Mit der ganzen Pi-Aktion wappneten sich die Bündner somit für daten- und rechenintensive Projekte, die sie mit Partnern in Forschung und Entwicklung durchführen. Gemeinsam mit dem ebenfalls in Graubünden ansässigen Schweizerischen Institut für Allergie- und Asthmaforschung erforschen sie beispielsweise die Ursachen von Allergien bei Kindern. Darüber wisse man immer noch sehr wenig, stellt Rölke fest. Für die Auswertung von Blutproben in dem breit angelegten Projekt seien umfangreiche Berechnungen notwendig. Untersucht wird Boten-RNA aus dem Erbgut: «Da kamen wir mit den üblichen Berechnungsverfahren an Grenzen.» Auch andere Projekte erfordern intensive Rechenleistung, darunter Klimasimulationen zur Vorhersage von Hochwassern und Lawinen. Fachhochschulen sind in der Schweiz für anwendungsorientiertes Wissen zuständig. Das derzeitige Ende von Pi So sei der Pi-Weltrekord im Dienste echter Forschung gestanden, hält der Initiant fest. Die Registration beim Guinness-Buch der Rekorde ist erfolgt, doch allzu lange dürften sich die Bündner ihrer weltmeisterlichen Position nicht erfreuen können. Erfahrungsgemäss folgt nach ein bis zwei Jahren die nächste Pi-Bestleistung. Der letzte Pi-Weltrekord aus der Schweiz ist übrigens auch erst vier Jahre her: 2017 hatte ihn der Aargauer Physiker Peter Trüebmit 22,4Billionen Dezimalstellen errungen. Er wurde bereits zwei Jahre später von der Google-Forscherin Emma Haruka Iwao übertrumpft, die auf 31 Billionen kam. Heiko Rölke nimmts sportlich. Schon mehr Kopfzerbrechen bereitet ihm die Publikation der Bündner Siegerzahl. Er würde sie ja der Allgemeinheit gerne zur Verfügung stellen, sagt er, doch jemandmüsse dazu Speicherplatz für 62 Terabyte an Daten anbieten können. So enormgross ist die Rekorddatei in unkomprimierter Form. «Wir werden wohl Google fragen», kündigt Rölke an. Auch die «Schweizer Revue» muss sich hier notgedrungen auf die zehn letzten jetzt bekannten Nachkommastellen von Pi beschränken. Sie lauten: 7817924264. Höher, weiter, schneller, schöner? Auf der Suche nach den etwas anderen Schweizer Rekorden. Heute: über die Schweizer Weltmeister in der Berechnung der Kreiszahl Pi. e trem Schweiz

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